Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach der G7-Videokonferenz zur Lage in Afghanistan am 24. August 2021

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, heute hat eine G7-Videokonferenz stattgefunden. Ich möchte mich bei dem britischen Premierminister, der ja den Vorsitz hat, ganz herzlich bedanken. Also einen herzlichen Dank an Boris Johnson! An dieser Videokonferenz haben neben den G7-Mitgliedern zusätzlich auch der UN-Generalsekretär und der Nato-Generalsekretär teilgenommen. Ich denke, es war ein sehr wichtiger Austausch, weil wir alle uns ja in einer vergleichbaren Situation befinden.

Wir haben als Erstes darüber gesprochen, welches unsere vorrangigen Ziele während der Evakuierungssituation sind. Der amerikanische Präsident hat noch einmal darauf hingewiesen, dass sich die Sicherheitslage - das wissen wir ja auch aus unseren eigenen Informationen - am Kabuler Flughafen immer weiter verschärft. Das heißt also, dass die Evakuierung unter großen Anstrengungen stattfindet. Wir sind sehr froh darüber, dass heute auch wieder deutsche Flugzeuge nach Taschkent fliegen konnten. Wir bedanken uns bei allen, die uns dabei helfen, vorrangig auch bei der usbekischen Regierung.

Heute wurde in der G7-Konferenz aber auch klar, dass es eine sehr, sehr enge Zusammenarbeit aller G7-Staaten, aber auch aller Verbündeten gibt, die in diesem Nato-Einsatz waren. Deshalb ist es auch mit den Zahlen zum Teil sehr schwierig, etwa bei der Frage, wie viele deutsche Staatsbürger ausgeflogen wurden, weil jeder jedem hilft. Man kann sagen, dass wir neben deutschen Staatsbürgern natürlich auch Ortskräfte und teilweise auch Ortskräfte anderer Länder ausfliegen, aber eben auch Menschen, die sich besonders für Menschenrechte eingesetzt haben, darunter auch sehr viele Frauen.

Wenn dieser Evakuierungseinsatz endet - die Konferenz hat heute keine neuen Daten dazu ergeben -, dann folgt natürlich eine Phase, auf die sich intern jetzt schon sehr intensiv vorbereitet wird. Es geht darum, wie wir sicherstellen können, dass Ortskräfte und Personen, die des Schutzes bedürfen, das Land möglichst auch danach noch verlassen können. Deshalb spielt in diesem Zusammenhang auch die Frage eine Rolle, ob man dann wieder einen zivilen Flughafen in Afghanistan, sprich, in Kabul, betreiben kann. Darüber wird im Augenblick sehr intensiv gesprochen.

Von entscheidender Bedeutung - das war in unseren Besprechungen natürlich auch klar - ist dann die Frage, inwieweit eine inklusive Regierung gebildet werden kann. Dabei geht es nicht nur um die Frage, wie viele Minister einer alten und früheren Regierung in Afghanistan dabei sind, sondern vor allem darum, wie sich auch das komplizierte Stammeskonstrukt in Afghanistan in einer Regierung so wiederfindet, dass sich alle Afghaninnen und Afghanen von einer solchen Regierung repräsentiert fühlen.

Wir haben uns noch einmal zu der Erklärung des UN-Sicherheitsrates vom 16. August bekannt, in der wir vor allen Dingen um den Schutz aller afghanischen Bürgerinnen und Bürger und auch aller ausländischen Bürgerinnen und Bürger bitten.

Ich will ausdrücklich - ich habe auch heute wieder mit dem Emir von Katar Al-Thani telefoniert - die konstruktive Rolle Katars würdigen, das einen ganz entscheidenden Beitrag sowohl zu den Gesprächen mit den Taliban als auch zu den Fragen der Evakuierung leistet.

Wir haben dann in einem weiteren Punkt darüber gesprochen, wie wir humanitäre Hilfe geben. Ich habe für Deutschland angekündigt, dass wir 100 Millionen Soforthilfe für humanitäre Hilfe geben und dass wir weitere 500 Millionen bereitstellen werden, vorrangig durch die UN-Organisation, weil die Entwicklungszusammenarbeit mit Afghanistan selbst im Augenblick ja gestoppt ist, genauso wie das der IWF und andere internationale Organisationen getan haben. António Guterres hat darauf hingewiesen, dass die Vereinten Nationen entschieden haben, einen Teil ihrer internationalen Kräfte im Augenblick in Afghanistan verbleiben zu lassen und die Kooperation mit den afghanischen Ortskräften dort fortsetzen zu wollen. Das gilt für den UNHCR, für UNICEF, für die Weltgesundheitsorganisation und vor allen Dingen auch für das Welternährungsprogramm.

