„Wir glauben an die heilende Kraft der Literatur“ 

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Was denken unsere Nachbarn? „Wir glauben an die heilende Kraft der Literatur“ 

Was denken unsere Nachbarn über den Krieg, die Ukraine und die EU? Wir blicken auf Polen, das Hauptziel für Geflüchtete aus der Ukraine. Hier hat Marcin Piotrowski vor dem Krieg Kulturfestivals organisiert. Jetzt leistet er mit der Folkowisko-Stiftung in Polen konkrete Hilfe an der ukrainisch-polnischen Grenze. Aber nicht nur das: Mit dem Projekt „Books not Bombs“ sammelt Piotrowski ukrainischsprachige Bücher und verteilt sie an polnische Schulen.

4 Min. Lesedauer

Auf dem Bild ist eine Kiste voller Bücher zu sehen.

Die Folkowisko-Stiftung hat bereits mehr als 5000 ukrainische Bücher an polnische Schulen verteilt.

Foto: Getty Images/iStockphoto

In dem folgendem Interview erzählt Stiftungsratmitglied Marcin Piotrowski von den Projekten der gemeinnützigen Nichtregierungsorganisation – und davon, was ihn am meisten bewegt.

Es gibt viele humanitäre Organisationen. Was ist das Besondere an der Folkowisko-Stiftung?

Marcin Piotrowski: Wir sind eigentlich Aktivisten und haben Kulturfestivals organisiert. Jetzt gehören wir zu den wichtigsten Organisationen, die humanitäre Hilfe an der ukrainisch-polnischen Grenze leisten.

Als der Krieg begann, herrschte Chaos und die Behörden hatten noch keine Aufnahmestellen für Flüchtlinge eingerichtet. Das Haus meiner Familie war eine der ersten Zufluchtsstätten für Hunderte Hilfsbedürftige, die hier ankamen. Wir haben sie über Nacht aufgenommen und mit Essen versorgt.

Leider ist dieser schreckliche Krieg immer noch nicht vorbei, obwohl wir alle die Nase voll von ihm haben. Wir helfen den Geflüchteten mit unserer letzten Kraft. Trotz aller Hindernisse geben wir nicht auf. Wir dürfen unsere Nachbarn nicht im Stich lassen.

Was tut die EU für die Ukraine?
Die Europäische Union reagierte schnell, stark und geschlossen auf den Krieg in der Ukraine. Seit Beginn der Invasion wurden massive Sanktionen verhängt, umfassende Hilfsmaßnahmen eingeleitet und finanzschwere Hilfspakete geschnürt. Auch für den Wiederaufbau setzt sich die EU ein. Einen Überblick finden Sie hier

In Ihrem Projekt „Books not Bombs“ sammeln Sie ukrainischsprachige Bücher und verteilen sie an polnische Schulen und Bibliotheken. Inwieweit denken Sie, dass Sie den Ukrainerinnen und Ukrainern mit Büchern helfen können?

Piotrowski: Stellen Sie sich vor, Sie werden gezwungen, das Land und die Menschen, die sie lieben, plötzlich verlassen zu müssen. Die Kinder und Frauen aus der Ukraine, die jetzt in Polen leben, sehnen sich nach ihrer Heimat. Sie haben oft keine Kenntnisse der polnischen Sprache, aber Kriegserfahrung im Gepäck. Und sie vermissen ihre Väter, Ehemänner oder Brüder, die zurückbleiben mussten.

Wir glauben an die heilende Kraft der Literatur. Wir wollen den Menschen Welten eröffnen, in denen ihre Städte nicht zerbomt sind. Also haben wir ukrainische Bücher gesammelt und sie an Schulen und Bibliotheken, wo Tausende Geflüchtete untergebracht sind, verteilt.

Auf dem Bild ist ein rot-weißer Wagen zu sehen, um den sich Menschen mit gelben Jacken versammeln. Auf dem Wagen sind rote Kreuze.

