Pressekonferenz von Bundeskanzlerin Merkel nach der Videokonferenz des Europäischen Rates am 19.11.2020

BK’in Merkel: Guten Abend, meine Damen und Herren! Wir hatten heute unsere zweite Videokonferenz zum Austausch über die Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung. Ich hatte bei dem letzten Rat, bei dem wir uns physisch getroffen haben, diesen Austausch vorgeschlagen, und ich darf sagen, dass sich das Format schon jetzt bewährt hat.

Aber bevor ich dazu komme, will ich zuvor noch einen Schritt bekannt geben. Wir haben uns heute, bevor wir in das eigentliche Thema eingestiegen sind, auch noch einmal über die Situation verständigt, die im Zusammenhang mit der mittelfristigen finanziellen Vorausschau und dem Wiederaufbauplan sowie dem sogenannten Rechtsstaats- oder Konditionalitätsmechanismus besteht. Ich habe die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Rat darüber informiert, dass wir die Arbeiten mit dem Europäischen Parlament im Trilog abgeschlossen haben, sowohl, was den Finanzrahmen anbelangt, als auch, was den Konditionalitätsmechanismus anbelangt. Ich habe auch darüber informiert, dass hinsichtlich des Finanzrahmens Einverständnis aller Mitgliedstaaten besteht, allerdings nicht in Bezug auf das Thema des Konditionalitätsmechanismus.

Ungarn und Polen haben dann auch selbst noch einmal deutlich gemacht, dass sie diesem Konditionalitätsmechanismus zum jetzigen Zeitpunkt nicht zustimmen können. Das alleine ist noch kein Grund zur Sorge, sondern hierüber wird sowieso mit qualifizierter Mehrheit abgestimmt. Aber für fast alle Mitgliedstaaten ist das Ganze natürlich ein Paket aus mittelfristigem Finanzrahmen, dem Wiederaufbaufonds und dem Konditionalitätsmechanismus. Deshalb haben Ungarn und Polen hiermit auch ein Veto bezüglich der einstimmigen Entscheidung über den Recovery Fund, also den Wiederaufbaufonds, und die mittelfristige finanzielle Vorausschau eingelegt.

Das bedeutet, dass wir dem Europäischen Parlament die Unterlagen noch nicht zuschicken konnten, dass in der nächsten Woche dort keine Abstimmung stattfinden kann und dass wir mit Ungarn und Polen als Ratspräsidentschaft weiter darüber sprechen werden, was wir tun können, damit Zustimmung hierzu auch ermöglicht wird. Ich habe allerdings auch deutlich gemacht, dass ich glaube, dass wir mit dem Kompromiss, den wir mit dem Europäischen Parlament bezüglich des Konditionalitätsmechanismus ausgehandelt haben, einen sehr guten und ausgewogenen Kompromiss gefunden zu haben.

Der Ratspräsident Charles Michel hat dann aber auch noch einmal die Positionen der anderen Mitgliedstaaten zusammengefasst. Dagegen gab es dann auch keinen Widerspruch. Der slowenische Ministerpräsident Janez Janša hat noch einmal sehr an alle appelliert, daran zu arbeiten, einen Kompromiss zu finden, was natürlich auch im Interesse der deutschen Ratspräsidentschaft ist.

Im eigentlichen Teil unseres Rats haben wir uns dann mit den Coronafragen beschäftigt. Fast alle Mitgliedstaaten haben sehr hohe Inzidenzzahlen zu verzeichnen, und in sehr vielen Mitgliedstaaten gibt es auch einen Teil-Shutdown oder einen Shutdown; das variiert von Land zu Land. Insofern haben wir uns darüber unterhalten, welchen Punkt wir anstreben, an dem Maßnahmen dann wieder gelockert werden können, und auch über die Schwierigkeiten, die dann natürlich auf uns zukommen werden, wenn es darum gehen wird, die Inzidenz auf einem stabilen und nicht wieder in das exponentielle Wachstum abrutschenden Niveau zu halten. Das wird von uns noch viel Kraft verlangen. Deshalb ist es auch sehr sinnvoll, sich hierüber auszutauschen, und das haben wir uns auch gegenseitig zugesagt.

Das gilt ganz besonders bezüglich der Art von Maßnahmen, die über Weihnachten und den Jahreswechsel gelten. Hierüber haben die einzelnen Länder noch keine Vorstellung, aber es gibt eine hohe Bereitschaft, sich eben auch über diese Fragen miteinander abzustimmen.

