Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und Ministerpräsident Draghi zum Besuch der Bundeskanzlerin in der Italienischen Republik am 7. Oktober 2021

(Die Protokollierung des fremdsprachlichen Teils erfolgte anhand der Simultandolmetschung)

MP Draghi: Einen schönen guten Tag Ihnen allen!

Ich möchte Kanzlerin Merkel zunächst einmal meinen herzlichen Dank für ihren Rom-Besuch aussprechen. Es handelt sich höchstwahrscheinlich um ihren letzten bilateralen Besuch in Italien, und daher möchte ich diese Gelegenheit wahrnehmen, um mich bei ihr im Namen der Regierung und auch persönlich zu bedanken für die ausschlaggebende Rolle, die sie hatte, als es darum ging, die Zukunft Europas in den letzten 16 Jahren zu gestalten.

Seit 2005 hat Europa es mit der großen Rezession, mit der Eurokrise und mit der COVID-19-bedingten Pandemie zu tun gehabt. Die Kanzlerin war in der Lage, Deutschland und die Europäische Union mit Ruhe, Entschlossenheit und echten Europagedanken zu führen. In den Jahren, die ich an der Spitze der Europäischen Zentralbank verbracht habe, hat die Kanzlerin mit großem Nachdruck die Unabhängigkeit der EZB verteidigt - „that was no small feat“ -, und zwar auch, als wir aufgrund unserer Expansionspolitiken angegriffen wurden - die notwendig waren, um der europäischen Einheitswährung den Rücken zu stärken und um die Gefahren der Deflation abzuwehren - und man Kritik an uns geübt hat, als wir den Aufschwung förderten.

Ich bin der Bundeskanzlerin ganz persönlich dankbar für den regelmäßigen Austausch, zu dem es in diesen schwierigen Jahren zwischen uns beiden gekommen ist. In der akutesten Phase der Pandemie in Italien hat Deutschland unter der Leitung Merkels für eine direkte Versorgung von Dutzenden von italienischen Patienten gesorgt und hat sie in deutsche Krankenhäuser transportiert. Das war etwas, was uns wirklich sehr bewegt hat.

Die Kanzlerin hat auch eine entscheidende Rolle bei der Schaffung des Next-Generation-EU-Programms gespielt - ein greifbares Zeichen der Solidarität der Europäischen Union den Ländern gegenüber, die am meisten von der Pandemie betroffen waren. Das hat in dieser außergewöhnlichen Situation geholfen, das Wirtschaftswachstum Italiens auf gerechte und nachhaltige Art und Weise zu fördern.

Merkel war eine Koryphäe des Multilateralismus, als andere Länder sich für Protektionismus und Isolationismus entschieden. Sie hatte den Mut, die Werte der Demokratie zu verteidigen, als es die Krise in Syrien und in der Ukraine gab. Sie war auch ein Beispiel für viele junge Mädchen und Frauen, die ein Interesse an der Politik hatten. Sie hat die Rolle Deutschlands in Europa völlig verändert. Sie werden uns fehlen, Frau Kanzlerin, aber ich bin mir sicher, dass wir Sie noch oft in Italien sehen werden - vielleicht in einer entspannten Atmosphäre -, da Sie ja eine Liebe für unser Land an den Tag gelegt haben.

Heute haben wir über die wesentlichen Themen der europäischen Agenda gesprochen und sind übereingekommen, dass Italien und Deutschland ihre Positionen bezüglich des Umwelt- und Energiedossiers koordinieren - auch mit Blick auf die Auswirkungen, die diese Politiken auf unsere Unternehmen haben werden.

Wir haben auch über die Afghanistan-Krise gesprochen und sind uns einig gewesen, dass wir auf humanitäre Art und Weise die afghanische Bevölkerung unterstützen müssen, gleichzeitig aber auch mit Nachdruck die Verteidigung der Menschenrechte und der Grundfreiheiten in den Vordergrund stellen müssen.

Beim G20-Treffen nächste Woche werden wir über all diese Themen diskutieren, und ich bedanke mich ganz herzlich bei der Kanzlerin, auch was zum Beispiel die Bekämpfung des Terrorismus betrifft.

Ich habe jetzt schon zu lange gesprochen und erteile nun das Wort an die Frau Bundeskanzlerin. Bitte sehr!