Neben dem Geld - ich habe den Generalsekretär der Vereinten Nationen gebeten, uns sehr spezifisch zukommen zu lassen, welche akuten Bedürfnisse sie haben - geht es aber auch um Logistik. Denn Afghanistan hat zurzeit keinen zivilen Flughafen. Sie können sich vorstellen, was das für den Transport von Medikamenten und Ähnlichem bedeutet. Auch aus diesem Grund wäre es von entscheidender Bedeutung, dass wir möglichst bald wieder einen zivilen Flughafen in Afghanistan haben, über den auch solche Hilfsgüter transportiert werden können.

Wir haben dann natürlich auch über das Thema der Migration in die Nachbarstaaten gesprochen. Das ist im Augenblick kein akutes Thema. Aber ich habe für Deutschland meine Bereitschaft bekundet - das tun auch die anderen -, mit den Nachbarländern, zum Beispiel Pakistan und Iran, im Zweifelsfalle zusammenzuarbeiten, was die Versorgung von Flüchtlingen anbelangt.

Von der G7 wird jetzt eine Gruppe eingesetzt werden, die sich darum bemühen wird, einen Fahrplan zu entwickeln, wie wir in Zukunft die Verabredungen mit den Taliban gestalten können. Wir wollen dabei einheitlich und gemeinsam als G7 auftreten. Denn es nützt nichts, wenn dort jeder seine eigenen Anstrengungen macht. Aber man kann sagen: Die Evakuierungsaktion erfolgt in großer Gemeinsamkeit. –

Natürlich - das will ich noch einmal betonen – haben die Vereinigten Staaten von Amerika hier die Führung. Ohne die Vereinigten Staaten von Amerika können wir zum Beispiel - aber auch die anderen - die Evakuierungsaktion nicht weiterführen. Das muss man ganz klar wissen. So, wie wir diese Evakuierungsaktion jetzt einheitlich gestalten, wollen wir auch das weitere Vorgehen im Umgang mit Afghanistan weiter einheitlich gestalten.

Das war das, was ich Ihnen über diese G7-Konferenz sagen kann. Ich habe anschließend die Fraktionsvorsitzenden der im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen über dieses Ergebnis unterrichtet, genauso wie die Verteidigungsministerin und der Außenminister über die aktuelle Situation in Bezug auf die Evakuierung berichtet haben. Aber das kennen Sie weitestgehend aus der Presse.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, um es noch einmal ganz kurz klarzumachen: Der US-Präsident hat eine Verlängerung des Einsatzes über den 31. August hinaus abgelehnt. Ist das richtig so?

Was bedeutet das dann - der zweite wichtige Teil für Deutschland - für die Evakuierungsaktion der Deutschen? Endet die damit dann am 31. August oder früher?

Wie viele Menschen - Ortskräfte und Staatsbürger - können Sie bis dahin noch evakuieren?

BK’in Merkel: Ich hatte meine Worte wohl gewählt. Es sind heute vom Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika keinen neuen Daten über das bekannte Datum 31. August genannt worden. Was das genau im Zeitablauf bedeutet, kann ich zu dieser Stunde nicht abschließend sagen. Ich kann Ihnen nur sagen, dass gestern etwa 1000 Menschen von deutscher Seite aus evakuiert wurden – insgesamt natürlich sehr viel mehr - und dass heute schon wieder mehrere Flugzeuge mit recht vielen Menschen an Bord geflogen sind.

Frage: Können Sie sicherstellen, dass die Deutschen noch in diesem Zeitraum evakuiert werden können?

Wurde auch in dieser Konferenz über das Versagen des Westens gesprochen?

Gab es Kritik an US-Präsident Biden?

BK’in Merkel: Es wurde natürlich darüber gesprochen, dass sich eine ganze Reihe von langfristigen Fragen stellen. Die konnten wir aber heute in dieser Konferenz nicht bearbeiten. Die wird man innerhalb der Nato darstellen und bereden müssen.

