Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel nach der Videokonferenz mit den (Ober-) Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der elf größten deutschen Städte zur derzeitigen Lage in der Coronapandemie am 9. Oktober 2020

Im Wortlaut Pressestatement von Bundeskanzlerin Merkel nach der Videokonferenz mit den (Ober-) Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern der elf größten deutschen Städte zur derzeitigen Lage in der Coronapandemie am 9. Oktober 2020

in Berlin

  • Mitschrift Pressekonferenz
  • Freitag, 9. Oktober 2020

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, ich komme gerade aus einer Videokonferenz mit den Oberbürgermeistern und Oberbürgermeisterinnen der elf größten Städte in Deutschland, die eines gemeinsam haben, nämlich eine doch hohe und zum Teil auch rapide wachsende Zahl von Coronainfektionen. Ich habe mich sehr gefreut, dass die Stadtoberhäupter dieser Einladung gefolgt sind, und ich glaube, dieses Gespräch war gerade jetzt auch sehr wichtig.

Wir haben uns umfassend ausgetauscht, und wir werden Ihnen auch ein gemeinsames Papier zukommen lassen. Ich will nur hervorheben und herausstreichen, dass wir uns alle einig waren, dass wir bei Inzidenzen von 35 Infizierten pro 100 000 Einwohnern innerhalb von sieben Tagen, aber dann vor allem bei solchen von 50 pro 100 000, zusätzliche Maßnahmen ergreifen müssen.

Der Charakter dieser Maßnahmen ist immer darauf ausgerichtet, die Kontaktnachverfolgung auch weiterhin sicherzustellen. Deshalb werden Beschränkungen notwendig. Hierbei geht es eigentlich um eine ganze Gruppe von Beschränkungen, die von allen gleichermaßen gesehen wird, zum einen um das konsequente Tragen von Mund-Nase-Bedeckungen auch in öffentlichen Räumen, in denen die Abstandsregeln nicht eingehalten werden könnten, wie es ja zum Beispiel auch München schon gemacht hat, zum anderen um die Einführung von Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum, zum Beispiel durch die Einführung einer Sperrstunde beziehungsweise Alkoholbeschränkungen für Gastronomiebetriebe, und schließlich um weitergehende Beschränkungen der Teilnehmerzahlen über das hinaus, was wir auch schon mit den Ländern vereinbart hatten, was also die Beschränkungen gerade bei Veranstaltungen und Feiern und auch bei Feiern im privaten Raum angeht.

Es geht darum, die Gesundheitsämter gut auszustatten und sich hierbei auch gegenseitig zu helfen. An dieser Stelle ein herzliches Dankeschön an die Bundeswehr! Das wurde von allen als sehr, sehr wichtig eingeschätzt. Aber wir werden auch gemeinsam weitere Unterstützung suchen, wie es genauso auch um die Unterstützung und Entlastung von Ordnungsämtern geht.

Wir haben vereinbart, dass wir uns in zwei Wochen wieder zusammenschalten und schauen werden, wohin wir mit den zusätzlichen Maßnahmen gekommen sind und was wir erreicht haben. Warum erst in knapp zwei Wochen? Wir brauchen - das wissen wir aus den Maßnahmen vom März, aber auch aus dem, was München jetzt zum Beispiel schon gemacht hat - immer ungefähr mindestens zehn Tage, bis wir sehen, ob wir auch wirklich ein Abfallen der Inzidenz beobachten können. Deshalb ist der Zeitpunkt, in zwei Wochen noch einmal wieder zu schauen, der richtige.

Wir alle spüren ja, dass die Großstädte, die Ballungsräume, jetzt der Schauplatz sind, an dem sich zeigt, ob wir die Pandemie in Deutschland so unter Kontrolle halten können, wie es uns ja monatelang gelungen ist, oder ob uns diese Kontrolle entgleitet. Genau an dem Punkt sind wir jetzt. Jetzt sind eben die Tage und Wochen, die darüber entscheiden, wie Deutschland im Winter in dieser Pandemie dastehen wird. Ich bin mir sehr bewusst, wie schwierig die politische Aufgabe gerade der Oberbürgermeister ist, ihre Städte gut durch diese Pandemie zu führen. Dort leben zum Teil Millionen von Menschen, oft eng an eng. Viele andere Menschen aus dem Umland zieht es dann noch zur Unterhaltung in ihrer Freizeit in diese Großstädte, weil dort selbst in Coronazeiten ja immer noch etwas los ist. Das alles ist im Sommer im Großen und Ganzen sehr gut gegangen, aber jetzt sehen wir ein anderes, und zwar besorgniserregenderes Bild.

Ich habe schon oft gesagt und wiederhole es heute noch einmal: Es muss unser Ziel sein, die Infektionszahlen in einem Bereich zu halten, in dem möglichst jede einzelne Infektion nachverfolgt werden kann, in dem Kontaktpersonen erreicht und gewarnt werden können und in dem es dann gelingt, Infektionsketten auch wieder zu durchbrechen. Unsere Gesundheitsämter leisten in diesem Zusammenhang Enormes und schaffen das - aber natürlich nicht, wenn die Infektionszahlen davonrennen.

