Pressekonferenz von Bundekanzlerin Merkel zum Abschluss des Europäischen Rats am 24./25. Juni 2021

BK’in Merkel: Meine Damen und Herren, wir haben einen Europäischen Rat absolviert, der während eines Großteils der Zeit eine Diskussion über außenpolitische Themen geführt hat. Es begann gestern mit einem Treffen mit dem UN-Generalsekretär. In diesem Gespräch haben wir über multilaterale Fragen und geopolitische Schwerpunkte wie zum Beispiel Libyen, aber auch Afghanistan gesprochen. Es war seit fast zwanzig Jahren - genau seit dem 17. März 2003 - wieder das erste Treffen eines Europäischen Rats mit einem UN-Generalsekretär. Damals war es Kofi Annan.

Es gab ein hohes Maß an Übereinstimmung zwischen dem UN-Generalsekretär und den Mitgliedern des Europäischen Rates. Wir haben sehr deutlich gemacht, dass wir in allen Belangen - sei es die Bekämpfung der Pandemie, seien es Fragen von Krieg und Frieden oder aber die Erreichung der Agenda 2030 - die Vereinten Nationen unterstützen und dies auch weiterhin tatkräftig tun werden.

Wir haben uns dann mit den verschiedenen Aspekten der Pandemiebekämpfung befasst. Ich will vielleicht an der Stelle noch einmal deutlich machen, dass wir angesichts der Deltavariante, die ja in einigen Mitgliedstaaten doch schon erhebliche Wachstumsraten aufweist und auch bei uns stärker und dominanter wird, leider nicht sagen können, dass wir sozusagen schon dem Ende der Pandemie entgegensteuern. Wir haben durch das Impfen Fortschritte erreicht - das ist in allen europäischen Ländern gleichermaßen der Fall -, aber wir sehen in Großbritannien, in Israel, wo man beim Impfen schon weiter ist als bei uns, doch stark steigende Inzidenzen. Wir sehen auch, dass die Hospitalisierung, also die Krankenhausaufenthalte, ganz offensichtlich bei dieser Variante zunimmt.

Wir wissen, dass es vor allen Dingen im Bereich der Kinder noch sehr wenige Geimpfte gibt beziehungsweise wir noch gar keinen Impfstoff zur Verfügung haben. Deshalb kann ich nur weiter für Vorsicht plädieren, was ja heute auch der Chef des RKI noch einmal gemacht hat. Masken in Innenräumen und das Testen nicht aufgeben - das sind die am wenigsten beeinflussenden Maßnahmen. Denn wir müssen alles versuchen, um eine vierte Welle zu verhindern. Das ist - darauf komme ich später noch zurück - natürlich auch im Blick auf die ökonomischen Folgen von großer Bedeutung.

Wir haben auf der einen Seite über das digitale EU-Impfzertifikat gesprochen, was man als eine große Erfolgsgeschichte bezeichnen kann. Wir haben uns, wie gesagt, mit den Virusvarianten beschäftigt und haben mehr Koordinierung vereinbart. Ich hoffe, dass dies dann auch konsequent umgesetzt wird.

Wir haben uns mit der Frage auseinandergesetzt: Was ist mit den Impfstoffen, für die keine Zulassung der Europäischen Arzneimittel-Agentur vorliegt? Auch hier haben wir die Kommission gebeten, einen koordinierten Vorschlag zu machen, damit das gleichermaßen im Binnenmarkt realisiert wird.

Der nächste Punkt am gestrigen Nachmittag war das Thema Migration. Wir haben uns hier vor allen Dingen mit der Außendimension befasst. Das heißt, die Kommission wird uns Abkommen mit einzelnen Herkunftsstaaten vorlegen, um die Herkunfts- und Transitländer sehr spezifisch anzusprechen und mit ihnen Vereinbarungen zu treffen, um die illegale Migration einzudämmen, also die Schleuser und Schlepper in ihrer Tätigkeit einzuschränken, und Absprachen zu finden.