Die Fragen gehen auch an uns. Das sind Fragen wie: Wie kann es sein, dass so schnell eine afghanische Führung, eine Regierung das Land verlässt? Wie kann es sein, dass lang ausgebildete afghanische Streitkräfte so schnell aufgegeben haben? Diesen Fragen werden wir uns stellen müssen. Aber die standen heute nicht im Vordergrund.

Ich glaube, heute war der Tag, an dem wir vor allen Dingen einmal in den Mittelpunkt gestellt haben, dass es unter sehr, sehr schwierigen Bedingungen, die ja für alle gelten, eine reibungslose Kooperation untereinander unter Führung der amerikanischen Armee und der US-Streitkräfte gibt. Wir sind schon sehr dankbar für die Professionalität, mit der gearbeitet wird. Aber ich denke auch, dass unsere Soldatinnen und Soldaten einen sehr herausragenden Job leisten.

Vorrang hat für uns die Evakuierung deutscher Staatsbürger. Die Zahlen ändern sich immer wieder. Wir haben bereits einen großen Teil - der Außenminister hat es heute schon gesagt - evakuiert. Wir kennen von den uns bekannten Namen die Aufenthaltsorte. Es wird mit Hochdruck daran gearbeitet, auch diese Menschen außer Landes zu bringen.

Frage: Frau Merkel, an einem Tag wie diesem kommt man auch an einem anderen Thema nicht vorbei. Ihre Partei steht in den Umfragen zum ersten Mal seit über 15 Jahren wieder hinter der SPD und ist auf einem historischen Tiefpunkt. Wie groß ist Ihr eigener Anteil und vielleicht auch der Anteil der aktuellen Afghanistanpolitik an diesem Desaster?

BK’in Merkel: Wir kämpfen beziehungsweise die Partei kämpft. Ich stehe ja selbst nicht zur Wahl. Wir haben eine gute Eröffnung der heißen Phase des Wahlkampfs gehabt. Wir werden uns jeden Tag dafür einsetzen, dass wir ein gutes Wahlergebnis einfahren und nicht jeden Tag auf die Umfragen schauen. Zum Schluss zählen die Stimmen der Bürgerinnen und Bürger in der Wahlbox. Die Probleme, die sich ergeben - das ist die Pandemie; das ist jetzt dieses sehr, sehr bittere Thema Afghanistan -, werden von der Regierung so bearbeitet und so gestaltet, dass es möglichst gut für die Menschen in unserem Land ist.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, Sie haben gesagt, es wurden keine neuen Daten genannt, ob die Evakuierungsmission verlängert werden kann. Liegt das eher daran, dass das niemand im G7-Kreis wollte oder dass die Taliban gesagt haben „Zum 31. August ist Schluss“?

Wie groß würden Sie in diesem Zusammenhang überhaupt noch den Einfluss des Westens bewerten? Hat er noch in irgendeiner Weise das Heft des Handelns in der Hand oder ist er den Taliban eher ausgeliefert?

BK’in Merkel: Die Realität ist, dass die Taliban in weiten Teilen des Landes die Kontrolle übernommen haben und dass die Taliban auch öffentlich deutlich gemacht haben, welche - wie sie es genannt haben - rote Linie es gibt. Die Frage, dass wir so lange wie möglich Menschen evakuieren wollen, ist klar. Aber dass wir dabei auch auf die Sicherheitsgegebenheiten schauen müssen, die sich eben auch sehr schwierig gestalten – darauf hat der amerikanische Präsident noch einmal hingewiesen, und dem hat auch niemand widersprochen -, muss natürlich mit ins Kalkül gezogen werden. Wir können nur Operationen vertreten, bei denen die Sicherheit auch nach menschlichem Ermessen gewährleistet ist.

Die Vorstellungen der Taliban spielen also natürlich eine Rolle, weil sie Kabul kontrollieren. Zweitens spielen die Sicherheitsbedingungen eine Rolle, denn wir wollen und dürfen unsere Soldatinnen und Soldaten und auch nicht die Bürgerinnen und Bürger, die wir evakuieren wollen, keinem unangemessenen Risiko aussetzen. Das gilt für alle.

Danke schön!