Wir haben dann sehr ausführlich über die Fragen des Testens gesprochen. Die Kommissionspräsidentin hat ja eine Initiative ergriffen, die man so zusammenfassen kann, dass wir uns stärker in Richtung einer Gesundheitsunion bewegen. Damit wird die Kommission auch immer wieder weitere Serviceleistungen anbieten, wenn ich das so sagen darf. Zum Beispiel wird sie im Zusammenhang mit den Antigenschnelltests eine Bewertung vorlegen, die es uns dann, wenn man die Qualität dieser Tests, die sehr unterschiedlich ist, kennt, ermöglicht, gegenseitig Testungen anzuerkennen, wenn es einen Reiseverkehr zwischen verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union gibt. Wir werden auch sauber darauf achten müssen, dass die Statistik, die wir führen, mit der Zunahme der Antigenschnelltests und auch ihrer dezentralen Verabreichung nicht aus den Fugen gerät. Bei uns ist die rechtliche Ordnung so, dass man ein positives Ergebnis eines Antigenschnelltests durch einen PCR-Test bestätigen lassen muss. Mit dem Ergebnis des PCR-Tests geht die Infektion in die Statistik ein. Wenn die Länder dies unterschiedlich handhaben, dann geraten natürlich auch die Statistiken etwas aus den Fugen.

In dem Zusammenhang ist auch über digitale Einreiseformulare gesprochen worden. Sie wissen, dass Deutschland bereits ein solches Formular für externe Einreisende hat. Die Kommission ist auch hier Dienstleister und wird jetzt ein Pilotprojekt starten, damit wir hierbei zu einem einheitlichen europäischen Vorgehen kommen.

Ein zweiter großer Punkt war das Thema des Impfens. Die Kommission hat darum gebeten, dass alle Länder ihre Impfpläne einreichen. Man muss ja sagen, dass die Nachrichten der letzten Tage bezüglich der Entwicklung eines Impfstoffes sehr zuversichtlich stimmen. Wir rechnen auch in Europa mit Zulassungen, die im Dezember oder sehr bald nach der Jahreswende erfolgen könnten. Dann wird das Impfen natürlich beginnen.

Der Kommission ist sehr dafür gedankt worden ‑ ich möchte das auch tun ‑, dass sie die Rahmenverträge für den Bezug von Impfstoffen mit einer ganzen Reihe von Herstellern verhandelt hat, unter anderem auch mit BioNTech. Auch die Verhandlungen mit Moderna laufen. Von allen Mitgliedsstaaten ist noch einmal Wert darauf gelegt worden, dass diese Impfstoffe natürlich allen zur gleichen Zeit zur Verfügung gestellt werden, und sei es auch in noch so kleinen Chargen. Das ist von der Kommission zugesagt worden.

Von vielen Staats- und Regierungschef wurde berichtet, dass es auch eine Reihe von Diskussionen über das Impfen und Vorbehalte dagegen gibt. Es wurde darum gebeten, dass die Kommission eine argumentative Aufklärungskampagne vorbereitet, um valide Informationen über die Impfstoffe geben zu können.

Auch die ethischen Grundlagen des Impfens werden in den verschiedenen Ländern diskutiert, so ja auch bei uns. In welcher Reihenfolge soll geimpft werden? Welche Gruppen erhalten die ersten Impfdosen? Das entwickelt sich eigentlich in allen Mitgliedsstaaten in die gleiche Richtung, sodass man sagt: Personal in den Krankenhäusern, dann die vulnerablen Gruppen. ‑ Das wird, denke ich, auch ein sehr ähnlicher europäischer Zugang sein.

Last, but not least wurde über die App gesprochen. Die App ist ein wichtiges Mittel in vielen Mitgliedsstaaten. Uns wurde bereits jetzt von der Kommission sozusagen ein Gateway zur Verfügung gestellt, worüber schon sieben Länder miteinander verbunden sind, also ihre Appinformationen austauschen können. Das soll sich bis zum Ende dieses und zum Anfang des nächsten Jahres noch vergrößern. Es ist also auch hier sehr hilfreich, dass wir ein EU-weites Herangehen haben. Deshalb kann man sich dafür bei der Kommission auch nur bedanken.

Das waren heute im Großen und Ganzen unsere Diskussionen. Es war also sehr interessant und durchaus hilfreich. Alle stehen unter einem sehr großen Druck. Das Virus breitet sich nicht länderspezifisch aus, sondern sehr allgemein. Viele haben darüber berichtet, dass es für die Bevölkerung unserer Mitgliedsstaaten ‑ das gilt auch für Deutschland ‑ natürlich nicht einfach ist, über eine so lange Zeit immer wieder Kontaktbeschränkungen durchzuhalten, immer wieder aufgefordert zu werden, Distanz zu halten und Masken zu tragen. Man kann sagen, dass wir in Deutschland mit dieser Last nicht allein sind, sondern wir tragen sie alle gemeinsam in Europa.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, für wie groß halten Sie die Chance, dass im Streit mit Ungarn und Polen bis Weihnachten eine Einigung gefunden werden kann? Halten Sie es für eine Option, beiden Ländern mit dem Entzug der Stimmrechte zu drohen?

