Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel und der designierten Präsidentin der Europäischen Kommission von der Leyen am 08. November 2019

BK'in Merkel: Meine Damen und Herren, ich begrüße Sie, aber ich begrüße vor allen Dingen die Präsidentin der Europäischen Kommission „elect“, wie man so schön sagt. Es ist eine ganz ungewohnte Konstellation: Wir haben viele Jahre zusammengearbeitet, aber jetzt ist sie eben auch für Deutschland die zukünftige Kommissionspräsidentin.

Ich möchte erst einmal alles Gute wünschen, vor allem auch für die ausstehenden drei Wahlen der Kommissare, damit der Arbeitsantritt zum 1. Dezember dann auch wirklich stattfinden kann; denn die Agenda, die sich die Kommission vorgenommen hat, ist voll, und die Zeit drängt. Davon waren auch unsere Gespräche geprägt. Sie waren natürlich davon geprägt, dass wir unterstützend sind, was die grundsätzlichen Vorhaben der Kommission anbelangt, insbesondere die Themen Klima, Digitalisierung, aber auch Wettbewerbsfähigkeit und Zukunftsgewandtheit. Die Aufgabenpalette, die in diesem Zusammenhang zu lösen ist, ist groß. Deutschland wird im zweiten Halbjahr des nächsten Jahres ja die EU-Ratspräsidentschaft innehaben, und deshalb liegt uns natürlich sehr daran, in engem Kontakt mit der neuen Kommission zu sein und die Dinge dann auch wirklich gut vorzubereiten.

Ich glaube, es ist eine große Chance für die neue Kommission, die von Ursula von der Leyen, aber auch den Mitgliedstaaten zusammengestellt wurde. Die Neuordnung der Zuschnitte der Ressorts und die Arbeitsgruppierungen, also die Arbeitscluster, geben, glaube ich, auch das richtige Format vor, um bestimmte Dinge schnell voranzutreiben. Wir haben hier sehr ausführlich über die Digitalisierung gesprochen, aber natürlich ist auch das Thema Klimaschutz von großer Bedeutung. Hierbei haben wir über die deutschen Herangehensweisen gesprochen, aber natürlich auch über die Herangehensweisen, die dann von der europäischen Seite kommen werden. 100 Tage, der „Green Deal“, ein erster Aufschlag – das wird dann natürlich mit Spannung erwartet werden, und wir werden das konstruktiv begleiten.

Wir haben dann noch über die Nachbarschaftspolitik und auch über die Beitrittsperspektive der Staaten des westlichen Balkans gesprochen. Ich habe noch einmal gesagt, dass ich es aus strategischen europäischen Interessen für extrem wichtig halte, dass diese Länder die Hoffnung auf die Beitrittsperspektive nicht verlieren. Das hat ganz eng mit einem weiteren Thema zu tun. Das ist das Thema der Migration, mit dem natürlich noch einmal ein großer Brocken auf die neue Kommission wartet und hinsichtlich der wir die neuen Vorschläge dann auch, wie ich denke, positiv unterstützen werden.

Die große Aufgabe, die noch über allem schwebt, damit wir überhaupt arbeitsfähig werden, ist die mittelfristige finanzielle Vorausschau. Da hoffen wir, dass die neue Kommission mit der anstehenden Präsidentschaft Kroatiens so gut vorankommen wird, dass Deutschland dann nichts mehr damit zu tun haben wird. Das wäre für Europa am besten, und das wäre dann auch für die Programme, die wir ja für die Zeit nach 2021 oder ab 2021 auflegen müssen, von großer Bedeutung.

Ich wünsche Ursula von der Leyen alles Gute. Deutschland weiß, dass es uns in Deutschland nur gut geht, wenn es Europa gut geht. In diesem Geiste werden wir die Zusammenarbeit pflegen.

von der Leyen: Vielen Dank, Frau Bundeskanzlerin, liebe Angela! Es ist schön, wieder hier zu sein, und ich danke für das sehr gute Gespräch, das wir geführt haben, insbesondere natürlich über die Politik, die ich mir für die nächsten fünf Jahre in der gemeinsamen Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Kommission vorstelle.