BK’in Merkel: Danke schön, Herr Ministerpräsident, lieber Mario Draghi. Ich freue mich, dass ich heute wahrscheinlich zu meinem letzten bilateralen Besuch hier in Italien sein kann. Ich habe dich am 21. Juni in Berlin empfangen. Das war dein Antrittsbesuch, insofern war die Überlappung unserer Amtszeiten in dieser Funktion leider nicht mehr so groß. Ich darf aber sagen, dass sich in den wenigen Monaten unserer Zusammenarbeit schon ein sehr enges Kooperationsverhältnis herausgebildet hat und dass wir auch schon einiges gemeinsam angeschoben haben. Du hast auf die Zeit verwiesen, in der du der Präsident der Europäischen Zentralbank und ein wesentlicher und entscheidender Hüter des Euro warst. Ich glaube, dass dieser Euro auch sinnbildlich ist für die europäische Einigung und deshalb alles getan werden musste, um ihn zu kräftigen und weiterzuentwickeln. Auch auf diesem Gebiet ist ja noch einiges in Europa zu tun.

Wir haben eben begonnen mit der italienischen G20-Präsidentschaft und den verschiedenen Initiativen. Ich begrüße sehr, dass Mario Draghi zu einem Afghanistan-Gipfel im Rahmen der G20 eingeladen hat, obwohl der reguläre G20-Gipfel ja erst etwas später stattfindet. Deutschland unterstützt auch die gesamte italienische Agenda bei den G20-Fragen, die jetzt ja durch das gesamte Portfolio der Coronapandemie und COVID noch einmal wichtiger geworden sind - siehe zum Beispiel die Versorgung der Welt mit Impfstoffen. Auch hier haben wir eine sehr, sehr enge und gute Zusammenarbeit.

Mit Blick auf Afghanistan haben wir die gleiche Haltung. Wir müssen schauen, dass Afghanistan nicht wieder ein Herd von terroristischen Aktivitäten für die Welt wird; denn das war ja der Ausgangspunkt, wenn wir an den 11. September 2001 denken. Zum Zweiten müssen wir eine humanitäre Katastrophe in Afghanistan verhindern. In beiden Themen stimmen wir auch sehr eng überein.

Wir sind der Meinung, dass wir Wege aus der Krise finden müssen, die nach Corona mit Blick auf unsere Haushalte und auf die Investitionen, die wir tätigen müssen, besteht.

Es gibt natürlich auch eine sehr enge gemeinschaftliche Arbeit mit Blick auf die Transformationen, die wir im Zusammenhang mit dem Klimaschutz machen müssen. Wir haben uns eben darüber unterhalten: Europa ist nicht mehr per se der in der Innovation an der Spitze der Welt liegende Kontinent, sondern Europa muss zum Teil aufholen - ich denke da an die Chipproduktion, an die Batteriezellproduktion und an das Thema künstliche Intelligenz. Dem müssen wir uns verpflichtet fühlen, und dafür muss Europa auch vorbereitet werden.

Ich möchte auch noch unsere sehr enge Zusammenarbeit im Zusammenhang mit Libyen hervorheben. Italien ist ja seit Jahr und Tag sehr engagiert, um die libysche Krise zu überwinden. Diesbezüglich haben wir uns gerade auch in der letzten Zeit in vielfältigster Form sehr eng miteinander abgesprochen.

Ich will auch nicht zu lange reden und deshalb nur sagen: Danke für die Zeit der Zusammenarbeit! Wir werden das auch fortsetzen, bis ich dann durch einen neu gewählten deutschen Bundeskanzler ersetzt werde. Das wird diesmal sicherlich schneller gehen, als es bei der letzten Regierungsbildung der Fall war; davon bin ich ganz fest überzeugt.

Insofern freue ich mich aber auf diese Zusammenarbeit, die ja gegebenenfalls auch noch meine Anwesenheit auf dem G20-Gipfel in Rom beinhalten wird und die eventuell auch noch die Vorbereitung der COP26 in Glasgow beinhalten wird. Das ist ja dann eine Aufeinanderfolge von sehr wichtigen Ereignissen.

Meine Liebe zu Italien werde ich sicherlich in ganz anderer Form noch leben können - so hoffe ich zumindest -, wenn ich nicht mehr Bundeskanzlerin bin. Aber nur ein Tag des Aufenthalts in Rom sagt mir schon, dass man hier eigentlich mehr als ein Leben verbringen müsste, um alles zu erfassen, was hier an Weltgeschichte zu besichtigen ist. Insofern werde ich sicherlich nach Italien zurückkehren, wenn auch in anderer Art und Weise.

Frage: Sie haben mehrfach gesagt, dass „Next Generation EU“, mit dem die Kommission zum ersten Mal gemeinsame Schulden erlaubt, „una tantum“ sei, also einmalig - das ist Ihr Wort -, und zwar aufgrund der Notwendigkeiten im Zusammenhang mit der Pandemie. Ihr Finanzminister und Vizekanzler, der Ihr Nachfolger sein könnte, sagte hingegen, dass die Annahme von „Next Generation EU“ ein Hamilton-Moment sei. Damit meint er, das sei der Beginn einer neuen Ära von finanzieller Solidarität. Wie würden Sie die Differenz seiner Position und Ihrer Position hinsichtlich „Next Generation EU“ definieren, wenn es sie überhaupt gibt? Glauben Sie, dass die Europäische Union eine Transferunion werden soll?