BK’in Merkel: Für mich ist das Wort Drohung in diesem Zusammenhang sowieso kein Wort. Wir haben die Pflicht zu versuchen, einen Weg zu finden. Die Wichtigkeit liegt ja auf der Hand und ist klar sichtbar. Darum werden wir uns bemühen. Es gehört nicht zu den einfachen Problemen, die zu lösen sind, sondern es ist ein schon sehr ernsthaftes Problem, das wir zu lösen haben; deswegen kann ich da jetzt auch nicht spekulieren. Ich kann nur sagen: Wir werden hart und ernsthaft daran arbeiten.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, apropos Wiederaufbaufonds: Ist es möglich, dass, wenn Polen und Ungarn nicht einknicken und das Veto bleibt, eine Alternative kommt, also zum Beispiel, dass man diese Pläne mittels der verstärkten Zusammenarbeit umsetzt? Ist das eine Möglichkeit, die Sie erwägen würden, die Sie besprechen könnten?

Eine zweite Frage zur Türkei: Denken Sie, es ist möglich, dass man schon auf dem EU-Gipfel am 10. Dezember Sanktionen bespricht, auch angesichts der Provokationen von Erdoğan in letzter Zeit, die ja eher zunehmen als abnehmen?

BK’in Merkel: Einigkeit besteht darüber, dass wir auf dem Gipfel am 10. Dezember das Thema Türkei behandeln werden; das ist gar keine Frage. Bis dahin müssen wir uns natürlich die Entwicklung anschauen und dann entscheiden, insofern kann man das heute noch nicht sagen. Im Augenblick haben sich die Dinge aber noch nicht so entwickelt, wie wir uns das wünschen; das kann man schon sagen.

Ansonsten möchte ich heute, was die Lösung der Fragen mit Ungarn und Polen anbelangt, nicht spekulieren ‑ das werden Sie verstehen, auch wenn es für Sie jetzt nicht so schön ist. Wir möchten arbeiten, wir möchten alle Optionen ausloten, die möglich wären. Da stehen wir noch ganz am Anfang, und deshalb kann ich dazu heute keine weiteren Details bekanntgeben.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich hätte ganz gerne zu Corona gefragt: Sie haben auf das Impfen hingewiesen. Es wurde ja gesagt, dass es wichtig sei, dass alle EU-Staaten mehr oder weniger parallel die Bevölkerung impfen. Haben Sie denn Vertrauen darin, dass auch alle anderen EU-Staaten das logistisch hinbekommen ‑ mit Impfstoffen, die bis zu minus 70 Grad gekühlt werden müssen?

Sie haben erwähnt, dass man über die Inzidenz gesprochen hat. Befolgen die anderen Staaten den deutschen Ansatz, dass man möglichst eine Inzidenz von 50 anstreben sollte?

BK’in Merkel: Das kann man nicht für alle sagen. Es gibt einige, die sich daran schon orientieren, weil ja alle auch ähnliche Erfahrungen machen. Die Inzidenz von 50 ist ja nicht frei erfunden, sondern sie ist im Grund ein Maßstab dafür, dass man durch Kontaktnachverfolgung die Sache noch im Griff behalten kann. Die Kontaktnachverfolgung spielt eigentlich für alle Mitgliedstaaten eine große Rolle, und da will man wieder hinkommen. Sonst kann man auch nicht in einem stabilen oder zumindest halbstabilen Zustand arbeiten und ist sofort wieder im exponentiellen Wachstum. Das ist für alle gleich.

Was das Impfen anbelangt, so werden die verschiedenen Impfstoffe ja unterschiedliche Merkmale haben. Der Impfstoff von Biontech und Pfizer braucht in der Tat Kühlgeräte für minus 70 Grad, aber der von Moderna zum Beispiel nicht. Das heißt, die Logistik ist insbesondere für Biontech wichtig. Ich muss ich sagen, ich bin sehr beeindruckt, wie viele Länder schon sehr detaillierte Pläne haben und sich darüber Gedanken machen. Ob das jetzt schon auf alle zutrifft, da habe ich jetzt nicht den genauen Überblick. Es gibt aber sehr viele Länder, die sehr klare Vorstellungen über die Zahl der Impfzentren und die Weiterverbreitung in die lokalen Zentren haben. Ich glaube, Pfizer wird auch unterstützende Maßnahmen ergreifen, was diese Kühlfragen anbelangt. Insofern hoffe ich, dass wir das dann auch wirklich hinbekommen. Danke schön!