Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Jahresempfangs des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen am 17. August 2021 in Berlin

Rede von Bundeskanzlerin Merkel anlässlich des Jahresempfangs des Beauftragten der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen am 17. August 2021 in Berlin

Dienstag, 17. August 2021 in Berlin

Lieber Herr Dusel,
liebe Zuhörerinnen und Zuhörer und
anwesende Gäste,

ich freue mich, hier zu sein. Die Zeiten sind etwas angespannt. Wir hatten noch Beratungen zur Lage in Afghanistan. Deshalb habe ich mich verspätet und kann auch nur kurz hier sein. Aber mir war es sehr wichtig, lieber Herr Dusel, Ihrer Einladung zu folgen und heute zu Ihnen zu sprechen.

Der Jahresempfang findet in einer Zeit statt, die gewiss nicht leicht ist. Ich möchte in diesem Moment vor allen Dingen an die entsetzliche Flutkatastrophe vor einem Monat erinnern. Sie forderte so unglaublich viele Opfer, darunter auch Menschen mit Behinderungen. Ich denke, wir alle haben das, was in der Wohneinrichtung in Sinzig passiert ist, als furchtbare Tragödie erlebt. Ich darf sagen, dass mich das auch ganz persönlich tief erschüttert hat. Worte können nicht annähernd das Leid ausdrücken, das so vielen Menschen widerfahren ist. Mein tief empfundenes Beileid gilt allen Angehörigen der Opfer dieser Flutkatastrophe.

Wir haben schmerzlich erfahren, wie wichtig es ist, wirksamere Vorkehrungen für Katastrophen aller Art zu treffen. Dass dabei gerade auch an Menschen mit Behinderungen gedacht wird, muss ein Leitgedanke bei der Weiterentwicklung des Katastrophenschutzes sein.

Meine Damen und Herren, in unserem Land leben etwa acht Millionen schwerbehinderte Menschen. Teilhabe ist aber keine Frage von Zahlen. Sie ist keine Frage von Mehrheiten oder Minderheiten. Teilhabe berührt das Grundverständnis unseres Zusammenlebens. Sie betrifft jeden Einzelnen mit seiner unteilbaren Würde als Mensch. Jeder Mensch soll teilhaben können – in allen Bereichen unserer Gesellschaft. Mit diesem Ziel vor Augen gilt es aber auch, Lern- und Erfahrungsprozesse zu durchlaufen. Denn Inklusion ist mit Sicherheit kein Selbstläufer, sondern dafür muss gearbeitet und geworben werden.

Viele von Ihnen wissen vielleicht, dass ich meine Kindheit in der ehemaligen DDR in einem Pfarrhaus neben einer diakonischen Einrichtung verbracht habe, in der Menschen mit körperlichen und geistigen Behinderungen betreut wurden. Ich habe mit ihnen viel Zeit verbracht. Das war für mich Alltag. Aber einige meiner Mitschülerinnen und Mitschüler hatten große Berührungsängste. Das hat mir damals schon gezeigt – damals war noch lange keine Rede von Inklusion –, wie wichtig es ist, nicht allein physische Barrieren abzubauen, sondern eben auch Barrieren in den Köpfen. Dass wir alle selbstverständlich zusammengehören, ob mit oder ohne Behinderung, das sollten wir so früh wie möglich lernen. Daher sollten Menschen, mit welcher Beeinträchtigung auch immer, von Anfang an dazugehören. Sie sollten soweit wie möglich in die gleiche Schule gehen wie andere Kinder und gleiche Freizeiteinrichtungen nutzen. Dann wird es selbstverständlicher, auch in späteren Jahren keine getrennten, sondern gemeinsame Wege zu gehen.

