"Rege und kontroverse Debatten über Geschichte sind ein Gewinn"

Interview zur Gründung des Deutschen Kaiserreichs 1871 "Rege und kontroverse Debatten über Geschichte sind ein Gewinn"

Der Deutsch-Französische-Krieg tobte noch, als am 18. Januar 1871 im Spiegelsaal von Schloss Versailles die deutschen Fürsten und Verteter der freien Reichsstädte zusammenkamen und König Wilhelm I. von Preußen zum Deutschen Kaiser proklamierten. Diese Zeremonie gilt als Gründungsereignis des Deutschen Reiches. Was bedeuten das Datum, Kaiser, Bismarck und Reich für das Heute und unser Erinnern? Ein Gespräch mit der Historikerin Prof. Morina.

6 Min. Lesedauer

Morina

Prof. Christina Morina diskutierte mit Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier über den 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches.

Foto: imago images/Future Image/F. Kern

Frau Prof. Morina, am 18. Januar vor 150 Jahren fand die Gründung des Deutschen Reiches statt. Warum erinnert sich heute kaum mehr jemand daran?

Prof. Christina Morina: Der Tag selbst war nach dem Ende des Kaiserreichs nie einer der herausragenden Gedenktage in der deutschen Erinnerungsgeschichte. "Versailles", der Ort, an dem es 1871 proklamiert wurde, war seit 1919 vor allem mit der deutschen Niederlage im Ersten Weltkrieg und deren Folgen verbunden. Doch kreuzten 1991 in einer Allensbach-Umfrage 45 Prozent der Westdeutschen und 49 Prozent der Ostdeutschen auf die Frage nach den prägendsten historischen Ereignissen die Reichsgründung und die "nationale Zusammengehörigkeit unter Bismarck" als immerhin dritthäufigste Antwort an - nach "Leiden der deutschen Bevölkerung im Krieg" und "deutsche Kapitulation 1945".

Heute ist das öffentliche – wie schon länger das geschichtswissenschaftliche – Interesse an der Reichsgründung breit und differenziert. Die innere und äußere Gründungsgeschichte etwa wird ebenso thematisiert wie weit über Deutschland hinausreichende national- und demokratiegeschichtliche Fragen oder die Ursprünge unseres heutigen Rechts- und Sozialversicherungssystems. Das scheint nur plausibel, denn das ambivalente Zusammenspiel von autoritären und emanzipatorischen, beharrenden und modernisierenden Entwicklungen im Kaiserreich lässt sich am Reichsgründungsakt zwar treffend zuspitzen, doch dessen ganzer Komplexität und Dynamik wird man damit kaum gerecht.

Dass der Tag selbst – jenseits von vereinzelten Forderungen nach einer stärkeren "Würdigung" der "ruhmreichen" Seiten der Geschichte – im öffentlichen Bewusstsein heute keine hervorgehobene Rolle spielt, zeigt aus meiner Sicht vor allem, dass das Kaiserreich für die große Mehrheit der Bevölkerung im heutigen Deutschland, einer parlamentarisch-demokratisch verfassten Republik, ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte ohne nennenswerte Identifikationskraft darstellt.  

Wie hat sich das Gedenken an die Reichsgründung in den letzten Jahrzehnten verändert?

Morina: Im geteilten Deutschland bezog man sich, wenn auch mit je sehr eigenen Akzenten und Motiven, überwiegend kritisch auf das Datum: 1971 vermaß der damalige Bundespräsident Gustav Heinemann das 100-jährige Jubiläum dermaßen grell-distanzierend entlang der Zäsuren – zweimal Versailles, 1871 und 1919, Auschwitz, Stalingrad und bedingungslose Kapitulation 1945 –, dass selbst die zustimmende Öffentlichkeit befand: "Soviel Helligkeit schmerzt."

Jenseits der Mauer, wo man der Neuen Ostpolitik zugleich ermutigt und verunsichert gegenüberstand, misstraute man dieser maximalen Distanzierung aus der Villa Hammerschmidt, und Historiker brandmarkten die Reichsgründung als "volks- und völkerfeindlichen" Gewaltakt. Mit großer Emphase feierte sich die DDR nicht nur als antifaschistische Alternative, sondern als einzigen Staat, in dem die "wahren nationalen Interessen des deutschen Volkes" realisiert würden.

Bald manifestierte sich aber mit der sogenannten Preußen-Renaissance auch, wie stark die das Kaiserreich umschließende preußische Geschichte in beiden deutschen Staaten als kulturelle Ressource präsent beziehungsweise reaktivierbar blieb – sei es aus heimatkundlicher Neugier und Nostalgie, kulturnationaler (Selbst-)Bewunderung oder nationalistisch getriebener Verherrlichungslust. Dass diese Präsenz bis in die Gegenwart fortwirkt, zeigen die diversen Wiederaufbauinitiativen ebenso wie einschlägige Umfragen, in denen Bismarck stets als einer der "besten" oder "größten" Deutschen genannt wird.

Christina Morina ist seit 2019 Professorin für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Zeitgeschichte an der Universität Bielefeld. Geboren in Frankfurt/Oder, studierte Morina an der Universität Leipzig unter anderem Geschichte und Journalistik. An der University of Maryland promovierte sie im Jahr 2007 mit der Arbeit "Legacies of Stalingrad: the Eastern Front War and the Politics of Memory in Divided Germany, 1943-1989". Es folgten Forschungs- und Arbeitsaufenthalte in Jena und Amsterdam. 2017 habilitierte sie sich zum Thema "Schwierigkeiten mit der Wirklichkeit. Weltaneignung und Weltanschauung im frühen Marxismus (1870-1905)" .