Die Folkowisko-Stiftung versorgt Geflüchtete beim polnisch-ukrainischen Grenzübergang Budomierz-Hrushiv.

Foto: Marcin Piotrowski

Am polnisch-ukrainischen Grenzübergang Budomierz-Hrushiv haben Sie auf der polnischen Seite ein humanitäres Lager eingerichtet. Wie helfen Sie den Menschen vor Ort?

Piotrowski: Vom ersten Tag an haben wir da Hilfe geleistet, wo sie am dringendsten benötigt wird. An der Grenze haben wir drei humanitäre Lager aufgebaut. Dazu gehören beheizte Zelte, sanitäre Einrichtungen und Schutz- und Spielräume für Kinder. In unseren medizinischen Zentren werden die Ankommenden ärztlich versorgt. Durch unsere Unterstützung konnten etwa eine Million Menschen die Grenze sicher überqueren. Rund 8.000 Patienten und Patientinnen konnten wir helfen.

Mehr als ein Jahr nach Beginn des Kriegs sind wir immer noch vor Ort. Machmal müssen die Menschen zehn und mehr Stunden warten, um die Übergänge zu passieren.

Polen zählt seit dem russischen Überfall zu den größten Unterstützern der Ukraine. Mit über 1,6 Millionen Flüchtlingen, die sich in Polen für vorrübergehenden Schutz registriert haben, ist es nach wie vor das Hauptzielland für Geflüchtete aus der Ukraine. Das Land leistet wichtige humanitäre, militärische und logistische Unterstützung. Flüchtlinge aus der Ukraine erhalten in Polen einen legalen Aufenthalt, Zugang zu Beschäftigung, Bildung, Gesundheitsversorgung und anderen Sozialleistungen.

Zu guter Letzt: Was war für Sie der bewegendste Moment in Ihrer Arbeit mit den Menschen seit Kriegsbeginn?

Piotrowski: Es gab sehr viele bewegende Momente, vor allem in den ersten Tagen. Wir sahen die Bestürzung der Menschen, ihre Angst, ihre Tränen, ihre Schreie und ihren Tod. Wir sahen frierende Kinder und sterbende alte Frauen, wir sahen ohnmächtige Mütter, Kinder und Tiere.

Es gibt Kinder, die uns fragen, ob wir ihre Väter sein wollen. Wir haben noch nie eine so schreckliche Situation erlebt, wir waren ein Team, das Feste organisierte. Wir wussten zwar, wie man Kindern hilft, die auf dem Festgelände verloren gegangen waren, aber wir wussten nicht, wie wir Kindern helfen sollten, die weinten, weil ihr Vater in den Krieg ziehen musste.

Am meisten bewegt mich, wie hoffnungvoll die Menschen aus der Ukraine sind. Sie sind sehr dankbar, unterstützen sich gegenseitig und glauben fest an den Sieg ihres Landes. Wir dachten, es würde ein Sprint werden, aber es ist ein Marathon, und wir müssen für den ukrainischen Sieg laufen und laufen.

Zwei Männer mit gelben Westen und Mützen halten jeweils einen Karton mit Hilfsgütern.

Die ehrenamtlichen Unterstützerinnen und Unterstützer der Folkowikso-Stiftung verteilen nicht nur Bücher, sondern auch Lebensmittel, Medikamente und Hygieneartikel.

Foto: Marcin Piotrowski

Was denken unsere Nachbarn?
Viele Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa zeigen sich solidarisch mit der Ukraine – in loser Reihenfolge zeigen wir in der Serie „Was denken unsere Nachbarn?“ Beispiele der Solidarität und fragen nach, was unsere Nachbarländer über den Krieg denken. Wir stellen gezielt Fragen, um die vielfältigen Sichtweisen Europas aufzuzeigen und geben einen Blick über den Tellerrand. 
Lesen Sie hier den Auftakt der Serie, ein Gespräch mit Ruta Prusevičienė, der Intendantin der Nationalen Philharmonie Litauens.