Gelungene Inklusion ist wie so vieles andere natürlich auch eine Frage des Geldes. Das will ich ausdrücklich sagen. Aber von entscheidender Bedeutung ist vielmehr die Frage: Wie begegnen sich Menschen mit und ohne Behinderungen? Dabei kommt es vor allem auf die innere Einstellung an. Gerade auch in dieser Hinsicht war und ist die Bedeutung der UN-Behindertenrechtskonvention in keiner Weise zu unterschätzen. Sie konnte weltweit neue Impulse in diesem Bereich entfalten, weil sie eben auch ein neues Bewusstsein zu etablieren half.

Das gilt als Erstes mit Blick auf Menschenrechte. Die Konvention umfasst alle menschenrechtlich geschützten Lebensbereiche – vom Recht auf Leben bis zum Recht auf Erholung und Freizeit. Zweitens steht die Konvention für einen Gedankenwechsel von der reinen Fürsorge hin zur Inklusion, also zu gleichberechtigten Chancen der Teilhabe am gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben. Drittens hat sich mit der Konvention das Verständnis von Behinderung grundlegend geändert. Behinderung bedeutet nicht allein, dass jemand etwas nicht kann, etwa mit Blick auf die Fähigkeit zu laufen, zu hören oder zu sehen. Behinderung entsteht gleichermaßen durch Barrieren im Lebensumfeld. Das können Treppen ohne Rampen sein oder Nachrichten ohne Untertitel. Anders gesagt: Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden behindert. Sie haben Beeinträchtigungen, aber erst die Barrieren im Alltag behindern sie.

Gewiss, eine Konvention allein schafft noch keine Inklusion. Sie muss in die Alltagspraxis übersetzt und mit Maßnahmen umgesetzt werden. Daran haben wir in Deutschland ja schon vor einiger Zeit gemeinsam mit den betreffenden Verbänden gearbeitet. Das erste Ergebnis war der Nationale Aktionsplan 2011. Als gesellschaftliche Daueraufgabe verlangte das Leitbild der Inklusion aber alsbald eine Weiterentwicklung des Aktionsplans. Inzwischen umfasst dieser 350 Rechtsänderungen, Förderprogramme oder Forschungsprojekte.

Dabei ist ein Dauerthema die Teilhabe am Arbeitsleben. Nach wie vor liegt die Arbeitslosenquote schwerbehinderter Menschen deutlich über der allgemeinen Arbeitslosenquote – trotz der Integrationsfirmen, die schwerbehinderte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt beschäftigen, trotz der Unterstützten Beschäftigung mit individueller Qualifizierung und Berufsbegleitung und trotz des Budgets für Arbeit und des Budgets für Ausbildung. Das alles hat zwar unverkennbar Fortschritte gebracht, doch im Zuge der Pandemie wurden wir wieder ein ganzes Stück zurückgeworfen.

Es mangelt also nicht unbedingt an fehlenden Unterstützungsangeboten. Gleichwohl könnten sie unbürokratischer sein. Auf jeden Fall aber gilt es, immer wieder Arbeitgeber davon zu überzeugen, die Talente und Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderungen nicht brachliegen zu lassen. Das ist nicht nur eine soziale Frage, sondern es ist auch wirtschaftlich geboten. Sich Fachkräfte zu sichern, bedeutet ja auch, betriebliche Zukunft zu sichern. Gemeinsam mit den Schwerbehindertenvertretungen müssen wir daher auch das betriebliche Eingliederungsmanagement stärken.

Auch wenn der Übergang aus einer geschützten Werkstatt in den ersten Arbeitsmarkt sehr schwierig ist, gilt es diesen Weg zu ebnen. Ich will keineswegs verkennen, wie wichtig die Werkstätten sind. Viele Beschäftigte wollen in einer geschützten und ihnen vertrauten Umgebung arbeiten. Hier können sie der Wertschätzung ihrer Leistungen sicher sein. Aber – das ist auch die Wahrheit – diese Wertschätzung schlägt sich nicht im Einkommen nieder. Das Werkstattentgelt ist gering, schließlich ist es eine Leistung der Eingliederungshilfe und kein Arbeitslohn. Aber das entspricht eben nicht unbedingt der Produktivität der Beschäftigten. Daher sollten wir uns Gedanken darüber machen, den Werkstattlohn neu zu regeln und gleichzeitig die derzeitige Deckelung des Arbeitsförderungsgeldes aufzuheben.