In dem Zusammenhang hat natürlich auch das Thema Türkei eine Rolle gespielt. Mit der Türkei sind sehr, sehr viele Gespräche geführt worden - viele von mir, aber auch am Rande des Nato-Gipfels von Emmanuel Macron und vom griechischen Premierminister. Wir können sagen, dass es doch eine Entspannung im Mittelmeerraum gibt, die vor etlichen Monaten so noch nicht bestand. Wir hoffen, dass das anhält. Wir können auf der anderen Seite sagen, dass wir jetzt entsprechend unseren Schlussfolgerungen vom März-Rat weitergehen und über einige Fragen der Zollunion sprechen können und dass uns die Kommission Vorschläge unterbreitet hat, sowohl für die syrischen Flüchtlinge in der Türkei als auch in Jordanien und im Libanon zusätzliche Mittel einzusetzen. Im Blick auf die Türkei sind dies zusätzlich zu den sechs Milliarden Euro noch einmal drei Milliarden Euro. Es gibt noch kein formalisiertes Papier - das wird die Kommission in Kürze vorlegen -, aber wir haben dieses Vorgehen gebilligt und werden uns natürlich in den weiteren Sitzungen des Europäischen Rates immer wieder mit dem Verhältnis zwischen der EU und der Türkei befassen.

Wir hatten dann eine sehr ernste und tiefgehende Diskussion mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Victor Orbán angesichts der Gesetzgebung in Ungarn. 16 Staats- und Regierungschefs, zu denen ich auch gehöre, haben deutlich gemacht, dass Toleranz und Respekt ein Herzstück der Europäischen Union und auch unserer Grundrechtecharta sind. Diese Aussprache war sehr offen. Wir haben deutlich gemacht, wo es aus unserer Sicht nicht geht, dass der Zugang von Menschen, die homosexuell sind, zu Hilfe, Unterstützung und Aufklärung begrenzt und beschränkt wird und dass es vor allen Dingen keine Gleichmacherei von kriminellen Taten wie Pädophilie auf der einen Seite und der Aufklärung von jugendlichen Homosexuellen auf der anderen Seite geben kann. Das verbietet sich.

Diese Diskussion ist natürlich nicht beendet, sie war aber ehrlich und, ich glaube, auch wichtig, weil wir sie in einer solchen Tiefe und Ehrlichkeit im Europäischen Rat noch nicht hatten - jedenfalls kann ich mich nicht daran erinnern, dass wir das in diesem großen Format schon hatten. Die Kommission wird jetzt weiter mit Ungarn über die Fragen der Vertragskonformität oder Vertrags-Nichtkonformität sprechen; darum haben wir sie auch gebeten. Das war insgesamt natürlich keine harmonische Diskussion, sondern es gab hier durchaus sehr tiefe Kontroversen.

Dann gab es gestern Abend noch eine sehr lange Diskussion zum Umgang und zum Verhältnis mit Russland. Auch das war eine sehr, sehr ehrliche Aussprache. Deutschland und Frankreich hatten über die von allen begrüßten Schlussfolgerungen oder Vorschläge des Hohen Repräsentanten Josep Borrell hinaus weitergehende Vorschläge gemacht, von denen einige auch angenommen wurden - vor allen Dingen, dass wir neue Mechanismen brauchen, um uns gemeinsam zu informieren, wenn es zu Attacken und Provokationen Russlands kommt. Es geht bei dieser ganzen Frage ja nicht darum, dass wir nicht die Konflikte klar benennen, und es geht auch nicht um irgendwelche Neuanfänge, sondern es geht um die Frage, wie wir die Konflikte, die mit Russland bestehen und die jeder Mitgliedstaat mit Russland hat, lösen - und zwar am besten lösen. Wir haben uns auch zu Schritten in Richtung neuer Sanktionsmöglichkeiten bekannt.