Momentan wird polarisierend über verschiedenste Aspekte des Kaiserreiches gestritten: die Hohenzollern, Kolonialismus mit seinen Auswirkungen, historische Personen der damaligen Zeit. Sehen Sie hierin eher Gefahren oder Chancen für den Umgang und das Akzeptieren für unsere Geschichte?

Morina: Rege und kontroverse Debatten über Geschichte halte ich – sofern sie unter freiheitlich-pluralen Bedingungen stattfinden – niemals für eine Gefahr, sondern stets für einen Gewinn. Aus erinnerungsgeschichtlicher Perspektive sind das völlig nachvollziehbare Entwicklungen, denn die Frage etwa, welche Person oder welches Ereignis eine Gesellschaft für "würdig" erachtet, öffentlich zum Beispiel mit einer Straßenbenennung oder einem Denkmal gewürdigt zu werden, ist in hohem Maße zeit- und kontextgebunden. Sie wandelt sich mit den sich meist sehr langsam verändernden Prämissen, Wertvorstellungen und Selbstverständigungsprozessen, auf denen solche Entscheidungen – sowie auch deren Widerruf – beruhen.

Als Historikerin wäre für mich auch nicht entscheidend, ob sich damit die "Akzeptanz für unsere Geschichte" erhöht oder verringert. Entscheidend ist für mich, dass die Beschäftigung mit historischen Ereignissen und deren Folgen weiter auf ein vielgestaltiges Interesse in allen Ecken der Gesellschaft trifft; dass es ein anhaltendes Bewusstsein dafür gibt, wie wichtig es ist, Fragen des öffentlichen Umgangs mit vergangenem Unrecht, samt der nachwirkenden strukturellen und individuellen Folgen – auf allen Seiten solchen Unrechts – zu verhandeln. Dies gilt gerade angesichts der vielen Menschen, die heute hier leben, deren Vorfahren oder die selbst nicht in Deutschland geboren wurden.

Am Ende geht es gerade bei den Debatten um Nation und Nationalismus, Rassismus und Kolonialismus oft gar nicht primär um die Geschichte und Herkunft, sondern um die Gegenwart und Übereinkunft – darum, die Grundlagen des alltäglichen und politischen Miteinanders einer Gesellschaft auszuhandeln. Dass dies nicht konflikt- und machtfrei geschieht, ist klar. Umso wichtiger finde ich es, dass wir es als Gesellschaft schaffen, in einer immer unübersichtlicheren, unendlich erregbaren Öffentlichkeit Räume und Regeln zu wahren (oder auch neu zu denken und entsprechend zu verändern), in denen wir diese Grundlagen, einschließlich ihrer historischen Voraussetzungen, vernünftig diskutieren können.

Bei allem Streit um Denkmale und dem "richtigen" Erinnern sind TV-Produktionen oder Filme mit historischem Kontext aus den letzten 200 Jahren wahre Straßenfeger. Wie kann die Gedenkkultur davon profitieren?

Morina: Dieser seit den siebziger Jahren anhaltende Geschichtsboom ist ja ein Signum der gegenwärtigen Geschichtskultur und damit auch Gedenkkultur weit über Deutschland hinaus. Er ist eng verwoben mit dem Verblassen der großen Erzählungen, vor allem großer Zukunftserzählungen, in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Zugleich, und das sehe ich durchaus optimistisch, ist er Ausdruck eines gewachsenen Interesses nicht nur an guter Unterhaltung und rückwärtsgewandter Zerstreuung, sondern auch an einer differenzierten Betrachtung von und Identifikation mit Geschichte in all ihren Facetten. Dass die Autoren und Produzenten dieser Angebote - man denke etwa an den ZDF-Dreiteiler Geheimnisse des Kaiserreichs oder global vermarktete Computerspiele wie Hearts of Iron, in denen das Kaiserreich als Subwelt zum Weltkrieg-Spielen wiederaufersteht - enormen geschichtskulturellen Einfluss haben können, liegt auf der Hand.

Diese Medialisierung und Kommerzialisierung hat somit keineswegs nur Chancen, sondern kann gravierende Folgen haben, weil Geschichte, gerade auch Gewaltgeschichte, hier nicht selten in verfälschender, verharmlosender und verherrlichender Weise verhandelt wird. Umso wichtiger ist es, dass historisches Wissen mitsamt dem dazugehörigen Deutungsstreitm, weit über Schulen, Universitäten und Museen hinaus, im öffentlichen Raum Gegenstand reger Auseinandersetzungen bleibt – selbst und gerade an eigentlich unauffälligen Jahrestagen wie dem heutigen.

Zur 150. Wiederkehr der Reichsgründung wurde das Thema in den vergangenen Wochen bereits vielfältig diskutiert und präsentiert. So hat die Arbeitsgemeinschaft "Orte der Demokratiegeschichte" diesem Ereignis eine Tagung sowie eine umfassende Publikation gewidmet. Ebenso hat Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier mit international renommierten Historikerinnen und Historikern zum 150. Jahrestag der Gründung des Deutschen Reiches diskutiert. Weitere Informationen zum historischen Ereignis, den damals handelnden Personen sowie eine Auswahl interessanter Objekte sind auf den Seiten von Lebendiges Museum Online einsehbar.