In der Tat, wenn ich einige der Themen streifen darf, war einer der Hauptpunkte, über den wir gesprochen haben, das Thema „European Green Deal“, also unsere Verantwortung dafür, als Kontinent auch dazu beizutragen, klimaschonend, ressourcensparsam und doch innovativ auf diesem Gebiet voranzugehen. Ich bin der festen Überzeugung, dass der Europäischen Union hierbei eine ganz große Rolle zukommt; denn wenn wir es als Europäer gut machen, dann ist das nicht nur gut und wichtig für unseren Planeten, sondern dann können wir auch zeigen, wie man kraftvoll in grüne Technologien investiert, dass es sinnvoll ist, grüne Finanzierungsmodelle nach vorne zu bringen, und dass es gelingen kann, den Übergang von kohleintensiven und CO2-intensiven Regionen bzw. Industrien in ressourcensparsames Arbeiten, Produzieren oder Leben sozial abzufedern. Wenn wir das als Europäer zeigen, dann ist das nicht nur gut für den Planeten, sondern es bringt uns auch als Europäer in eine Vorreiterrolle. Wir sind dann die Exporteure des Wissens für viele andere, die uns folgen werden. Allein die Tatsache, über die wir auch gesprochen haben, dass China jetzt anfängt, das ETS ebenfalls einzuführen, und nach Europa schaut, um von uns zu lernen, was wir richtig gemacht haben und welche Fehler man vermeiden sollte, zeigt, dass dies ein Gebiet ist, auf dem eine ganz große Chance für die Europäische Union liegt.

Das zweite Thema ist in der Tat die Digitalisierung. Hier sind die Herausforderungen für uns groß. Wir haben gemeinsam besprochen, dass es klug und richtig ist, auf der politischen Ebene der Europäischen Kommission und der Mitgliedstaaten gemeinsam ein Zielbild dafür zu entwickeln, welches die Hauptfelder sind, in denen wir jetzt kraftvoll vorangehen wollen. Stichworte sind hier Datensouveränität   was braucht es, um das zu erreichen?  , Infrastruktur, 5G oder die nächste Generation einer europäischen Cloud, aber auch Regulierung   zum Beispiel ein ethischer Rahmen für künstliche Intelligenz. All das sind nur Ausschnitte für das, was wir gemeinsam als Europäer entwickeln sollten. Hier sind wir nicht Trendsetter, wir sind nicht die Vorreiter, aber es ist ein Stadium, in dem wir unsere Stärken auch durchaus zeigen können. Gerade im Bereich Business-to-Business sind wir stark. Es gibt andere Felder, auf denen wir nicht so stark sind und auf denen es sich unbedingt lohnt, jetzt auch die Kräfte zu bündeln, um eine eigene europäische Position zu entwickeln.

Auch über das Thema Migration haben wir gesprochen. Ich finde, dass Europa hier in den letzten fünf Jahren gemeinsam vieles gelernt hat. Unser Ziel muss es sein, vorbildlich zu sein und ein Vorbild auch auf dieser Welt zu sein, wenn es darum geht, wie man Migration nachhaltig, mit humanem Ansatz, aber auch effektiv steuern kann. Ich bin der festen Überzeugung: Das kann die Europäische Union leisten. Hier haben wir über Möglichkeiten gesprochen. Mein Ziel ist, dass wir als Europäische Kommission in enger Konsultation mit den Mitgliedsländern im ersten bis zweiten Quartal des nächsten Jahres einen neuen Vorschlag für einen Migrationspakt vorlegen. Wichtig ist, dass wir auf europäischer Ebene aus dem Stillstand herauskommen und wieder in eine Vorwärtsbewegung kommen.

