Podiumsdiskussion mit Bundeskanzlerin Merkel an der Prälat-Diehl-Schule

Schülerin: Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin! Vielen Dank, dass Sie heute den Weg zu uns gefunden haben. Es ist uns eine Ehre, Sie in unserer Schule, in unserem neuen Schulgebäude zu einer Diskussion begrüßen zu dürfen. Sie setzen damit ein Zeichen, Nähe zu uns als heranwachsenden Wählern zu suchen und uns die Politik etwas näherzubringen.

Ich freue mich, Ihnen die Schülerinnen und Schüler vorstellen zu dürfen, die Ihnen unsere Leitfragen stellen werden, die sich aus den zahlreichen eingegangenen Fragen unserer Schüler ergeben haben. Wir freuen uns auf Ihre Antworten. Leider haben wir nicht viel Zeit, weswegen ich mich auch kurz fasse.

BK'in Merkel: Eine ganze Unterrichtsstunde haben wir Zeit.

Schülerin: In diesem Jahr können wir sagen, dass die Bundesrepublik Deutschland nun schon seit 25 Jahren als Einheit besteht. Zu diesem Anlass werden wir Ihnen nun einige Fragen stellen.

BK'in Merkel: Darf ich noch eine geschäftsleitende Bemerkung machen? Es ist nicht schön, wenn die Fotografen hier vorne so lange stehen bleiben.

Schüler: Zuerst würden wir Ihnen gern einige Fragen zum Mauerfall und der Deutschen Einheit stellen. Da Sie ehemalige DDR-Bürgerin sind, würden wir Sie gern dazu befragen, wie Sie den Mauerfall erlebt haben und wo Sie zu dem Zeitpunkt der Maueröffnung waren.

BK'in Merkel: Erst einmal herzlich willkommen und danke schön, dass ich hier sein kann, dass Sie sich so vorbereitet haben und dass ich ein bisschen Einblick in dieses neue Schulgebäude bekommen habe. Gern erzähle ich, wie es am 9. November war.

Ich war damals Physikerin und habe an der Akademie der Wissenschaften gearbeitet. Ich bin natürlich jeden Tag zur Arbeit gegangen, wie es sich gehört. Als ich am 9. November abends von der Arbeit kam - das war damals eine sehr spannende Zeit; man hat sehr viel Fernsehen gesehen und Zeitung gelesen, und spätestens seit dem 7. Oktober konnte man jeden Tag das Knistern hören, dass sich etwas tut, und konnte sich trotzdem noch nicht so richtig vorstellen, wo das alles hinführt -, habe ich den Fernseher eingeschaltet, und es gab eine Pressekonferenz von Günter Schabowski, wo er diesen berühmten Zettel hatte und irgendetwas vorgelesen hat, was ich nicht ganz genau verstanden habe. Irgendwie schien es mir, dass man jetzt reisen kann.

Dann habe ich meine Mutter angerufen. Wir hatten so einen Witz zu Hause: „Wenn die Mauer einmal nicht mehr wäre,“ - aber keiner hat daran geglaubt, dass es so ist – „dann gehen wir zu Kempinski Austern essen“. Ich sage gleich vorweg, obwohl 25 Jahre vergangen sind, war ich nie mit meiner Mutter bei Kempinski Austern essen. Aber ich habe gesagt: „Pass mal auf, Mutter, da passiert heute etwas.“ Die wohnte in der Uckermark, also 80 Kilometer weg von Berlin.

Dann war es ein Donnerstag, und ich bin immer donnerstags mit einer Freundin in die Sauna gegangen. Also bin ich in die Sauna gegangen. Als ich mit meiner Saunatasche zurückkam in die Schönhauser Allee in Berlin, direkt an der Bornholmer Straße, da sah ich, wie die Leute herunterliefen. Dann werde ich nie vergessen, es war vielleicht halb elf, elf Uhr, vielleicht auch ein bisschen später: Dann bin ich einfach den Leuten hinterher. Ich war alleine, aber ich bin immer hinterher. Da zerrten Großeltern ihre Enkel, und die Enkel wussten gar nicht, wie ihnen geschah, kleine Kinder, dann rüber über die Bornholmer Brücke, und dann sind wir auf der West-Berliner Seite - da hatte sich irgendwie eine Gruppe gebildet - einfach in irgendeine Wohnung gegangen - ja, auf der West-Berliner Seite; ich weiß gar nicht mehr, wo das war - und wollten alle telefonieren. Ich wollte meine Tante anrufen, und jeder wollte irgendwie etwas machen. Manche sind dann noch weitergezogen. Ich musste am nächsten Morgen wieder früh arbeiten gehen und war auch ein ordentlicher Mensch. Ich bin dann irgendwann um eins oder halb zwei nach Hause, nachdem ich mein erstes West-Bier getrunken hatte. Ich weiß noch, so ein Büchsenbier; das war mir sonst nicht so vertraut.