Dann gab es eine lange Diskussion über die Frage: Wie können unsere Differenzen mit dem russischen Präsidenten ausgedrückt werden? Sie wissen, dass der amerikanische Präsident Joe Biden bereits jetzt, zu Beginn seiner Amtszeit, ein Treffen mit Russland hatte, bei dem eine Agenda vereinbart wurde, in der die kontroversen Fragen diskutiert werden. Ich bin der Meinung, dass es angesichts dieser Gegebenheit sinnvoll wäre, Formate zu finden, in denen auch die Europäische Union mit Russland spricht. Ich kenne die Beschlusslage von 2014. Dennoch haben sich in den letzten Jahren natürlich immer wieder verschiedene Kontakte etabliert. Wir sind gestern nicht so weit gekommen, dass wir gleich ein Treffen auf der höchsten Ebene, also der Staats- und Regierungschefs mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin, vereinbart haben. Wir werden aber über Formate und Voraussetzungen für Kontakte weiter im Gespräch bleiben und daran arbeiten. Darauf wird dann in den nächsten Räten zurückzukommen sein.

Ich will ausdrücklich sagen, dass ich solche Gespräche mit dem russischen Präsidenten nicht als eine Form von Belohnung oder Nichtbelohnung sehe. Ich glaube vielmehr, dass wir uns darauf besinnen müssen, dass auch im Kalten Krieg unter den schwierigsten Bedingungen - Nato-Doppelbeschluss - immer Gesprächskanäle da waren. Ich persönlich glaube, dass es besser ist, wenn wir einen gemeinsamen Gesprächskanal aller Mitgliedstaaten und unserer Institutionen, der Kommission und der Ratspräsidentschaft, mit Russland haben, als wenn jedes Land das einzeln tut beziehungsweise viele Länder das einzeln tun. Denn wir wollen ja auch eine geeinte Meinung in unserem Verhältnis bezüglich Russland haben - die übrigens in sehr, sehr weiten Teilen gegeben ist; da gibt es überhaupt keine Frage.

Wir haben dann weitere außenpolitische Themen angesprochen: Belarus, die Sahelregion, Äthiopien und die Frage von Cyberangriffen.

Heute Vormittag stand der Europäische Rat im Zeichen der wirtschaftlichen Erholung und des inklusiven Formats eines Eurozonengipfels. Der Vorsitzende der Eurogruppe, die Chefin der Europäischen Zentralbank und die Kommissionspräsidentin waren anwesend, und alle drei haben berichtet, wie sie die wirtschaftliche Lage sehen. Ich glaube, wir können sagen, dass wir bisher gut durch die außergewöhnlich schwierige Situation gekommen sind, indem wir beherzt gehandelt haben, indem wir die notwendigen Spielräume und Gelder zur Verfügung gestellt haben und indem wir auch vergleichsweise schnell gehandelt haben - ich denke da an den Eigenmittelbeschluss für die Next-Generation-EU-Pläne. Das alles hat dazu beigetragen, dass die Aussichten relativ gut sind und dass wir zu einer schnellen wirtschaftlichen Erholung und auch zu einem schnellen Erreichen des Vorkrisen- beziehungsweise Vorpandemieniveaus kommen.

An dieser Stelle möchte ich aber noch einmal auf die Mutationen zurückkommen und sagen: Das setzt voraus, dass wir alles tun, damit wir nicht in eine sogenannte vierte Welle hineinkommen, die uns dann wieder zurückwirft. Deshalb sind die einfachen Maßnahmen - Abstand halten, Maske tragen insbesondere in Innenräumen, testen - vergleichsweise Kleine Eingriffe gemessen an dem, was passieren würde, wenn uns die Dinge außer Kontrolle gerieten und wir wieder stärkere Maßnahmen einführen müssten. Im Augenblick ist das Infektionsgeschehen durch die niedrige Inzidenz gerade in Deutschland gut kontrollierbar - wir haben wenig diffuses Infektionsgeschehen. Es muss alles dafür getan werden, dass das auch so bleibt.

Das war mein Bericht vom Europäischen Rat. Ich freue mich jetzt auf Ihre Fragen.

Frage: Frau Bundeskanzlerin, ich würde gerne wissen, was eigentlich geschehen ist. Sie haben zusammen mit den Franzosen einen Vorschlag eingebracht, und dieser Vorschlag wurde abgelehnt. War das schlecht vorbereitet?

Warum haben Sie ihn zu diesem Zeitpunkt eingebracht? Was hat sich verändert, sodass Sie jetzt der Ansicht sind, dass der Europäische Rat wieder mit Wladimir Putin reden muss?