Dann möchte ich noch etwas hinzufügen. Wenn wir auf diese 16 Jahre zurückblicken, gibt es etwas, das Sie in der europäischen Politik anders machen würden, als Sie es getan haben?

Herr Ministerpräsident, glauben Sie, dass „Next Generation EU“ ein Modell für die Zukunft der europäischen Integration ist, auch hinsichtlich der verschiedenen Stimmen, die laut werden?

Was wird Europa fehlen, wenn Frau Merkel nicht mehr Kanzlerin sein wird?

Schließlich, Frau Bundeskanzlerin, möchte ich Ihnen eine Kopie des Buchs schenken, das ich über Sie und Ihre Amtszeit geschrieben habe.

BK’in Merkel: Zwischen meinen Aussagen über den Recovery Fund und der von Olaf Scholz mit Blick auf den Hamilton-Moment gibt es schon einen deutlichen Unterschied. Auf die Frage, wann der Hamilton-Moment in Europa in Kraft treten soll, ist die Antwort noch nicht gegeben. Ich bin ja aber auch nicht die Sprecherin von Olaf Scholz. Er wird Gelegenheit haben, sich in der neuen Koalitionsvereinbarung - vielleicht, wenn die Verhandlungen zum Erfolg führen - dazu zu äußern.

Ich glaube, dass das, was man gemeinhin als Transferunion beschreibt, nicht gut für Europa wäre, weil wir ja in gewisser Weise Transfers haben. Wir haben Kohäsionsfonds, wir haben Strukturfonds. Aber es muss aus meiner Sicht immer eine Konditionalität geben. Einfach Finanzen zu vergemeinschaften und die Sozialsysteme zum Beispiel in jedem einzelnen Mitgliedstaat selbst zu bestimmen, wird nicht gehen, sondern die Verantwortlichkeiten, die an Europa übertragen worden sind, müssen dann auch finanziert sein, und die Verantwortlichkeiten, die in den Mitgliedstaaten bleiben, müssen von dort aus finanziert werden. Wir haben unterschiedliche Steuersysteme, wir haben unterschiedliche Sozialsysteme.

Aber wir brauchen - das haben wir ja in der Eurokrise gesehen - mehr Mechanismen der Solidarität, die dann ja durchaus Konditionalitäten enthalten. Hier ist die Bankenunion noch nicht vollendet. Da bin ich zum Beispiel der Meinung, dass man noch einiges tun sollte. Wir haben den ESM solidarischer ausgebaut, und wir haben auch gezeigt, dass wir in Zeiten außergewöhnlicher Ereignisse handlungsfähig sind. Wenn das alles in der Europäischen Union für die nächsten Jahre weiter so geregelt wird, dann ist das aus meiner Sicht richtig.

Was würde ich anders machen? – Ich kann für mich sagen, dass ich in 16 Jahren immer nach bestem Wissen und Gewissen gehandelt habe. Ich glaube, dass wir jetzt in eine neue Phase kommen, in der immer deutlicher werden wird, dass die Wettbewerbsfähigkeit Europas mit Blick auf Innovationen noch nicht ausreichend ist. Deshalb brauchen wir aus meiner Sicht, und dafür müssen die Mechanismen gefunden werden, mehr Global Player, also große Unternehmen, die sich auf dem Weltmarkt beweisen können. Wir brauchen im Zweifelsfall mehr Sicherheit in Forschung, Entwicklung und Innovation, wenn ich einmal an die Chipproduktion oder anderes denke. Das wird sicherlich in den nächsten Jahren auch angesichts der amerikanischen Konjunkturprogramme eine größere Rolle spielen.

MP Draghi: Was „Next Generation EU“ angeht, so ist es eine außergewöhnliche Chance für Italien, für das Wachstum und auch, um dieses Vakuum auszufüllen, das sich bei den Infrastrukturen, bei der Forschung und bei der Bildung sowie in vielen anderen Bereichen zeigt. Jetzt haben wir diese außergewöhnliche Möglichkeit, und wir sind die, die den größten Anteil dieses Programms bekommen haben, 191 Milliarden Euro.

Das bedeutet, dass wir auch die sind, die die größte Verantwortung tragen, wenn es darum geht, dieses Geld gut auszugeben, also so, dass all das, was wir ausgeben, zum Wachstum beitragen muss, das wir erreichen wollen, ein nachhaltiges und starkes Wachstum. Außerdem müssen wir es mit Ehrlichkeit ausgeben. Das heißt, wir haben die Verantwortung auch gegenüber den europäischen Bürgern, die nämlich Steuern zahlen, dieses Programm zu finanzieren. Das ist also eine Verantwortung, die wir immer berücksichtigen müssen, wenn wir das Programm durchführen. Das bedeutet also Effizienz und Ehrlichkeit.