Gut, dann musste ich morgens immer mit der S-Bahn zur Akademie der Wissenschaften fahren, eine halbe Stunde S-Bahn-Fahrt. In dieser S-Bahn saßen Grenzsoldaten, die nach dem Dienst in das Objekt fuhren, wo die Akademie der Wissenschaften war, Feliks Dzierzynski, wie die Grenzsoldaten damals hießen. Das waren alles so Dreijährige, die drei Jahre an der Grenze waren. Die saßen da, sprachen immer über ihre Offiziere und sagten: „Deren ganzes Lebenswerk ist futsch. Merkste, das ist alles weg, kommt nie wieder.“ Das war das Erste, was passierte.

Um nicht zu lang zu werden: Zwei, drei Tage später, an dem Montag darauf, bin ich nach Polen gefahren. Übers Wochenende war ich natürlich noch mehrfach in West-Berlin. Es war unglaublich, das kann man gar nicht beschreiben. Da, wo man sonst kaum hinkam - ich war zweimal zum Verwandtenbesuch gewesen -, das konnte man jetzt immer. Die Polen waren total klar im Kopf; in Torun war das. Die haben zu mir gesagt: „Wenn wir wieder nach Berlin kommen, dann ist die Deutsche Einheit da.“ Dann habe ich gesagt: „Na, die Deutsche Einheit ist vielleicht doch noch ein bisschen hin“, aber die hatten das richtige Gefühl.

Schüler: Wurde oder wird Ihr politisches Handeln immer noch von Erlebnissen oder Erfahrungen aus der damaligen DDR-Zeit beeinflusst?

BK'in Merkel: Ja, ich glaube, schon. Warum? Weil ich in meinem Leben etwas erlebt habe und die ganze Generation etwas erlebt hat, eine dramatische Veränderung und trotzdem etwas unheimlich Gutes. Wir haben heute oft so eine Angst vor Veränderungen und denken: Ach, wenn sich jetzt etwas verändert, wer weiß, ob es besser wird?

Für mich ist das so eine Urerfahrung, dass es im großen Ganzen - für manche Menschen ist es auch kompliziert geworden, wenn sie arbeitslos geworden sind - eine Veränderung zum Besseren war. Dass man so etwas erleben kann und dass das praktisch passiert, obwohl man nicht jeden Tag damit gerechnet hat, das ist etwas, was mich prägen wird, dass ich immer wieder sagen werde: Man braucht bei manchen Dingen einen sehr langen Atem, und man weiß nie, wann es passiert.

Es war zum Beispiel richtig, dass die alte Bundesrepublik immer die Staatsbürgerschaft der DDR-Bürger als bundesdeutsche, als gesamtdeutsche Staatsbürgerschaft erhalten hat. Das war für uns in der DDR, selbst wenn ich nicht ausgewandert oder ausgereist bin, immer die letzte Sicherung. Du hast immer gewusst: Wenn du in den Westen gehst, dann bist du deutscher Staatsbürger. - Unsere tschechischen und polnischen Kollegen in der Wissenschaft hatten das nicht. Die haben nirgends sofort eine Staatsbürgerschaft gekriegt.

Viele haben dann auch in der alten Bundesrepublik gesagt: „Mensch, das passiert doch nie.“ Ich hatte mich auch darauf eingestellt, wenn ich 60 werde - was ich dieses Jahr geworden bin -, dann kann ich zum ersten Mal nach Amerika fahren. Das hatte ich mir damals schon genau ausgedacht, dass ich dann auf die Polizei gehe, hier im Westen. Da konnte man seinen DDR-Ausweis abgeben, bekam einen westdeutschen Reisepass, und mit dem konnte man dann nach Amerika fahren. Das war meine klare Vorstellung. Aber das hat nun schon etwas früher geklappt.

Schüler: Würden Sie jetzt auch sagen, dass Sie sich durch das, was Sie erlebt haben, in Ihrem politischen Handeln von anderen Politikern absetzen, indem Sie eventuell eher den neuen Dingen Zuspruch geben?

BK'in Merkel: Ach, das würde ich so nicht sagen. Jeder hat seine individuelle Erfahrung. Ich erwarte eigentlich nur, egal ob man jetzt aus der alten Bundesrepublik kommt - - - Da haben auch nicht alle daran geglaubt, dass morgen die Deutsche Einheit vor der Tür steht. Die haben die Veränderung auch als etwas Positives erfahren. Helmut Kohl hat damals als Bundeskanzler auch zugegriffen und die Chance historisch genutzt und das richtige Gefühl entwickelt.

Das war ja eine brenzlige Sache. Wenn ich das vielleicht noch sagen darf: Dort, wo ich aufgewachsen bin, in der Stadt Templin, waren ungefähr zwei- bis dreimal so viele sowjetische Soldaten um die Stadt herum, als dort Einwohner waren. Das heißt, das waren 500.000 sowjetische Soldaten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR. Ob die abziehen, ob die schießen, was da passiert, das war ein unheimlich spannender Prozess. Wenn wir in diesen Tagen zum Beispiel über die Ukraine reden, dann muss ich manchmal auch an diese Zeit denken, was das für ein Glück war, dass dort keiner geschossen hat, dass das alles friedlich vereinbart werden konnte.