BK’in Merkel: Wir haben einen Vorschlag eingebracht, der aus verschiedenen Elementen bestand. Es ist an einer Stelle gesagt worden: Wir wollen erst noch eine Diskussionsrunde darüber einschalten, in welchen Formaten und unter welchen Bedingungen man sich mit Russland treffen kann. Insofern ist nicht der volle Vorschlag akzeptiert worden, aber immerhin wird sich mit dem Thema weiter befasst.

Was ist passiert? Es ist passiert, dass wir sehr viel über die Souveränität von Europa sprechen, dass sich der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika zu einem sehr ernsten Gespräch mit Wladimir Putin getroffen hat, von dem ich nicht den Eindruck hatte, dass es eine Belohnung für den russischen Präsidenten war, und dass eine souveräne Europäische Union nach meiner Meinung auch in der Lage sein sollte, die Interessen der Europäischen Union in einem solchen, vom Charakter her ähnlichen Gespräch zu vertreten.

Dieses Gespräch hat mir noch einmal vor Augen geführt, dass es aus der Perspektive der Europäischen Union vielleicht nicht reicht, wenn wir uns über die Gespräche des Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika „debriefen“ lassen. Das ist wichtig, und es ist gut, dass es jetzt einen ganz engen transatlantischen Schulterschluss gibt. Aber ich glaube, dass wir Manns und Frau genug sein können, unsere Sichtweise auch im direkten Gespräch vorzubringen. Ich glaube, es ist gut, dass man das jetzt vielleicht noch etwas länger vorbereitet. Aber das ist der Veränderungspunkt gewesen: dass uns das vor Augen geführt wurde, dass wir in den letzten Monaten sehr viel über die Souveränität Europas gesprochen haben und dass es für mich ein Ausdruck davon wäre, wenn man das täte, nicht in den Kategorien von Belohnung oder Nichtbelohnung.

Frage: Ich würde mich der Kollegin noch einmal kurz anschließen. Haben Sie das Gefühl, dass Sie das vielleicht auch nicht gut vorbereitet haben und dass die Tatsache, dass es jetzt nicht zu diesem Gipfeltreffen auf oberster Ebene kommt, im Prinzip auch bedeutet, dass es für längere Zeit nicht dazu kommen wird, weil ja jetzt einfach auch noch einmal ganz klar die Ablehnung deutlich wurde? Das ist meine erste Frage.

Die andere betrifft die Debatte über Ungarn. Wie wir hören, gab es Stellungnahmen, ja auch die von Mark Rutte, sozusagen wirklich mit dem Angebot an Ungarn, auszutreten. Sie haben ja auch schon viel Theater mit Viktor Orbán gehabt. Ist das jetzt ein anderer Moment? Rutscht er quasi aus der EU, zumindest sozusagen gefühlt, langsam heraus?

BK’in Merkel: Zum Zweiten: Es gibt schon sehr tiefgreifende unterschiedliche Vorstellungen. Das zeigt sich ja auch in der Stellungnahme Ungarns, was die Zukunft der Europäischen Union anbelangt. Wenn wir uns jetzt also diese Konferenz zur Zukunft der Europäischen Union anschauen, dann sind die ungarischen Beiträge dazu schon sehr weit von denen entfernt, die ich leisten würde. Insofern haben wir hier schon ein ernstes Problem.

Ich glaube im Übrigen, wir haben dieses Problem nicht nur mit Ungarn, sondern zum Beispiel ist sozusagen der Entwicklungspunkt der Europäischen Union - „ever closer union“ oder nicht - etwas, das nicht nur von Ungarn infrage gestellt wird und worüber wir sicherlich sehr vertieft und auch noch sehr viel länger sprechen müssen.

Gestern ist eben sehr, sehr deutlich geworden, und dem schließe ich mich auch ausdrücklich an: Die Europäische Union ist nicht einfach ein Binnenmarkt, bei dem sozusagen auf Kohäsion und Strukturstärkung hingearbeitet wird, sondern die Europäische Union hat sich auch auf der Basis gemeinsamer Werte zusammengefunden. Wenn die nicht vorhanden sind, dann muss man reden. Es ist von vielen Kollegen aus den mittel- und osteuropäischen Ländern aber auch gesagt worden, dass man darüber vielleicht noch sehr viel mehr sprechen muss. Deshalb bin ich jetzt nicht der Meinung, dass man Dinge sozusagen schon übers Knie brechen muss, aber es sind ernste Probleme vorhanden, und die müssen weiter behandelt werden.

