„Die russische Wirtschaft fällt um Jahre zurück“

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Interview mit Birgit Schmeitzner „Die russische Wirtschaft fällt um Jahre zurück“

Die Europäische Union hat mittlerweile acht Sanktionspakete gegen Russland verhängt. Wie treffen die Sanktionen Russland? Helfen sie den Krieg zu beenden? Schaden sie der EU mehr als Russland? Birgit Schmeitzner, die Pressesprecherin der Kommissionsvertretung in Deutschland, gibt Antworten. 

9 Min. Lesedauer

Schmeitzner

Birgit Schmeitzner, Pressesprecherin der Kommissionsvertretung in Berlin

Foto: Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland

Die EU hat nach der Mobilmachung Putins weitere Sanktionen verhängt. Wo und wie sollen diese Maßnahmen Russland treffen?

Birgit Schmeitzner: Putin hat die Mobilmachung verkündet. Er droht mit Atomwaffen. Er hat Scheinreferenden auf ukrainischem Gebiet abhalten lassen, um diese Gebiete dann mit seiner Unterschrift illegal zu russischem Boden zu erklären. Damit eskaliert er seine Aggression weiter, und das können wir nicht unbeantwortet lassen. 

Mit dem achten Paket ziehen die Mitgliedsstaaten der EU die Schraube noch mal fester an. Wir setzen da an, wo Russland von uns abhängt: von unseren Gütern, von unserem Fachwissen, von unseren Dienstleistungen. Und wir schauen ganz genau, wo unsere Lieferungen in russischem Militärequipment auftauchen könnten, das in der Ukraine fährt, schießt und zerstört. Das führt zu weiteren Handelsbeschränkungen für den Export nach Russland, aber es geht auch um die Einfuhr russischer Güter wie Stahl. Wir wollen das wirtschaftliche Fundament Russlands weiter schwächen, und zwar auch und gerade in Schlüsselbereichen, damit es immer schwerer wird, die Aggression weiterzufinanzieren.

Neben den Handelsbeschränkungen haben wir außerdem weitere Namen auf die Sanktionsliste gesetzt. Unter anderem wegen der Verbreitung von Desinformation und Fake News. Und es gibt ein neues Kriterium: Wer versucht, Sanktionen zu umgehen oder dabei hilft, kann künftig auch auf dieser Liste landen. 

Die EU hat die Basis gelegt für eine Preisobergrenze für russisches Öl. Wie soll sie aussehen und wie trifft sie dann Russland?

Schmeitzner: Was schon beschlossen ist: ein EU-Einfuhrverbot für russisches Öl auf dem Seeweg. Für Rohöl kommt es zum 5. Dezember 2022, für raffinierte Erdölerzeugnisse zum 5. Februar 2023. Russland liefert aber natürlich weiter Öl an Drittländer und profitiert von steigenden Preisen. Genau da setzt das Modell der Obergrenze an. Wir stimmen uns dabei ganz eng mit den G7-Partnern ab, die so eine Deckelung im Juni bei ihrem Treffen im bayerischen Elmau besprochen hatten.

Es geht um Vorgaben für europäische Marktteilnehmer, also Banken, Versicherungen und Häfen. Sie sollen nur dann etwas mit der Lieferung von russischem Öl zu tun haben dürfen, wenn der Preis für dieses Öl unter einer im Voraus festgelegten Grenze liegt. Über die Details wird noch beraten. Am Ende braucht es noch mal ein einstimmiges „Ja“ im Rat, also die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten der EU

Unser Ziel ist ganz klar: Das soll die Einnahmen für Putins Kriegskasse senken. Aber das ist nicht alles. Die globalen Energiemärkte müssen stabil bleiben, Energie soll für die Bürger bezahlbar sein. Für die Menschen in der EU ist es wichtig, dass die Inflation nicht nach oben rauscht.

Birgit Schmeitzner ist die Pressesprecherin der Vertretung der Europäischen Kommission in Deutschland. Sie ist dort u.a. zuständig für Grundsatzfragen sowie die Themen Außen- und Sicherheitspolitik, Humanitäre Hilfe, Entwicklungspolitik.

Die Sanktionen sollen in erster Linie mittel- und langfristig wirken. Welche Auswirkungen sind dort bereits jetzt sichtbar? Und gibt es dazu bereits verlässliche Zahlen, die den wirtschaftlichen Schaden Russlands Stand heute beziffern?

Schmeitzner: Das beste Anzeichen dafür, dass die Sanktionen wirken, ist Putins Versuch, sie loszuwerden - indem er zum Beispiel europäischen Ländern den Gashahn abgedreht hat, und immer wieder zu bestimmten Bedingungen eine Öffnung in Aussicht stellt. 

Davon abgesehen: Natürlich braucht man bei Sanktionen einen langen Atem. Das funktioniert nicht von jetzt auf gleich. Und erst recht nicht, wenn man es mit dem russischen Präsidenten zu tun hat, für den ökonomische Logik nachrangig ist, wenn er seine Entscheidungen trifft. 

