Interview mit tschechischem Europaminister Bek
Tschechien hat vor einem Monat, am 1. Juli, die Präsidentschaft im Rat der Europäischen Union übernommen. Unter dem Motto „Europa als Aufgabe“ führt das Land bis 31. Dezember den Vorsitz. Tschechiens Europaminister Mikuláš Bek erklärt im Interview, was genau sich Tschechien vorgenommen hat – und warum er sich in Deutschland fast wie zuhause fühlt.
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Welches sind die Prioritäten und Ziele der tschechischen Präsidentschaft?
Mikuláš Bek: Zu Beginn dieses Jahres konnten wir noch meinen, dass nur die Covid-19-Pandemie einen großen Einfluss auf die Gestaltung des Programms unseres Vorsitzes haben wird, mit der wir bereits einige Jahre ringen. Unvermittelt traf uns jedoch ein weiteres unerwartetes Ereignis, und zwar die russische Aggression in der Ukraine und die mit ihr verbundene Krise, die unser tagtägliches Leben in empfindlicher Weise beeinflusst.
Als ich das Amt des Ministers für Europaangelegenheiten antrat, war mir klar, dass eine der Prioritäten die Freiheit der Medien sein sollte. Und dies umso mehr, als die Europäische Kommission, konkret deren Vizepräsidentin Věra Jourová, während unserer Präsidentschaft plant, einen Europäischen Rechtsakt zur Medienfreiheit zu präsentieren, der sich dieser Thematik widmen wird.
Die Mehrzahl der weiteren dringenden Bereiche liegt bereits längere Zeit auf dem Tisch, aber die mit dem Krieg in der Ukraine verbundene Situation hat die Diskussion über einige von ihnen eindeutig beschleunigt und bei weiteren ihre Bedeutung erhöht. Es handelt sich um die Sicherheit allgemein und um die Sicherheit der Energieversorgung, womit die gemeinsame Verteidigungspolitik und die Widerstandskraft demokratischer Einrichtungen verbunden sind.
Was sind für die neue Regierung in Bezug auf die Präsidentschaft die größten Herausforderungen?
Bek: Von Anfang an, als die russischen Truppen in die Ukraine einfielen, bin ich ein lautstarker Befürworter dessen gewesen, dass die Ukraine baldmöglichst den Kandidatenstatus erhält. Um so größer ist meine Freude, dass der Europäische Rat bereits bei seiner Junisitzung über den Kandidatenstatus entschieden hat.
Die Ukraine braucht nämlich eine Perspektive dahingehend, dass ihre Menschen, die gezwungen waren, das Land zu verlassen, nach der Beendigung des Krieges in ihr Heimatland zurückkehren können. In diesem Zusammenhang ist es für uns eine große Herausforderung, die Diskussion bezüglich der Unabhängigkeit auf dem Energiesektor und der Sicherheit der EU einschließlich des Wiederaufbaus der Ukraine nach dem Krieg zu moderieren.
Die Tschechische Republik ist seit 18 Jahren in der EU. Wie sehr hat die Mitgliedschaft das Land verändert und beeinflusst? Wie ist derzeit die Europa-Stimmung im Land?
Bek: Ich habe eigentlich einen großen Teil der Zeit, in der wir EU-Mitglied sind, in einer akademischen Rolle erlebt – zunächst als Prorektor und dann als Rektor der Masaryk-Universität Brno. Das Fazit dieser Erfahrung, und ich wage es zu sagen, auch aus Sicht der tschechischen Bürger allgemein, ist, dass das sehr erfolgreiche Jahre waren. Jahre des wirtschaftlichen Aufschwungs und des Ausgleichs des Verlustes, in der Vergangenheit hervorgerufen durch 40 Jahre des kommunistischen Regimes.