Ob in der Arbeit oder in anderen Lebensbereichen – faire Teilhabe erfordert immer auch Barrierefreiheit. Dafür müssen wir auch auf Bundesebene sorgen. Das haben wir zuletzt auch mit dem Barrierefreiheitsstärkungsgesetz getan. Wir nehmen dabei auch die Privatwirtschaft stärker in die Pflicht. Es werden digitale und technische Barrierefreiheiten vor allem beim Online-Handel, bei Computern, Smartphones, Geld- und Ticket-Automaten gefordert. Die Verbände haben ein umfassendes Verbandsklagerecht bekommen. So können sie die Umsetzung sehr gut kontrollieren.

Fast 20 Jahre gibt es das Behindertengleichstellungsgesetz. Für öffentliche Stellen gelten damit strenge Anforderungen zur Barrierefreiheit – sei es in den Gebäuden oder bei der IT; und wir erweitern diese immer wieder. Lange umstritten war die Verpflichtung zu angemessenen Vorkehrungen, um auch in Einzelfällen gleichberechtigte Teilhabe zu gewährleisten. Das ist nun auch gesetzlich geregelt. Sicherlich ist damit noch nicht das Ende der Fahnenstange erreicht. Das heißt, das Behindertengleichstellungsgesetz steht immer wieder neu auf dem Prüfstand.

Ein sozialpolitischer Meilenstein ist auch das Bundesteilhabegesetz. Mit ihm ist Eingliederungshilfe nicht mehr Sozialhilfe, sondern Leistungsrecht. Da möchte ich drei Punkte hervorheben. Erstens: Wir haben die Verwaltungsprozesse vereinfacht. Um Zuständigkeitsstreit zu vermeiden, werden die Leistungen nun aus einer Hand erbracht. Zweitens: Die Leistungen sind personenorientiert. Sie richten sich nicht mehr danach, ob eine Person in einer Einrichtung lebt. Sie richten sich nach deren individuellem Bedarf. Drittens: Einkommen und Vermögen von Ehe- und Lebenspartnern werden nicht mehr herangezogen. Auch die Freigrenzen für eigenes Einkommen und Vermögen wurden erheblich angehoben. Damit lohnt sich Arbeit auch mehr. Wir prüfen nun regelmäßig, ob das Gesetz so wirkt, wie wir es beabsichtigt haben; und falls nötig, muss es nachgebessert werden.

Eine besondere Herausforderung war und ist natürlich die Coronaviruspandemie. Werkstätten blieben geschlossen. Therapien fielen aus. Freizeitaktivitäten fanden nicht statt. Es gab Besuchsverbote. Es waren sehr schwierige und oft auch sehr einsame Monate gerade auch für Menschen in Wohneinrichtungen oder Familien mit behinderten Kindern.

Wir haben in den Nationalen Aktionsplan Projekte aufgenommen, wie Teilhabe und Inklusion in der Pandemie gestaltet werden können. Wichtig ist dabei insbesondere, die sozialen Strukturen zu erhalten. Dank des Sozialdienstleister-Einsatzgesetzes sind Zahlungen an die sozialen Dienstleister und Einrichtungen sichergestellt, auch wenn Leistungen ausfallen. Im Gegenzug haben diese ihre Unterstützung zugesagt, um die Folgen der Pandemie abzufedern. Das hat nach meiner Erfahrung auch recht gut geklappt.

Die Pandemie hat in verschiedensten Bereichen unserer Gesellschaft und in vielerlei Hinsicht Schwächen und Verbesserungsbedarf aufgedeckt. So werden mittlerweile auch meine Pressekonferenzen und Podcasts im Internet in Gebärdensprache und mit Untertiteln angeboten. Man muss ehrlich sagen: Lang hat‘s gedauert. Ich danke dem Deutschen Gehörlosen-Bund für seinen Einsatz in dieser Sache, denn ohne diesen Einsatz wären wir diesen Schritt vielleicht auch nicht gegangen.