Aber wir sehen schon erste ernsthafte Auswirkungen. Nicht anhand von Daten und Statistiken aus Russland, da kommt gerade nicht viel Belastbares. Russland hat damit aufgehört, Wirtschafts- und Finanzstatistiken zu veröffentlichen. 

Die Weltbank sagt in ihrem aktuellen Herbst-Report: Russlands Wirtschaft schrumpft. Nicht so viel, wie noch im Frühjahr erwartet, auch wegen der höheren Einnahmen aus dem Energiegeschäft. Aber doch um 4,5 Prozent in diesem und wohl 3,6 Prozent im kommenden Jahr. Die Weltbank-Experten nennen eine Reihe von Faktoren: Die Importe sind eingebrochen, das Realeinkommen ist gesunken, der Zugang zu den Hauptquellen der Produktivität wurde gekappt. 

Die Yale School of Management listet die Unternehmen auf, die den russischen Markt verlassen haben und kommt zu dem Schluss: Sie stehen für 40 Prozent des russischen BIP. Fast drei Jahrzehnte ausländischer Investitionen sind weg, eine beispiellose Kapital- und Bevölkerungsflucht.

Inwieweit verschärft das neue achte Sanktionspaket die Auswirkungen auf Russland?

Schmeitzner: Wir erhöhen den Druck und ersticken die russische Kriegswirtschaft noch mehr. Unsere Sanktionen zielen darauf ab, die wirtschaftliche Basis Russlands für die weitere Kriegsführung zu stören. Wir beschränken z.B. den Zugang zu neuen Technologien und externer Finanzierung. Und das trübt insgesamt die mittleren bis langfristigen Wachstumsperspektiven. Die russische Wirtschaft hat durch internationale Sanktionen schon jetzt das Potenzial für Modernisierungen verloren. Sie fällt um Jahre zurück. 

Wie kann man die bestehenden EU-Sanktionen international angleichen?

Schmeitzner: Wir arbeiten eng mit Partnern und Verbündeten zusammen: mit den USA, dem Vereinigten Königreich, mit Kanada, Norwegen, Südkorea, Japan oder Australien. Bis jetzt haben mehr als 40 Länder die Sanktionen eingeführt – und das sind die reichsten Demokratien der Welt. Bei der Ölpreisobergrenze stimmen wir uns wie gesagt mit den G7-Staaten ab. Und in Prag kamen gerade erst Regierungschefs und Staatsoberhäupter von 44 Staaten zusammen. Wir haben dort eine große Solidarität mit der Ukraine und eine klare Abgrenzung zu Russland gesehen. Und das hat sich jetzt auch in der UN-Vollversammlung bestätigt: 143 Länder haben gegen Russlands illegale Annexion ukrainischer Gebiete gestimmt.

Energiepreise wie Gas und Strom sowie Lebensmittelpreise steigen. Viele Deutsche haben das Gefühl, das sei auf die Sanktionen zurückzuführen. Trifft das zu? 

Schmeitzner: Das ist ein Narrativ der Kreml-Propaganda. Die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise sind das Ergebnis von Putins Krieg gegen die Ukraine. Die Desinformations-Maschine des Kreml verwechselt mit Absicht die Konsequenzen mit den Gründen. Hätte Putin die Ukraine in Februar nicht überfallen, würden wir nicht über Lebensmittel- und Energiekrisen reden – weil es sie nicht gäbe. 

Und das trifft uns in einer Situation, in der wir eigentlich nach vorn blicken wollten. Wir wollten die Ärmel hochkrempeln, unsere ganze Kraft in den Wiederaufbau und grünen Umbau unserer Wirtschaft stecken und gestärkt aus der Pandemie hervorgehen. Dafür haben wir ja unser Konjunkturpaket Next Generation EU. Deutschland hat schon 2,25 Milliarden Euro an Finanzhilfen bekommen, bis zu 28 Milliarden Euro können insgesamt beantragt werden.

Und dann kam der 24. Februar, der Beginn der russischen Invasion. Und wir mussten anfangen, über unsere Freiheit nachzudenken. Und darüber, was sie uns Wert ist. 

Treffen die Sanktionen Deutschland und die EU nicht härter als Russland? 

Schmeitzner: Nein. Wenn die Regierungen der Mitgliedsstaaten über Sanktionen reden und sie verhängen, dann wägen sie immer sehr genau die Auswirkungen ab. Und ein wichtiges Kriterium ist, dass die Sanktionen den Sünder härter treffen müssen als uns. Natürlich gibt es auch Auswirkungen in der EU, aber sie sind gar nicht mit denen in Russland zu vergleichen. Außerdem haben wir, anders als Russland, einen Vorteil: Wir können die Folgen viel besser verkraften. Wir finden Alternativen (etwa bei den Märkten) und Lösungen – gemeinsam als 27 EU-Mitgliedsstaaten und auch mit anderen Partnern. Das geht nur, wenn man Hilfe und Auswege gleich mitdenkt, und das tun wir ja. Zum Beispiel senken wir die Gasnachfrage und den Stromverbrauch. Wir schöpfen Überschuss-Gewinne bei bestimmten Stromerzeugern ab und unterstützen damit Verbraucher.

