Es gibt „viel zu entdecken, zu würdigen und zu feiern“

Ein Medora und eine Kippa.

Die Menora, auch bekannt als Siebenarmiger Leuchter, ist eines der wichtigsten religiösen Symbole des Judentums.

Foto: Judith Affolter

„Es gibt in einem anderen Menschen nichts, was es nicht auch in mir gibt. Dies ist die einzige Grundlage für das Verstehen der Menschen untereinander.“ Mit diesen Worten ruft Erich Fromm, der große jüdische Sozialpsychologe, zu Toleranz und gegenseitiger Achtung auf. So unterschiedlich unsere Sicht auf die Welt ist, so vielfältig unsere Erfahrungen und auch so widersprüchlich unsere Wünsche sind – uns alle eint das Menschsein. Toleranz wächst, wenn wir einander kennenlernen. Kennenlernen wiederum braucht neben Offenheit vor allem auch Gelegenheit. Eine solche herausragende Gelegenheit bietet das Jubiläumsjahr 2021.

1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland: Das sind 1.700 Jahre, in denen jüdische Bürgerinnen und Bürger alle Bereiche unserer Gesellschaft entscheidend mitgeprägt haben. Innovativ, kreativ und oft als Pionierinnen und Pioniere auf ihrem Gebiet. Die Ärztin Rahel Hirsch etwa wurde 1913 als erste Frau im Königreich Preußen zur Professorin für Medizin ernannt. Dem Komponisten Felix Mendelssohn Bartholdy verdanken wir die Eröffnung der ersten höheren Bildungsanstalt für Musiker auf deutschem Boden im Jahr 1843. Der Physiker Heinrich Rudolf Hertz bereitete mit seinen Forschungsarbeiten in den 1880er Jahren den Weg für die Entwicklung des drahtlosen Telegraphen und des Radios.

Schon diese wenigen Beispiele vermitteln einen Eindruck davon, wie vielfältig und bereichernd jüdisches Leben und Wirken in unserem Land waren und sind. Und so gibt es in diesem Jubiläumsjahr viel zu entdecken, zu würdigen und zu feiern. 
1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland – das sind Jahre der kulturellen Blüte, aber auch Jahre tiefer Unmenschlichkeit. Unvergessen bleibt, was jüdischen Familien angetan wurde durch Ausgrenzung und Verleumdung, durch grausame Pogrome – immer wieder, über Jahrhunderte hinweg. Das dunkelste Kapitel der deutsch-jüdischen Geschichte bildet dabei der unfassbare Zivilisationsbruch der Shoa.

Wir gedenken der Millionen jüdischer Kinder, Frauen und Männer, die systematisch verfolgt und ermordet wurden. Wir gedenken all jener, die ihrer Familien und ihrer Heimat beraubt wurden, die nach unfassbaren Qualen nie wieder inneren Frieden fanden. Ihre Schicksale, ihre Leiden sind uns eine bleibende Mahnung. Aus der Erinnerung an die Menschheitsverbrechen des nationalsozialistischen Deutschlands erwächst uns Deutschen eine ganz besondere Verantwortung, überall und jederzeit für die unveräußerliche Würde jedes Menschen einzutreten. Eben deshalb gilt es, das Gedenken von Generation zu Generation weiterzutragen.

Vor dem Hintergrund der Shoa nimmt es sich wie ein Wunder aus, dass wir heute in Deutschland wieder eine lebendige jüdische Gemeinschaft haben, die drittgrößte in Europa. Neue Synagogen, jüdische Kindergärten und Schulen sind entstanden.
Rabbiner – inzwischen auch Rabbinerinnen – werden wieder ausgebildet und ordiniert. Aus der deutschen Gegenwartsliteratur sind jüdische Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie die kürzlich verstorbenen Autorinnen Ruth Klüger und Mirjam Pressler nicht wegzudenken, junge Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler bringen die Forschung voran, Künstlerinnen und Künstler sowie Medienschaffende bereichern unsere Kultur. Im vergangenen Jahr brachte der Pianist Igor Levit mit seinen Internet-Konzerten in Corona-Zeiten viel Zuversicht und Freude in unsere Häuser.

Doch viele Jüdinnen und Juden machen sich große Sorgen um ihre eigene Zukunft und die unserer Gesellschaft. Es empört mich zutiefst, zu sehen, wie enthemmt Antisemitismus auch heute noch auftreten kann. Der Anschlag in Halle im Oktober 2019 war eine Schande für unser Land. Es ist traurig und doch unabdingbar, dass wir jüdischen Einrichtungen besonderen Schutz zukommen lassen müssen.

Wir dulden keinen Antisemitismus in unserem Land. Welche Auswüchse auch immer er annimmt, wir gehen gegen jede Form von Antisemitismus vor. Dazu setzen wir auf Bildung und Prävention ebenso wie auf Mittel unseres Rechtsstaates. Staatliche Maßnahmen sind wichtig, allein aber reichen sie nicht. Es liegt an jedem und jeder Einzelnen von uns, Toleranz und gegenseitigen Respekt im Alltag zu leben und zu beleben. Wir alle sind Teil unserer Gesellschaft. Und so liegt es auch an uns allen, im Rahmen unserer Möglichkeiten für eine menschliche Gesellschaft zu sorgen.

Uns der grundlegenden Werte unseres Zusammenlebens zu vergewissern und Zusammenhalt zu stiften – dazu bietet dieses Jubiläumsjahr wertvolle Anregungen. Ich freue mich sehr, wenn möglichst viele mitwirken und damit auch verdeutlichen, dass 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland nun vor allem eines sind: eine Geschichte mit Zukunft.

Dieser Namensbeitrag von Bundeskanzlerin Merkel ist am 18. Februar 2021 in der Sonderbeilage „1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ der „Jüdischen Allgemeinen“ erschienen.