Ansonsten will ich vielleicht noch einmal Folgendes sagen: Wir haben ja jetzt noch einmal ganz klar definiert - das ist ja sozusagen doch ein Fortschritt -, welche Themen wie Klima, Umwelt, Gesundheit oder welche sicherheitspolitischen und multilateralen Fragen wie JCPOA, Syrien, Libyen - ich würde aber auch die Attacken und die hybriden Attacken Russlands noch dazu zählen - mit Russland besprochen werden müssen, um hierbei Fortschritte zu erreichen oder wenn man überhaupt Fortschritte erreichen will.

Dass in diesem Zusammenhang der Europäische Rat Formate des Dialogs mit Russland und die Bedingungen dafür ausloten wird, ist ja eine Fortentwicklung von 2014. Es ist ja nun nicht das erste Mal, dass man nicht gleich alles bekommt, sondern so, dass durch diesen Anstoß von Deutschland und Frankreich auch etwas in Gang gekommen ist. Ich meine, viele von uns sprechen bilateral mit Russland. Ich kann keinen Vorteil darin sehen, wenn das jeder bilateral mit Russland macht, aber wir nicht gemeinsam in der Lage sind, solche Dialoge zu führen. Darauf, auf welcher Ebene das stattfinden wird, wird man dann wieder zurückkommen, wenn man mit dem Ausloten weiter ist.

Frage: Guten Tag, Frau Bundeskanzlerin! Ich würde gern noch einmal auf Ungarn zu sprechen kommen. In mehreren Fällen liegen ja schon Urteile des Europäischen Gerichtshofes vor, etwa im Fall der Soros-Universität, der NGO oder auch der Asylverfahrensrichtlinie, in denen die Kommission sehr teure Vertragsverletzungsverfahren einleiten und auch Strafen aussprechen könnte, was bisher nicht geschehen ist.

Sollte die Kommission Ihrer Meinung nach härter vorgehen?

Eine zweite Frage, wenn ich darf: Orbán hat sich ja auch im Zusammenhang mit dem Gipfel als Freiheitskämpfer des Kommunismus bezeichnet und gesagt, dass er auch für Homosexuelle gekämpft habe und die EU ein Imperium sei, das anderen Ländern seine Werte aufzwingen wolle. Sie haben ja selbst eine Vergangenheit in der DDR. Wie ergeht es Ihnen persönlich, wenn Sie so etwas hören?

BK’in Merkel: Man sollte es genau zitieren. Er hat nicht von einem Imperium gesprochen, sondern von rasantem Tempo in Richtung - ich habe es jetzt nicht genau vor mir zu liegen - imperialer Tendenzen.

Schauen Sie, die Tatsache, dass man zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens ein Kämpfer für Freiheit war, bedeutet ja nicht, dass in den weiteren 30 Jahren alle Meinungen unter denen, die sich auch für Freiheit eingesetzt haben, gleich sein müssen, sondern da kann es erhebliche Divergenzen geben.

Hier haben Ungarn und auch andere Wert darauf gelegt, dass sie Homosexualität und auch homosexuelle Partnerschaften in ihren Ländern natürlich gleich behandeln und in keiner Weise negativ. Hier geht es um die Frage im Zusammenhang mit Jugendlichen und Minderjährigen, was das Recht der Eltern an der Erziehung und was auch die Einflussmöglichkeit außerhalb des Elternhauses ist.