Was wir auch nicht vergessen dürfen: Wenn wir nicht abrücken von unserer Linie, sondern Kurs halten, dann zeigen wir Putin, dass wir es ernst meinen, dass wir sein Verhalten unmissverständlich ablehnen und nicht klein beigeben. Das ist auch eine Stärke, die wir ihm damit beweisen. Und immerhin ist der Preis, den wir heute zahlen, viel niedriger als der Preis, den die Ukrainer jeden Tag zahlen – und er ist auch niedriger als der, den wir zahlen müssten, falls Putins Plan für eine Zerstörung der Ukraine gelingen würde. 

Ausführliche Informationen zu den bisher acht Sanktionspaketen gegen Russland finden Sie hier .

Was sagen Sie Menschen, die meinen, wir müssten nur die Sanktionen aufheben, dann würden wir wieder billiges Gas bekommen und wären unsere Sorgen los? 

Schmeitzner: Wir wären unsere Sorgen los, wenn Putin seine Soldaten aus der Ukraine zurückziehen würde. Wir haben ja die Sanktionen nicht einfach so verhängt und immer wieder geschärft und ausgeweitet. Auslöser war und ist der russische Präsident und sein Handeln. Putin hat beschlossen, ein Nachbarland anzugreifen und mit Feuer und Leid zu überziehen. Das ist völkerrechtswidrig, das können wir nicht einfach so laufen lassen. 

Das wiederum hat Putin offenbar so nicht erwartet. Er versucht deshalb, uns bei der Abhängigkeit von seinem Gas und Öl zu packen. Wenn wir uns darauf einlassen, wird er das immer wieder versuchen. Denn eines haben die vergangenen Monate auch gezeigt: Der Ruf Russlands, ein verlässlicher Lieferant zu sein, ist dahin.

Wir hatten uns daran gewöhnt, Energie zu günstigen Preisen zu bekommen. Das hat uns verwundbar gemacht. Was ist jetzt der beste Weg da raus? Noch entschlossener als ohnehin schon von den fossilen Energien wegkommen und den Europäischen Grünen Deal umsetzen! Wir hatten den Abschied von schmutzigen fossilen Energien schon längst entschieden. Putin hat das nur noch beschleunigt. 

Haben Sanktionen die Kraft, den Krieg zu beenden? Braucht es dazu nicht Friedensverhandlungen?

Schmeitzner: Am schnellsten ist der Krieg vorbei, wenn Putin alle Soldaten aus der Ukraine zurückzieht. Wenn er also seinen ungerechtfertigten und grundlosen Angriff beendet. Wir können den Ukrainern auch gar nicht vorschreiben, ob und wann sie eine Basis für Verhandlungen über einen Frieden sehen. In den Anfängen der Invasion gab es da noch Versuche, angesichts des russischen Terrors und der Brutalität auch gegen Zivilisten nachvollziehbarerweise jetzt nicht mehr. 
Unsere Sanktionen allein stoppen keinen Krieg, das ist klar. Aber sie sind eines der Werkzeuge, die wir einsetzen. Sie können dabei helfen, den nötigen Raum für Verhandlungen zu schaffen - zusammen mit der unbeirrten Unterstützung für die Ukraine, finanziell und militärisch, so lange wie es eben nötig ist. Wir haben immer wieder gesehen, dass sich Putin von wirtschaftlichen Nachteilen nicht beirren lässt. Die Frage ist, ab wann er sich das nicht mehr leisten kann.  

Lohnen sich die Opfer, die wir in Deutschland und in der EU bringen?

Schmeitzner: Die wirklichen Opfer bringen die Menschen in der Ukraine. Sie bezahlen mit ihrem Blut, mit ihrem Leben, mit ihren zerstörten Lebensträumen. Wir hier werden nicht von Sirenen geweckt und müssen in einen Bunker hetzen. Wir sitzen nicht in Schützengräben. Wir weinen nicht um gefolterte, ermordete, verscharrte Angehörige und Freunde. 

Dieser Krieg, den der russische Präsident angezettelt hat, kommt zu uns auf anderen Wegen: Finanziell mit der höheren Abschlagszahlung für Energie oder mit dem teureren Einkauf im Supermarkt. Emotional trifft er uns mit der Erkenntnis, dass sich gerade unsere Welt verändert und das anstrengend ist. Wir dachten eigentlich, dass die Pandemie uns schon viel zu viel aufbürdet, die Klimakrise sowieso. Und jetzt herrscht auch noch Krieg vor der Haustür mit der großen geopolitischen Frage: Kann sich die Demokratie gegen die Autokratie behaupten? Das ist sehr viel auf einmal. Krise um Krise türmt sich da auf. 

Aber uns muss klar sein: Kommt Putin jetzt damit durch, dann zerstört er nicht nur die Ukraine. Dann zertrampelt er Grundlagen des Völkerrechts: die territoriale Integrität von Staaten, die Nichtanwendung von Gewalt. Wenn das Schule macht, zählt irgendwann nur noch das Recht des Stärkeren. Weltweit.