Art. 3 GG – Interview mit Jürgen Dusel
Dieses Jahr wird das Grundgesetz 75 Jahre alt – gleichzeitig feiert das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung seinen 30. Geburtstag. Im Interview erklärt der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, warum das Verbot so bedeutend ist, wie er mit seiner Arbeit dabei hilft, es umzusetzen und was für die Zukunft wichtig ist.
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Herr Dusel, 1994 wurde das Grundgesetz um das Verbot der Benachteiligung wegen einer Behinderung erweitert. Was hat das damals bedeutet?
Jürgen Dusel: Der 15. November 1994 war tatsächlich ein ganz entscheidender Tag für die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in Deutschland. „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Der Satz steht seitdem im Grundgesetz.
Das mag für manche heute selbstverständlich klingen. Tatsächlich ist das aber hart erkämpft worden – mit vielen Diskussionen, Aktionstagen und Unterschriftensammlungen von zivilgesellschaftlichen Organisationen.
1994 beschloss der Bundestag die Aufnahme des Satzes „Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden“ in Artikel 3 des Grundgesetzes. In seiner ursprünglichen Fassung von 1949 hatte das Grundgesetz die Benachteiligung wegen einer Behinderung nicht ausdrücklich verboten. Die Behindertenrechtsbewegung ab Anfang der 1970er-Jahre und das UN-Jahr der Behinderten 1981 rückten das Thema in den Fokus. Die Idee, die Verfassung um ein Grundrecht auf Gleichbehandlung für Menschen mit Behinderungen zu erweitern, entstand während der Wiedervereinigung.
Welche Signalwirkung hatte diese Änderung?
Dusel: Mit diesem großen Schritt hat sich dann endlich auch das Bewusstsein für die Belange von Menschen mit Behinderungen geschärft. Ihre rechtliche Stellung vor allem bei Verwaltungs- und Gerichtsentscheidungen hat sich verbessert. Denn ab diesem Zeitpunkt mussten sich Verwaltung und Gerichte zwingend mit dem Verbot auseinandersetzen.
Auch die weitere Signalwirkung war immens. Die Behindertengleichstellungsgesetze in Bund und Ländern, das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz – alle haben ihren Ursprung letztlich in dem Benachteiligungsverbot des Grundgesetzes.
Was hat es damals für Sie persönlich bedeutet, dass Menschen mit Behinderungen nun ausdrücklich in der Verfassung geschützt wurden?
Dusel: Für mich war dieser Tag ein Meilenstein – und auch eine Genugtuung. Denn endlich ging es weg von einem rein auf Fürsorge und Nachteilsausgleich ausgerichteten Handeln. Und hin zu einer echten Teilhabe von Menschen mit Behinderungen.
Was bedeutet es konkret, eine Benachteiligung wegen Behinderungen verfassungsrechtlich zu verbieten?
Dusel: Zunächst einmal: Das Benachteiligungsverbot ist ein Grundrecht und zugleich eine „objektive Wertentscheidung“ – so legt es das Bundesverfassungsgericht aus. Daraus folgt, dass der Staat eine besondere Verantwortung für Menschen mit Behinderungen trägt.
Es bedeutet, dass das Benachteiligungsverbot deutlich mehr ist als nur ein Abwehrrecht gegen rechtswidriges staatliches Handeln. Aus ihm ergibt sich ein Auftrag, Menschen wirksam vor einer Benachteiligung wegen der Behinderung zu schützen.
Ein besonders plastisches Beispiel ist die Triage-Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von 2021. Es ging um das Risiko, dass Menschen mit Behinderung bei der Zuteilung intensivmedizinischer Behandlungsressourcen benachteiligt werden könnten. Das Bundesverfassungsgericht hat da sehr klar festgestellt, dass bereits dieses Risiko den Gesetzgeber dazu verpflichtet, Vorkehrungen dagegen zu treffen.
Diesen Schutzauftrag hat der Gesetzgeber auch, wenn es darum geht, Benachteiligungen durch Private zu verbieten. Zum Beispiel ist geregelt, dass Bewerbungsverfahren diskriminierungsfrei gestaltet sein müssen – auch wenn es sich bei den Arbeitgebern um Privatunternehmen handelt.
Wo sehen Sie hier noch Verbesserungsbedarf?
Dusel: Der besteht tatsächlich noch in vielen Bereichen. Dies gilt insbesondere für den barrierefreien Zugang zu Gütern und Dienstleistungen Privater, gemeint sind also Angebote vom Kino über die Arztpraxis bis zum Online-Shop.
Hier muss der Gesetzgeber endlich seiner Handlungspflicht nachkommen und ein umfassendes Benachteiligungsverbot regeln, damit Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt wie alle anderen Geschäfte des täglichen Lebens eingehen und Dienstleistungen in Anspruch nehmen können.
Welche Verantwortung ergibt sich für die Bundesregierung aus dem Benachteiligungsverbot? Und wo sehen Sie Ihre eigene Aufgabe?
Dusel: In der Tat: Auch die Bundesregierung ist an das Benachteiligungsverbot gebunden. Das kann bedeuten, dass die Bundesregierung in der Pflicht ist, auf den Entwurf von Gesetzen hinzuwirken, die zum Schutz vor Benachteiligungen erforderlich sind.
Und hier kommt mein Job ins Spiel: Als Behindertenbeauftragter habe ich innerhalb der Bundesregierung die wichtige Rolle, bei allen Gesetzen und anderen wichtigen Vorhaben darauf hinzuwirken, dass die Belange von Menschen mit Behinderungen beachtet werden. Die Ressorts sind verpflichtet, mich zu beteiligen. Ob Arbeitsmarkt, Gesundheitswesen, Digitalisierung, Wohnen oder Kultur: Da müssen so zentrale Themen wie Barrierefreiheit, Inklusion und Teilhabe von Menschen mit Behinderungen immer mitgedacht werden.