Ich habe für meinen Teil deutlich gemacht, dass es natürlich das Recht der Eltern ist, die Kinder zu erziehen. Wenn aber ein Kind oder ein Jugendlicher in Schwierigkeiten gerät - das muss nicht nur im Zusammenhang mit Sexualität sein, sondern es kann auch im Zusammenhang mit Gewalt in der Familie und Ähnlichem sein -, dann ist das Elternrecht nicht unbeschränkt, sondern dann gibt es auch eine staatliche Verantwortung. Wenn es nicht mehr möglich gemacht wird, diese Verantwortung wahrzunehmen, wenn jemand in Schwierigkeiten ist, sich mit Menschen außerhalb seines Elternhauses unterhalten zu können oder Informationen zu bekommen oder Ähnliches, dann ist das aus meiner Sicht etwas, was auch mit der Würde des Kindes nicht vereinbar ist. Auch das Kind hat Rechte. Insofern ist das also ein sehr heikler Bereich, in dem ich eine vollkommen andere Auffassung habe als die, die offensichtlich in dem ungarischen Gesetz dargelegt ist.

Sie hatten noch nach der Kommission gefragt. Aus meiner Sicht habe ich keine Kritik an dem Handeln der Kommission zu üben.

Frage: Hallo, Frau Bundeskanzlerin! Ich habe noch eine kurze Nachfrage zum Thema Russlands. Hat Sie der Widerstand der anderen Staats- und Regierungschefs überrascht, oder wurde die Stimmungslage womöglich falsch eingeschätzt?

Gestatten Sie mir noch eine persönliche Frage! Wahrscheinlich wird das Ihr letzter EU-Gipfel als Bundeskanzlerin sein. Wir haben schon von einigen Regierungschefs gehört, dass sie Sie sehr vermissen werden, dass Sie fehlen werden, auch dass Sie Europa fehlen werden. Gibt es etwas, was Sie besonders vermissen werden?

BK’in Merkel: Ich denke, dass wir noch Gelegenheit zur Bilanz haben werden. Der nächste europäische Gipfel oder auch das Treffen in Slowenien werden sicherlich nach dem deutschen Wahltag sein, wenn es nicht zu außergewöhnlichen Zusammenkünften kommt. Aber ich denke, dass es dann noch Gelegenheit geben wird, sich bilanzierend zu äußern, zumal ich meine Bilanzen sowieso nicht selbst machen wollte, sondern das anderen überlassen will.

Zur Frage, ob mich die Heftigkeit der Diskussion überrascht hat: Dass es dazu unterschiedliche Einschätzungen geben kann, war mir schon bewusst. Dass die Dinge, ob nun wir mit dem russischen Präsidenten sprechen oder ob der amerikanische Präsident mit dem russischen Präsidenten spricht - er hat ja auch kein Belohnungsgespräch geführt, wenn ich das einmal so sagen darf -, von einigen sehr anders gesehen werden, betrübt mich etwas, weil es zeigt, dass wir untereinander trotz guter Diskussionen über Russland noch nicht so viel Vertrauen haben, wie nötig ist, um einfach zu wissen, dass wir dort selbstbewusst und auch klar auftreten können. Daran müssen wir arbeiten. Ich denke, dass es sich lohnt, ein solches dickes Brett zu bohren.

Dass der russische Präsident kein einfacher Partner ist, ist unbestritten. Ich muss einfach einschätzen, dass wir nach allem, was wir an Einflussnahme, hybrider Informationseinflussnahme, Fehlinformationen erleben - jeder von uns kann davon berichten; in jedem Mitgliedsstaat findet das statt -, nicht davon ausgehen können, dass das ein freundschaftliches Gespräch wäre. Aber dass man trotzdem in der Arbeitsweise weiterhin miteinander reden kann - ich muss das gemeinsam mit Emmanuel Macron im Normandie-Format ja auch tun; sonst kommen wir dort ja gar nicht weiter -, dafür würde ich schon werben. Aber dafür brauchen wir noch ein bisschen Zeit.

Ich habe ja eben schon skizziert, was wir gestern identifiziert haben. Insofern war das schon eine sinnvolle und gute Diskussion.

Frage: Ich wollte noch einmal zur Frage der Deltavariante zurückkehren. Da hörte man, dass es wohl gestern sehr deutlich Kritik an Ländern wie Griechenland gegeben hat, die ja sehr stark auf Tourismus bauen, dass diese Länder zum Teil doch sehr lockere Kontrollen haben und Touristen aus Virusvariantengebieten beziehungsweise aus Drittstaaten hereinlassen, in denen nicht EU-konforme Impfstoffe angewandt werden. Falls das jetzt weiter Praxis bleiben sollte, würden Sie dann interne EU-Grenzkontrollen gegenüber solchen Staaten befürworten, um eine weitere Verbreitung der Deltavariante in der EU zu verhindern?