Ähnlich wie in einer Reihe der „alten“ Mitgliedsländer gab es jedoch die ganze Zeit über auch in der Tschechischen Republik einen erheblichen Teil der politischen Szene, der gegenüber der Europäischen Union rhetorisch einen kritischen, skeptischen, feindlichen oder zumindest ambivalenten Standpunkt eingenommen hat.
Die Einstellungen der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber der Europäischen Union haben sich insbesondere seit der Corona-Pandemie nach und nach über den Durchschnitt der EU hinaus verbessert. Das hängt zweifellos auch mit der derzeitigen Krise zusammen, bedingt durch den herrschenden Krieg, in der die EU zusammen mit der NATO als ein Pfeiler der Sicherheit in Europa wahrgenommen wird. Ich denke, dass die aktuelle tschechische Regierungskoalition der Beziehung zur Europäischen Union ein weiteres positives Moment hinzugefügt hat, indem sie die Tschechische Republik in das europäische politische Hauptfahrwasser und zu einer politischen Kultur des Verhandelns und der Argumentation sowie des Suchens nach Konsensmöglichkeiten zurückmanövriert hat.
Und jeder europäische Erfolg bei der Lösung der Folgen der russischen Aggression und der damit zusammenhängenden Energiekrise kann das Verhältnis zur EU verbessern. Selbstverständlich würde ein Scheitern bei der Lösung der Probleme wiederum zu einer tiefen Desillusion führen. Gemeinsam müssen wir erfolgreich sein.
Wie nehmen Sie die Beziehungen zwischen der Tschechischen Republik und Deutschland wahr? Was wünschen Sie sich von Deutschland?
Bek: Während meines gesamten akademischen Berufslebens seit Anfang der 1990er-Jahre habe ich mich in irgendeiner Form an der Stärkung und Weiterentwicklung der tschechisch-deutschen Beziehungen beteiligt und das gilt ebenso für meine kurze aktuelle politische Laufbahn. Unsere Beziehungen auf wirtschaftlicher, kultureller, menschlicher und – heute traue ich es mir zu sagen – auch auf politischer Ebene sind hervorragend.
Ich wünsche mir von Deutschland das Gleiche wie von Tschechien: Dass wir die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen, dass wir uns als belehrbar erweisen und uns gemeinsam von den Folgen der historisch weit zurückliegenden Fehler befreien – wie es die Katastrophe des Nationalsozialismus oder die tschechische Vertreibung der Deutschen und das Unterliegen dem Kommunismus waren – und auch von den erst jüngst gemachten Fehlern losreißen, wie es die gemeinsame energetische und wirtschaftliche Abhängigkeit von Russland ist. Tschechen wie Deutsche haben große Erfahrung mit autoritären Regimen und können folglich umso mehr die Freiheit schätzen.
Was sollten die Deutschen unbedingt über die Tschechen wissen, um sie besser zu verstehen?
Bek: Unter den europäischen Völkern haben wir in unserem kollektiven Gedächtnis vielleicht den größten Wissensvorrat darüber angesammelt, wie verschiedene multinationale und multistaatliche Strukturen und Gebilde funktionieren. Wir waren fast 1.000 Jahre Teil des Heiligen Römischen Reichs, wir waren Teil des Kaiserreichs Österreich und der Österreichisch-Ungarischen Monarchie. Wir waren zudem als Protektorat Teil des Dritten Reiches und 40 Jahre lang Teil des sowjetischen Imperiums. Dieser Erfahrung entspringt eine gewisse Vorsicht gegenüber dem Zentralismus und die Betonung der Bedeutung der Subsidiarität. Und möglicherweise sehen wir dadurch auch, wie gemeinsame historische Etappen aus der Perspektive Prags, Wiens oder Münchens wahrgenommen werden können.