Nun ist die Zunahme der Infektionen in manchen Städten so sprunghaft, dass dieser Punkt schon beinahe erreicht zu sein scheint. Wenn das einmal so ist, dann breitet sich das Virus unkontrolliert und unkontrollierbar aus. Was das für die Erkrankten, für das Gesundheitswesen und für das öffentliche Leben heißt, erleben leider gerade einige unserer europäischen Freunde in einer zweiten Pandemiewelle. Ich möchte, dass Deutschland auch in den nächsten Monaten so eine Entwicklung nicht durchmachen muss.

Wenn es eine gute Nachricht in diesen Tagen gibt, dann diese: Die Infektionszahlen steigen, ja, aber wir sind alles andere als ohnmächtig dagegen. Wir können etwas tun. Von Gütersloh bis München haben Städte schon bewiesen, dass konsequente Maßnahmen wirksam sind und die Infektionszahlen auch wieder abgesenkt werden können. Es ermutigt mich daher, dass so viele Städte in diesen Tagen Gegenmaßnahmen ergriffen haben. Wir haben heute ausführlich darüber gesprochen: Solche Maßnahmen zu beschließen ist richtig, aber noch nicht alles. Genauso wichtig ist es auch, diese Maßnahmen durchzusetzen, und zu kontrollieren, ob sie auch eingehalten werden.

Mir ist sehr wohl bewusst, dass die Einschränkungen, die jetzt nötig sind, weh tun. Die Sperrstunde, strenge Regeln für Alkoholverkauf: Wo so etwas verhängt wird, trifft es die Gastronomie hart, und die hat es in der Pandemie ohnehin schwer. Ich weiß, wenn es strenge Regeln für Hochzeiten und Familienfeiern geben muss - eine Höchstzahl von zehn Menschen, mit denen man zu Hause zusammenkommen kann -, dann greift das eine Zeit lang tief in unser Privatleben und unsere Freiheit ein.

Ich bin aber auch überzeugt, dass wir an einem Punkt stehen, an dem wir uns klar machen müssen, was uns für diesen Herbst und Winter das Wichtigste ist, und an dem wir Prioritäten setzen müssen. Meine oberste Priorität heißt, wenn irgend möglich, das wirtschaftliche und öffentliche Leben nicht wieder so herunterfahren zu müssen, wie es im Frühjahr notwendig war - und ich füge hinzu: damals auch wirkungsvoll war. Priorität hat für mich, dass unsere Wirtschaft sich bald wieder erholen kann und dass unsere Arbeitsplätze sicher sind und neue entstehen. Noch eins: Ganz oben stehen für mich auch die Kinder und Jugendlichen und ihre Bildung. Die Schulen müssen, wenn irgend möglich, diesmal offenbleiben können.

Deswegen zum Schluss mein Appell gerade auch an jüngere Menschen, die es vielleicht übertrieben finden, wie jetzt in den Städten in das Ausgehen und Feiern eingegriffen wird: Denken auch Sie einmal an das, was Ihnen am wichtigsten ist. Ist das nicht die Gesundheit Ihrer Familie, auch der Großeltern? Ist das nicht, auch in den nächsten Jahren gute Ausbildungs- und Arbeitschancen zu haben, die nun einmal an einer starken Wirtschaft hängen? Ist es dafür nicht wert, jetzt ein wenig geduldig zu sein und Einschränkungen beim Feiern zu ertragen, die ja immer zeitweilig und an das Ziel gebunden sind, die Infektionszahlen unter eine bestimmte Schwelle zu drücken?

Alles wird zurückkommen: Feiern, ausgehen, Spaß ohne Coronaregeln. Jetzt aber zählt etwas anderes: Achtsamkeit und Zusammenhalt, die einfachen Grundregeln von Abstand, Hygiene und Maskentragen, die App nutzen und - neu in der kalten Jahreszeit - die Räume lüften. Wir haben bewiesen, dass wir gegen das Virus zusammenhalten können, und das sollten wir auch weiter tun.

Ich danke Ihnen!

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich hätte ganz gern noch einmal zum Personal gefragt: Was genau hat der Bund jetzt den Großstädten angeboten, die ja darüber klagen, dass sie ganz viele offene Stellen und auch noch sehr hohe Infektionszahlen in den Kliniken haben? Können Sie uns das bitte genauer sagen: Ist das die Bundeswehr, oder wo helfen Sie?

BK’in Merkel: Die Bundeswehr hat noch Reserven und kann noch weiteres Personal entsenden.

Wir gehen dann in dem Papier - das werden Sie sehen - noch auf die Universitäten in den großen Städten ein. Wir werden mit der Hochschulrektorenkonferenz darüber sprechen, dass auch Medizinstudenten eingesetzt werden könnten, und wie wir sicherstellen, dass dadurch nicht gleich ein ganzes Semester in Gefahr gerät.