Ich bin sehr dankbar über die Haltung Deutschlands, was das Thema Erweiterung angeht. Ich teile das vollständig. Ich bin der festen Überzeugung, dass es für uns von großer strategischer Bedeutung ist, den Westbalkan so nah wie irgend möglich an die Europäische Union zu binden. Solange es nicht möglich ist, tatsächlich die Beitrittsgespräche zu eröffnen   Albanien und Nordmazedonien haben unglaubliche Anstrengungen unternommen, um an diesen Punkt zu kommen, den wir von ihnen verlangt haben  , werde ich alle Kraft daransetzen, gemeinsame Projekte zu entwickeln, die die Westbalkanländer auch über den Weg der engen Zusammenarbeit mit ihnen immer stärker an uns binden; denn wenn wir das nicht tun, werden andere in das Vakuum stoßen, und das wollen wir nicht.

Wir haben noch weitere Themen, auf die ich jetzt nicht im Detail eingehe. Das große Thema des mittelfristigen Finanzrahmens steht am Anfang und wird noch viel Arbeit kosten.

Ich danke vor allen Dingen für die ganz, ganz enge und vertrauensvolle Zusammenarbeit, ich danke für viele Gespräche und vielen guten Rat. Ich freue mich auf die Zeit, die wir auf der europäischen Ebene zusammen verbringen werden, und fand es auch einfach schön, wieder hier zu sein.

Frage: Frau von der Leyen, eine Frage zu Boris Johnson: Sie hatten ihn ja darum gebeten, Ihnen einen Kandidaten oder möglichst eine Kandidatin vorzuschlagen. Haben Sie schon irgendetwas aus London dazu gehört? Falls das nicht der Fall sein sollte: Könnten Sie auch damit leben, wenn der derzeitige britische Kommissar erst einmal einfach weitermachen würde? Herr Johnson befindet sich momentan ja auch in einer etwas seltsamen Lage.

Frau Bundeskanzlerin, der US-Außenminister hat heute ja sehr scharfe Kritik an China und Russland geübt und gerade mit Blick auf China ähnliche autoritäre Tendenzen ausgemacht wie in der früheren DDR. Er hat in diesem Zusammenhang auch ausdrücklich noch einmal vor der Beteiligung von Huawei am Aufbau des 5G-Netzes gewarnt. Teilen Sie diese Einschätzung? Würden Sie Ihre Einschätzung zu Huawei möglicherweise noch einmal überdenken, oder ist das letzte Wort für Sie da gesprochen?

von der Leyen: Jedes Mitgliedsland hat das Recht und die Pflicht, einen Vorschlag für einen Kommissar oder eine Kommissarin zu machen. Deshalb habe ich am Dienstag einen Brief an Boris Johnson mit der Bitte, einen Kommissar oder eine Kommissarin zu benennen, geschickt. Wen Großbritannien auswählt, ist ausschließlich Sache Großbritanniens. Das ist nicht meine Aufgabe. Selbstverständlich muss der Kandidat oder die Kandidatin dann mit einem entsprechenden Portfolio durch ein Hearing. Aber wir warten jetzt darauf, dass London darauf antwortet.

BK’in Merkel: Es ist ja bekannt, dass China und Russland andere politische Systeme haben und dass deshalb gerade auch zu Fragen von Menschenrechten und anderen Fragen durchaus unterschiedliche Einschätzungen bestehen.

Was die Kooperation im Bereich des 5G-Ausbaus anbelangt, will ich vielleicht noch einmal darauf hinweisen, dass Huawei ja ein Anbieter ist, der beim 2G- und 3G-Ausbau bereits in Deutschland tätig ist. Wir wissen, dass wir für den 5G-Ausbau die Sicherheitsanforderungen noch einmal deutlich verschärfen müssen. Wir haben im Übrigen auch darüber gesprochen, dass es wünschenswert wäre, hierbei eine einheitliche europäische Herangehensweise zu haben. Unser Ansatz heißt: Für uns sind die Anforderungen und die Überprüfbarkeit wichtig. Wir machen aber keine Richtlinien für einzelne Anbieter. Dann muss sich der Anbieter den Richtlinien entsprechend verhalten.