Schließlich betreffen ihre Folgen rund 13 Millionen Menschen. So viele leben in Deutschland mit einer Beeinträchtigung. Davon sind etwa 8,5 Millionen Menschen schwerbehindert. Das sind mehr als 10 Prozent der Bevölkerung.
Und dann kommt noch hinzu: Die Zahl der Menschen mit Behinderungen steigt. Und sie wird durch den demografischen Wandel noch weiter ansteigen, weil mit dem Alter eine Behinderung wahrscheinlicher wird.
Hat das Benachteiligungsverbot aus Ihrer Sicht bisher tatsächlich die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen gefördert?
Dusel: Menschen mit Behinderungen sind immer noch weit entfernt von echter Inklusion. Dies gilt vor allem im Arbeitsleben, aber auch im Bildungsbereich: Beschäftigung in besonderen Werkstätten, Unterricht in Förderschulen – das ist keine Inklusion, keine echte Teilhabe.
Aber es gibt auch Fortschritte: Das inklusive aktive und passive Wahlrecht zum Beispiel, das es seit 2019 gibt. Oder das Behindertengleichstellungsgesetz. Ich merke schon, dass dieses Gesetz zumindest in der Bundesverwaltung zu einem anderen Verständnis geführt hat. Heute ist es zwar noch nicht selbstverständlich, aber zumindest nicht mehr ungewöhnlich, dass bei Veranstaltungen Gebärdensprachdolmetscherinnen und -dolmetscher simultan übersetzen oder dass Informationen in Leichter Sprache bereitgestellt werden.
Ein wichtiger Schritt war auch, dass 2017 eine Schlichtungsstelle etabliert wurde, die direkt bei mir angesiedelt ist. Hier können Menschen mit Behinderungen niedrigschwellig und kostenlos ein außergerichtliches Verfahren einleiten. Bisher sind dort mehr als 1.300 Fälle behandelt worden. In mehr als der Hälfte konnte man eine Einigung herbeiführen, das war also sehr erfolgreich.
Welche Themen sind aus Ihrer Sicht in der Zukunft zentral, um die Gleichstellung weiter voranzutreiben?
Dusel: Zentral ist für mich das Thema Barrierefreiheit, das möchte ich voranbringen. Besonders wichtig ist da die Reform des Behindertengleichstellungsgesetzes, die noch für diese Legislaturperiode geplant ist.
Bislang sind private Unternehmen kaum zur Barrierefreiheit verpflichtet. Dabei ist die UN-Behindertenrechtskonvention hier sehr klar und nimmt sie nicht aus. Deshalb ist es für mich absolut notwendig, dass private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen verpflichtend barrierefrei werden – vor allem bei der Mobilität, dem Wohnen, im Gesundheitswesen und im digitalen Bereich.
Immer noch fehlt es an gesellschaftlichem Bewusstsein, dass Barrierefreiheit wichtig ist, damit alle gleichberechtigt teilhaben können. Und: Verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen brauchen Unterschiedliches. Was für mich als Sehbehinderten die Orientierung erleichtert, stellt für jemanden, der auf einen Rollstuhl angewiesen ist, vielleicht eine Barriere dar. Es geht eben um mehr als einen möglichst treppenfreien Zugang zu Gebäuden.
Die Barrierefreiheit in Deutschland voranzubringen, ist ein zentrales Anliegen der Bundesregierung. Ende 2022 hat das Bundeskabinett entsprechend die Eckpunkte für die „Bundesinitiative Barrierefreiheit“ beschlossen.
Welche Probleme sehen Sie noch? Und sehen Sie das Potenzial, dass – in vielleicht zehn Jahren – tatsächlich keine Menschen mehr wegen ihrer Behinderung benachteiligt werden?
Dusel: Die Chancen zur Teilhabe von Menschen mit intellektuellen Beeinträchtigungen sind noch nicht gut. Sie müssen bei allen Entscheidungen beteiligt werden, die das eigene Leben betreffen. Und dazu müssen zum Beispiel Behörden barrierefreie Informationen in Leichter Sprache bereitstellen.
Schwierig ist auch die Situation auf dem Wohnungsmarkt, die leider schlechter geworden ist. Vermutlich war es nie zuvor so schwierig wie aktuell, eine bezahlbare barrierefreie Wohnung zu finden.
Und: Im Gesundheitssystem gibt es strukturelle Benachteiligungen. Sie sind mit der Pandemie noch stärker geworden. Da warten wir auf einen Aktionsplan des Bundesgesundheitsministeriums.
Gerade haben die Vereinten Nationen überprüft, wie die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland umgesetzt wird. Die Untersuchung hat gezeigt, dass Deutschland nicht genug tut, um seinen Verpflichtungen nachzukommen. Da gibt es große Versäumnisse zum Beispiel mit der Schulbildung oder der Beschäftigung in Werkstätten für Menschen mit Behinderungen. Auch die Unterbringung in großen stationären Wohneinrichtungen ist problematisch.
Sie sehen also: Der Weg zur Barrierefreiheit wird auch in zehn Jahren noch nicht beendet sein. Aber wir müssen ihn gehen, denn Wege entstehen beim Gehen.
Seit 2018 ist Jürgen Dusel (59) der Beauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen. Mehr Informationen finden Sie auf der Website des Bundesbeauftragten.