Wenn das, wie ich hoffe, auch zum Erfolg für die italienische Wirtschaft und die italienische Gesellschaft führen wird, dann werden wir wesentlich stärker wachsen können. Wir werden auch viel glaubhafter sein. Dann können wir vielleicht überlegen, ob derartige Anstrengungen vielleicht nicht einmalig sind. Es ist immer wieder das gleiche: Die Solidarität geht mit Verantwortung einher.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, mit dem Ende Ihrer Amtszeit geht eine gewichtige Stimme von der europäischen Bühne. Wie meinen Sie, dass Italien diese Chance, diesen Freiraum nutzen könnte und sollte, wenn Sie als Stimme nicht mehr da sind, vor allen Dingen mit Blick auf die gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik und auch bei der Frage der Migration?

Die gleiche Frage richtet sich an Premierminister Draghi: Wie will Italien nach Frau Merkel in der Außen- und Sicherheitspolitik und bei Fragen der Migrationspolitik in Europa Akzente setzen?

BK’in Merkel: Na ja, ich sehe das etwas anders. Italien wird sicherlich nicht Deutschland vertreten, sondern Italien wird Italien vertreten, und Deutschland wird weiter Deutschland vertreten. Mein Nachfolger wird also auch eine wichtige Stimme für Deutschland sein und Deutschland repräsentieren. Wir sind eine große Volkswirtschaft - die größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union -, und von unserer Stimme hängt auch ein bisschen etwas ab.

Aber das ist doch etwas ganz anderes als die Frage, wie Italien repräsentiert wird. Dabei ist es so wichtig, dass der jeweilige italienische Ministerpräsident - jetzt stehe ich hier mit Mario Draghi - diese Stimme Italiens sehr intensiv erhebt. Mario Draghi hat zum Beispiel eben seine Pläne für die Umsetzung des Recovery Fund dargelegt. Deshalb haben wir auch Vertrauen, dass Italien dieses Geld jetzt in sehr guter Weise ausgibt, um für das Land und die Menschen im Land etwas zu erreichen.

Ähnliches gilt in der Außen- und Sicherheitspolitik. Ich habe nicht von ungefähr Italien und auch Mario Draghi als Ministerpräsidenten erwähnt, wenn es um Libyen geht. Hier können wir als Deutsche sehr, sehr viel von Italien lernen, weil Italien eine sehr tiefe Kenntnis von Libyen hat und weil es auch bereit ist, hier Verantwortung zu übernehmen. Trotzdem können wir gut kooperieren. Ich wünsche mir ein Europa, das möglichst viele starke Repräsentanten seiner jeweiligen Mitgliedstaaten hat. Das gilt für Italien auf jeden Fall.

MP Draghi: Ich bin einverstanden mit der Kanzlerin. Italien bleibt Italien. Es kann natürlich nicht Europa vertreten oder alleine die Führung übernehmen. All diese Dinge habe ich in den letzten Tagen gelesen.

Es ist wirklich wichtig, dass wir in der Europäischen Union zusammenarbeiten und dass diese Zusammenarbeit stärker wird. Jede Figur des Schachspiels auf Weltebene verdeutlicht die Notwendigkeit, auf europäischer Ebene mehr zusammenzuarbeiten, um die Herausforderungen bewältigen zu können, die die einzelnen Länder nicht bewältigen können.

Was Libyen angeht, ist die Herausforderung, die Abhaltung der Wahlen zu gewährleisten, dass wir den Waffenstillstand durchsetzen können und die ausländischen Truppen abziehen. Diese Ziele kann man nicht alleine erreichen. Das gelingt nur gemeinsam.

Das Gleiche gilt auch für die Ziele, die im Rahmen von G20 in Bezug auf Afghanistan vereinbart werden. Hier geht es darum, dass wir auf die humanitäre Krise eine Antwort finden können, denn darum geht es in Afghanistan. Das ist ein Ziel, das wir nur gemeinsam erreichen können. Das bedeutet wieder an erster Stelle Koordinierung, Konsultationen und eine enge Zusammenarbeit zwischen den europäischen Ländern. Was wir in den letzten Monaten gelernt haben, ist, dass sich das geopolitische Interesse von den internationalen Institutionen verlagert und auf andere Teile der Welt übergeht. Von daher müssen wir, wie die Kanzlerin schon vor ein paar Jahren zu Präsident Trump sagte, unser Schicksal in unsere Hand nehmen.

BK’in Merkel: Grazie.

MP Draghi: Grazie.