Pressestatement von Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich des Todes von Bundesaußenminister a.D. Hans-Dietrich Genscher am 1. April 2016

Meine Damen und Herren!

Mit tiefer Trauer habe ich heute vom Tode Hans-Dietrich Genschers erfahren. Ich habe seiner Ehefrau Barbara Genscher mein tief empfundenes Beileid ausgesprochen; ihr und der Familie des Verstorbenen gilt meine Anteilnahme.

23 Jahre lang diente Hans-Dietrich Genscher der Bundesrepublik Deutschland als Minister, davon 18 Jahre lang als Minister des Auswärtigen. Er hat dieses Amt geprägt wie kein anderer.

Ich persönlich habe sein Wirken aus zwei Perspektiven miterleben können: zuerst mit den Hoffnungen einer DDR-Bürgerin, dann im Kabinett von Helmut Kohl als ‑ am Anfang konnte ich es fast gar nicht aussprechen ‑ Kollegin. Auch nach seinem Ausscheiden aus dem Amt haben wir uns bis in die letzte Zeit hinein immer wieder miteinander austauschen können.

Hans-Dietrich Genschers Lebenswerk galt zwei Zielen: dem europäischen Entspannungsprozess und der deutschen Wiedervereinigung. Dafür wirkte er maßgeblich an der Erarbeitung der KSZE-Schlussakte von Helsinki mit, die den Rufen nach Menschenrechten und Freizügigkeit damals eine unüberhörbare Stimme gab und mir, wie Millionen von Menschen in der DDR und in Osteuropa, Hoffnung auf Veränderung.

Als gebürtiger Hallenser hat Hans-Dietrich Genscher das Unrecht der deutschen Teilung nie hingenommen. Er war seiner Heimatstadt vor und nach der friedlichen Revolution in der DDR immer verbunden gewesen.

Wenn wir an die Jahre damals erinnern, an diese große Härte der deutschen Teilung, auch an die vielen, die an die Wiedervereinigung nicht mehr geglaubt haben, dann zeigt sich die ganze Tiefe der Heimatverbundenheit Hans-Dietrich Genschers. Er war fürwahr ein deutscher Patriot.

Als dann die historische Stunde schlug, trug er wahrhaft Großes zur Überwindung von Mauer und Unfreiheit bei. Ihm gebührt höchster Respekt dafür, dass er sich an der Seite von Bundeskanzler Helmut Kohl über alle Zögerlichen und Bedenklichen hinwegsetzte, als die Aussicht bestand, die Teilung Deutschlands zu überwinden.

Nie werde ich den Moment vergessen, als Hans-Dietrich Genscher 1989 vom Balkon des Palais Lobkowitz den in der Botschaft in Prag ausharrenden DDR-Flüchtlingen die Nachricht von ihrer Ausreisemöglichkeit in die Bundesrepublik überbrachte und seinen Satz unter dem Jubel der Menschen nicht vollenden konnte. Dieser einzigartige Höhepunkt seiner politischen Laufbahn wird für immer mit der gelungenen Wiedervereinigung Deutschlands verbunden sein.

Nach dem Fall der Mauer kam Hans-Dietrich Genscher eine Schlüsselrolle dabei zu, die Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit und im Einklang mit all unseren Partnern und Verbündeten international zu verankern. Der Zwei-plus-Vier-Vertrag, der die äußeren Aspekte der deutschen Einheit besiegelte, ist sein bleibendes Werk und die Krönung seiner politischen Laufbahn.

Die Maxime seines Handels fasste Hans-Dietrich Genscher einmal mit dem folgenden Satz zusammen: "Wenn ich ein Ziel nicht direkt erreichen kann, muss ich das Umfeld so verändern, dass das Ziel erreichbar wird."

In diesem Sinne definierte Hans-Dietrich Genscher einen wichtigen Wesenszug in der deutschen Außenpolitik völlig neu. Das war die Häufigkeit und die Intensität bilateraler und multilateraler Treffen und unmittelbarer Begegnungen der Handelnden. Hans-Dietrich Genscher lebte Politik in dem Verständnis, dass es einen gewaltigen Unterschied macht, ob man mit den europäischen und globalen Gesprächspartnern telefoniert oder Briefe austauscht oder sich eben persönlich mit ihnen trifft. Das Ergebnis war Vertrauen – Vertrauen in den Menschen und Außenminister Genscher, wie auch Vertrauen in sein Land, in Deutschland.

Ich verneige mich in Hochachtung vor der Lebensleistung dieses großen liberalen Patrioten und Europäers. Persönlich bin ich dankbar für all die Gespräche und Begegnungen, bei denen ich von seiner Welterfahrung und Lebensweisheit schöpfen durfte.

Wir trauern um einen großen Deutschen und überzeugten Europäer.

Ich danke Ihnen.