Aber klar ist: Das IT-Sicherheitsgesetz und alle Sicherheitsanforderungen werden im Zusammenhang mit 5G deutlich verschärft.

von der Leyen: Die Kommission befindet sich gerade in dem Prozess, in den unterschiedlichen Mitgliedsländern den Status quo mit Blick auf 5G und vor allen Dingen eine Risikoeinschätzung abzufragen. Das heißt, wir werden in wenigen Wochen ein gemeinsames Bild über das, was in Europa im Augenblick der Status quo ist, haben und dann gemeinsam eine Strategie entwickeln, wie wir mit Chancen und Risiken gemeinsam umgehen.

Frage: Frau von der Leyen, ich möchte Sie noch einmal nach den Finanzverhandlungen fragen, die bevorstehen. Sie beide haben sie jetzt erwähnt, aber nicht die Differenzen, die es dabei gibt. Die Bundeskanzlerin hat auf dem jüngsten EU-Gipfel die deutsche Position noch einmal klargemacht: ein Prozent der Wirtschaftsleistung.   Die bisherige EU-Kommission verlangt sehr viel mehr Geld.

Was ist Ihre Position? Sehen Sie einen großen Konflikt mit Deutschland auf Sie als Kommissionspräsidentin zukommen?

Vielleicht können Sie noch sagen, ob die Planungen der deutschen Ratspräsidentschaft mit ihren Planungen synchron laufen, etwa was eine Einführung einer Digitalsteuer, eine Änderung des Wettbewerbsrechtes oder eine neue Chinapolitik angeht.

Frau Bundeskanzlerin, können Sie aus aktuellem Anlass vielleicht sagen, ob Sie mit Blick auf Sonntag im Koalitionsausschuss mit einer Einigung zur Grundrente rechnen?

BK'in Merkel: Dazu kann ich nur sagen, dass wir zusammenkommen. Ich kann das Ergebnis nicht vorwegnehmen. Es kann sein, dass wir zu einer Einigung kommen. Es kann aber auch sein, dass wir noch ein weiteres Treffen brauchen, zumal wir Sonntag zum Teil auch zeitlich begrenzt sind.

Das heißt: Der gute Wille ist da. Wir sind auch, wie ich finde, auf einem ganz guten Weg. Aber es sind noch schwierige Gespräche. Deshalb sage ich im Sinne dessen, was man erwarten kann: Wenn es noch ein weiteres Treffen geben würde, wäre das kein großes Unglück. Aber irgendwann möchten wir auch fertig werden. Vielleicht werden wir ja Sonntag fertig.

von der Leyen: Was das Thema des mittelfristigen Finanzrahmens angeht, ist noch gut Strecke zu machen. Es ist klar, dass es insbesondere zwei Positionen im Rat gibt, nämlich die derjenigen, die eher diejenigen sind, die einen etwas höheren Deckel haben möchten, und die derjenigen, die ihn niedriger begrenzen möchten.

Mir liegt vor allem daran, dass wir einen sehr wachsamen Blick auf die prozentuale Verteilung der Mittel werfen und dabei vor allem mit großer Sorgfalt das Modernisierungsthema finanziell gut ausstatten. Der Modernisierungsteil umfasst alles, was wir regelmäßig mit der europäischen Ebene assoziieren, von Innovation und Wissenschaft über das ganze Thema der Migration bis hin zum Thema der Verteidigung und zum Thema des Binnenmarkts. In diesem Modernisierungsteil sind also alle die Politiken, die für uns so wichtig sind, und er braucht eine angemessene Ausstattung.

Zur deutschen Ratspräsidentschaft: Ich freue mich darüber, dass viele gute innovative Vorschläge da sind. Das Wichtigste ist immer, eine Ratspräsidentschaft zu haben, die dynamisch ist und mit großer Kraft auf all den verschiedenen Feldern voranschreiten will. Ich kann nur sagen: Dabei ist Deutschland vorbildlich.