Ich führe nur ein historisch entferntes, aber eigentlich bis heute aktuelles Beispiel an: Im Habsburger Reich kam es vielerorts im Verlauf des 18. Jahrhunderts im Schul- und Behördenbereich zu einer Verdrängung der anderen Sprachen beziehungsweise des universellen Lateins durch das Deutsche. Aus Sicht derjenigen, denen das Deutsche eigen war, konnte es sich um eine Effektivierung und Modernisierung der staatlichen Verwaltung oder um einen Ausdruck der nationalen Emanzipation handeln. Aus Sicht der übrigen handelte es sich jedoch um eine neue Barriere bei den Bildungs- und Karrierechancen, die ungleiche Betätigungsbedingungen schuf. Es genügt, die Biografien führender tschechischer Intellektueller, Politiker und nationaler Aufklärer des 19. Jahrhunderts zu lesen, denn immer und immer wieder tauchen darin Zeugnisse über diesen Konflikt mit der sprachlichen Ungleichheit auf, die gleichzeitig eine soziale Ungleichheit infolge der zentralistischen Entscheidung über die Germanisierung des Reiches bedeutete.
Und folglich ist es heute vielleicht gut, wenn die Arbeitssprache der Europäischen Union, wenn auch inoffiziell, das Englische ist, die Sprache des Landes, das nicht mehr in der Europäischen Union ist. Somit müssen wir alle unter den gleichen Bedingungen mit der Präzision des Ausdrucks in der Fremdsprache ringen.
Was lieben Sie an ihrem Land ganz besonders?
Bek: Ich stamme aus Mähren, liebe den Wein und die Volksmusik aus dem Grenzland von Mähren und der Slowakei. Und ein Teil der Geschichte meiner Familie ist mit Böhmen, mit dem Böhmerwald verbunden, der für mich bis heute das Ideal der Landschaft darstellt, die in wahrhafter und ursprünglicher Bedeutung „böhmisch“ ist. Und ich bin Musikwissenschafler, ich liebe Smetana, Dvořák und Janáček.
Was für eine Beziehung haben Sie selbst zu Deutschland?
Bek: Mit sieben Jahren begann ich, Deutsch zu lernen. Die ehemalige DDR war eigentlich als Kind der Ort meiner Ferien im Ausland, Rügen und der Harz, Ostberlin oder Dresden. Als Doktorand habe ich dann in der ersten Hälfte des Jahres 1990 in Berlin an der Humboldt-Universität studiert. Das war eine sehr interessante Zeit. Ich konnte den Prozess der Vereinigung Deutschlands vor Ort aus der Nähe verfolgen.
Das Stipendium bekam ich von der tschechoslowakischen Regierung in Ostmark. Ich habe monatlich viel gespart, um über den Checkpoint Charlie die Hälfte des Stipendiums nach Westberlin zu schmuggeln – die Zöllner der DDR führten noch Kontrollen durch und Ausländer hatten eine begrenzte Möglichkeit, die Ostwährung „auszuführen“, in Westmark zu tauschen und sich dafür zum Beispiel zwei Bücher zu kaufen.
Ich ging lange durch die Buchhandlung am Kurfürstendamm und es war schwer, sich in dieser Flut von musikwissenschaftlicher, soziologischer und philosophischer Literatur zu entscheiden, die bis zu dieser Zeit im Ostblock unzugänglich war. Ich ging überall in Westberlin zu Fuß hin, da Fahrten mit dem öffentlichen Nahverkehr so viel kosteten wie ein weiteres Buch oder eine Konzert- oder Theaterkarte. Aber ich konnte auch zu Vorlesungen an der Technischen Universität und der Freien Universität gehen, was für mich eine große Erfahrung war.
Seit dieser Zeit fühlte ich mich in Deutschland arbeitsmäßig fast „wie zuhause“. Und ich bin sehr froh darüber, dass ich Mitglied des Universitätsrates der Universität Augsburg bin. Das gibt mir die Möglichkeit, Einblick zu nehmen in die deutsche Landeskunde – besser als das durch die Medien oder die Arbeitskontakte auf Ministeriumsebene möglich ist.