BK’in Merkel: Nein, Grenzkontrollen haben wir jetzt nicht vorgesehen. Das war auch nicht Gegenstand des Gesprächs. Ich habe zum Beispiel mit dem griechischen Premierminister gesprochen, der mir noch einmal versichert hat, dass dann, wenn Geimpfte mit anderen Impfstoffen, zum Beispiel Sputnik-Geimpfte, nach Griechenland einreisen, dort noch weitere Kontrollen, Überprüfungen und Testungen stattfinden, dass man also in dieser Frage sensibel ist.

Es geht ja nicht um die Frage, ob sich die Deltavariante verbreitet oder nicht. Es geht nur um die Frage: Wie schnell verbreitet sie sich? Wie weit kommen wir in der Zwischenzeit mit unserem Impffortschritt? Denn wir wissen einfach bei der Deltavariante, dass die Menschen zweitgeimpft sein müssen. Ich kann an der Stelle nur aufrufen, den zweiten Impftermin genauso ernst wie den ersten Impftermin zu nehmen, weil gerade bei dieser Variante nur der volle Impfschutz die gewünschten Wirkungen bringt.

Insofern glaube ich, ist jede Diskussion über die Sensibilität in dem Zusammenhang von großer Bedeutung. Ob das jetzt alles schon zur Zufriedenheit ist oder man noch einmal darüber reden muss, das weiß ich nicht.

Aber ich habe jedenfalls von meiner Seite aus gesagt: Wenn wir uns die ökonomischen Kosten anschauen, die wir haben könnten, wenn die Deltavariante zu schnell und zu stark wirksam würde und der Impffortschritt nicht weit genug wäre, dann wäre das einfach schwierig. Die Pandemie ist nicht vorbei, so wie wir es uns wünschen würden.

Wir sind ja jetzt von einer Mutation nach der anderen eingeholt worden. Deswegen kann man nur daran arbeiten, die Fallzahlen geringzuhalten, das Impftempo nach vorn zu bringen und weiter vorsichtig zu bleiben.

Frage: Ich hätte gern das Thema Migration angesprochen. Der litauische Präsident hat gestern sehr eindrücklich gewarnt, dass Belarus Migranten als politische Waffe einsetzt und über die Grenze nach Litauen abschiebt. Die spanische Regierung hat ähnliche Vorwürfe gegenüber Marokko erhoben. Sehen Sie im Moment angesichts wieder steigender Migrationszahlen die Gefahr, dass Länder um die Europäische Union herum dies stärker als politische Waffen einsetzen, und was könnte man dagegen tun?

BK’in Merkel: Das muss man schon ernst nehmen, was der litauische Präsident gesagt hat. Was kann man dagegen tun? Man muss immer möglichst nah am Herkunftsort ansetzen. Wenn das Flüge aus Bagdad oder aus Istanbul sind, dann muss man auch über solche Fragen mit der Türkei und mit dem Irak ins Gespräch kommen, genauso wie Spanien das natürlich mit Marokko versuchen muss.

Ich plädiere ja immer dafür - - - Das ist alles nicht einfach; das weiß ich. Aber es wird nichts nützen, mit Belarus und Herrn Lukaschenko darüber zu sprechen, sondern man muss immer da ansetzen, wo die Herkunft ist. Das wäre meine Empfehlung auch in diesem Falle.

Der ganze Sachverhalt ist fragil - das wissen wir -, ob das Libyen, Marokko oder jetzt Litauen oder Griechenland sind. Deshalb lohnt es eben auch - deshalb habe ich mich ja auch sehr dafür eingesetzt -, dass wir mit der Türkei-Agenda ein Stück weiterkommen. Denn die Tatsache, dass die Türkei fast 4 Millionen registrierte syrische Flüchtlinge beherbergt, ist schon ein Sachverhalt, der von uns nicht unterschätzt und gewürdigt werden sollte. Da kann Europa auch finanzielle Hilfe leisten. Deshalb bin ich der Kommission da auch sehr dankbar.