Wir werden - das ist heute im Gespräch noch einmal deutlich geworden; darauf konnten wir naturgemäß noch keine Antwort geben - auch noch einmal überlegen, ob wir in Bundesbehörden gegebenenfalls noch Menschen haben, die wir entbehren könnten. Das werden wir dann beim nächsten Mal mit den Oberbürgermeistern besprechen.

Aber eine ganz wichtige Botschaft heißt: Die Bundeswehr hat noch Möglichkeiten. - Das habe ich heute auch gesagt.

Frage: Angesichts des Geschehens in Europa und der dramatischen Aussicht, die Sie uns gerade beschrieben haben, wie nah sind Sie an Überlegungen erneuter Grenzschließungen?

BK’in Merkel: Nein, das wollen wir auch nicht, und werden das, wenn möglich, vermeiden. Wir haben ja gesehen, wie viele schwierige Situationen dadurch entstanden sind. Das hat heute auch gar keine Rolle gespielt.

Ich habe auch jetzt gesagt - das ist ja das Spannende -, wir können einen weiteren Anstieg mit vergleichsweise überschaubaren Maßnahmen verhindern. Das müssen wir jetzt tun. Dann kann man, glaube ich, auch sehen, dass das Wirkung zeigt.

Das sehen wir übrigens auch im benachbarten europäischen Ausland. Die französischen Städte zum Beispiel, die schon vor einiger Zeit Maßnahmen ergriffen haben - auch ähnliche Maßnahmen, wie wir sie jetzt in Deutschland diskutieren -, haben ihre Infektionszahlen stabilisieren können.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, im letzten Punkt, unter Punkt 8 Ihrer Erklärung, setzen Sie quasi eine Frist. Da sagen Sie nämlich: Wenn es nicht innerhalb von zehn Tagen zu einem Stillstand kommt, könnten weiterreichende Maßnahmen drohen. Was könnte man sich darunter vorstellen? Was wäre das eventuell?

Vielleicht noch eine zweite Frage, wenn Sie erlauben: Ihre Besprechung mit den Oberbürgermeistern hat doch länger gedauert als gedacht. Woran hat es gehakt?

BK’in Merkel: Es hat an nichts gehakt. Ich meine, wir waren eine Runde, die es so noch nie gegeben hat. Da hat jeder seine Meinung gesagt, seine Erfahrung ausgetauscht. Dann haben wir uns noch auf ein Papier geeinigt. Insofern waren das eigentlich zügige und sehr kameradschaftliche, wirklich gute Beratungen. Da hat es an nichts gehakt. Aber jeder hat auch seine Erkenntnisse deutlich gemacht und die Probleme beschrieben, die es gibt.

Zu Ihrer ersten Frage: Schauen Sie, wir haben jetzt mit den Ministerpräsidenten zum Beispiel Größenbeschränkungen für Gruppen festgelegt. Diese Gruppen kann man noch Kleiner fassen. Die Stadt München hatte zum Beispiel für eine ganze Zeit in Restaurants die Regelung, dass Tische nur mit fünf Leuten besetzt sein konnten, bevor dann der Abstand wiederkam. Jetzt wurde das, als man wieder unter 50 war, wieder etwas aufgelockert. Man kann überlegen, ob man bei Fußballspielen weniger Leute oder gar keine hereinlässt. Wir müssen jetzt einfach Erfahrungen mit den Maßnahmen sammeln.

Wir kennen aber auch ganze Reihe von Dingen, die nahezu null Infektionsgeschehen mit sich bringen, zum Beispiel Einkaufsflächen, auch wenn sie nicht Lebensmittelhandel sind. Das hat sich eigentlich nicht als sehr infektionskritisch herausgestellt.

Was wir sehr gut wissen und sehen, ist einfach, dass die Zahl der Kontakte unmittelbar mit der Zahl der Infizierten zusammenhängt, wenn man eine bestimmte Schwelle von Infektionen erreicht hat. Dann muss man sich überlegen: Wo fallen Verringerungen von Kontakten am leichtesten?

Die Prioritäten habe ich ja genannt, die mir wichtig sind: Das ist die Wirtschaft - da wird es Bereiche geben, die härter betroffen sind; da müssen wir dann natürlich gezielt unterstützen -, und das sind die Kinder und Jugendlichen im Blick auf Schule und Kita.

Im Übrigen möchte ich noch ganz herzlich dem Welternährungsprogramm zum Erhalt des Friedensnobelpreises gratulieren. Wenn es eine Organisation verdient hat, dann gehört diese mit Sicherheit dazu. Die Menschen dort leisten eine unglaubliche Arbeit und helfen anderen Menschen. Deshalb freut mich diese Vergabe des Friedensnobelpreises sehr.

Danke schön. Ich wünsche Ihnen ein frohes Wochenende!

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