Das zeigt wieder einmal: Oft sind es vermeintlich kleine Dinge, die für andere große Hürden darstellen – etwa wenn man den Fahrdienst viele Tage vorher anrufen muss, um zum Einkaufen fahren zu können, oder wenn ein Rollstuhlfahrer von einer Kulturveranstaltung wenig mitbekommt, weil andere Zuschauer vor ihm stehen und den Blick auf die Bühne versperren. Menschen mit Behinderungen und ihre Familien, die Sozial- und Wohlfahrtsverbände, die Beschäftigten bei den sozialen Leistungserbringern und die vielen Ehrenamtler wissen, wie viel Kraft und Energie Inklusion im Alltag abverlangt. Umso dankbarer bin ich allen Engagierten für ihren unschätzbaren Einsatz, um Inklusion zu leben, vorzuleben, Beispiele zu setzen und voranzubringen.

Inklusion lässt sich nicht einfach gesetzlich vorschreiben. Inklusion lebt auch sehr von gutem Willen, von Aufmerksamkeit und Offenheit füreinander. Das ist kein Plädoyer gegen Gesetze. Aber Gesetze alleine reichen nicht, wenn nicht auch der Geist des Gesetzes gelebt wird. Ich sage: Von der Aufmerksamkeit und Offenheit füreinander können wir in unserer Gesellschaft gar nicht genug haben.

Lieber Herr Dusel, als ich auf die Bühne gekommen bin, haben Sie davon gesprochen: Es ist noch nicht lange her, als wir über das Thema Assistenz für behinderte Patienten im Krankenhaus gesprochen haben. Derzeit ist die Kostenübernahme für eine Begleitperson noch ungeklärt. Aber Abhilfe verspricht nun eine Gesetzesänderung. Dieser muss nur noch der Bundesrat zustimmen. Das sieht gut aus, da haben wir Vorkehrungen getroffen. Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn man sieht, wie lange um diese Frage diskutiert und gerungen wurde, dann ist es gut, wenn wir das Buch einmal zumachen können und das Problem gelöst haben. Mir war das wirklich ein Anliegen. Ich danke auch Ihnen, lieber Herr Dusel, dass Sie sich dafür engagiert haben. Denn sonst wäre das vielleicht gar nicht in der Dringlichkeit an mich herangeraten. Ich habe gewusst: Wenn Sie sich melden, dann ist etwas Ernstes im Gange.

Sie sind jemand, den die Belange von Menschen mit Behinderungen umtreiben. Deshalb treiben Sie die Politik an. Für die Bundesregierung konnte das zuweilen unbequem sein. Ich sage es einmal so: Das war aber auch gut im Sinne von Inklusion. Ehrlich gesagt: Dafür sind Sie auch da. Deshalb kommt es genau auf so etwas an. Aber ich möchte Ihnen dafür auch danken, weil ich mir vorstellen kann, dass es manchmal sehr mühselig ist, sich immer und immer wieder in Sachen einzumischen, die wahrscheinlich aus Ihrer Perspektive eigentlich offensichtlich sind, wenn man das Wort „Inklusion“ im Munde führt.

Danke schön für Ihre Arbeit. Danke schön für die Arbeit all derer, die uns jetzt hier zuhören und die engagiert sind. Es ist ein Prozess, diese UN-Behindertenkonvention umzusetzen. Diese Arbeit wird auch nie abgeschlossen sein, weil sich unsere Gesellschaft ja weiterentwickelt. Wir sind vorangekommen, aber es bleibt noch viel zu tun. Deshalb brauchen wir Sie weiter, Herr Dusel, mit Ihrem Engagement und Sie alle, die Sie sich in diesem Bereich engagieren.

Alles Gute und herzlichen Dank, dass ich eingeladen wurde.

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