Jetzt bin ich ein bisschen abgekommen. Sie wollten von mir wissen - - - Sagen Sie noch einmal die Frage.

Schüler: Meine Frage war eben: Sie haben vorhin davon gesprochen, dass Sie Veränderungen als positiv empfinden.

BK'in Merkel: Ach so, ob ich jetzt bereiter zu Veränderungen bin. Was ich sagen wollte, ist: Ich glaube, dass uns, egal wo man aufgewachsen ist, ob in Ost oder West, dieses gemeinsame Erlebnis die Kraft geben sollte, überhaupt für Veränderungen offen zu sein, weil sich auch für Westdeutsche, vielleicht nicht so viel und nicht so ersichtlich, doch einiges geändert hat.

Schüler: Aber wenn man sich jetzt zum Beispiel das Bruttoinlandsprodukt von Ost- und Westdeutschland anschaut, dann sieht man schon, dass noch deutliche Unterschiede zwischen Ost und West existieren. Wie lange, denken Sie, wird es noch dauern, bis die Lebensbedingungen von West- und Ostdeutschland komplett aneinander angeglichen sind und somit auch die komplette innere Einheit vollzogen ist?

BK'in Merkel: Wenn Sie das Bruttoinlandsprodukt der neuen Länder mit dem der alten vergleichen, ist es in der Tat nur zwei Drittel. Das hat einmal etwas damit zu tun, dass die meisten Stammfirmen, also die großen Firmenniederlassungen, in den alten Bundesländern sind. Es hat etwas damit zu tun, dass die Durchschnittslöhne in den neuen Bundesländern noch geringer sind.

Wenn Sie heute aber das Bruttoinlandsprodukt von Schleswig-Holstein mit dem von Bayern vergleichen, dann sehen Sie auch erhebliche Unterschiede. Sie sehen heute auch schon erhebliche Unterschiede zwischen dem Bruttoinlandsprodukt von Sachsen und dem von Mecklenburg-Vorpommern. Das heißt, es wird immer stärker so werden, dass die regionale Differenzierung zunimmt und die Frage „Ost oder West“ etwas zurückgeht.

Trotzdem: Die einen haben 25 Jahre westdeutsche Möglichkeiten, die anderen haben jetzt schon über 60 Jahre Bundesrepublik Deutschland. Das heißt, wenn Sie zum Beispiel die Sparguthaben der Ostdeutschen sehen, dann fehlt da natürlich unglaublich viel an Aufstockung und an Vererbung, die wir in den alten Bundesländern gesehen haben. Das wird noch auf Jahre ein großer Unterschied sein, weshalb der erste Ministerpräsident Sachsens, Kurt Biedenkopf, immer gesagt hat: „Man muss sozusagen über Kreuz heiraten, dann vermischen sich auch die Besitzstände.“ Aber das wird noch eine ganze Zeit dauern.

Schüler: Dann zur letzten Frage: Wie stehen Sie zum Solidaritätszuschlag in Bezug auf den Aufbau des Ostens? Denn man kann ja erkennen, wie Sie eben auch gesagt haben, dass auch im Westen regional schwache Städte oder generell Gebiete sind. Wie stehen Sie dazu, dass der Osten oder auch der Westen gefördert werden muss?

BK'in Merkel: Wir haben einen sogenannten Solidaritätspakt zwischen den alten und den neuen Ländern, und der läuft 2019 aus. Wir sehen heute schon, dass die Summen, die direkt in den Aufbau Ost gehen, geringer werden. Das heißt, man wird sich jetzt mit den Ländern und dem Bund zusammensetzen - das tun die Länder und die Bundesregierung schon, Wolfgang Schäuble und die Finanzminister, aber auch die Ministerpräsidenten und wir als Bundesregierung - und darüber reden: Wie werden die Bund-Länder-Finanzbeziehungen nach 2019 weitergehen? Da gibt es schon eine Übereinkunft grundsätzlicher Art, dass die neuen Länder nicht einfach fallen gelassen werden können, aber dass die Förderung sicherlich sehr viel stärker regionalisiert werden muss. Wie man das jetzt genau macht, das ist im Augenblick gerade ein heißes politisches Thema, das sicherlich noch ziemlich viele Schlagzeilen produzieren wird, weil der Verteilungskampf: „Wer kriegt was?“, wie Sie sich vorstellen können, recht spannend ist.

Schüler: Dann bedanke ich mich bei Ihnen.

BK'in Merkel: Bitte schön.

Darf ich einmal eine Frage stellen: Wer von Ihnen war schon in den neuen Ländern? - Alle, gut. Berlin oder darüber hinaus?

Schülerin: Ich war auch schon darüber hinaus in Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg, einmal hingefahren, aber nicht lange da gewesen.

BK'in Merkel: Wo in Mecklenburg-Vorpommern?

Schülerin: Plau am See.

BK'in Merkel: Plau am See, ist klar. Das ist zwar nicht mein Wahlkreis, aber - - -

Schülerin: Ich war auch in Sachsen, Bautzen und Meißen.

Schüler: Ich war nur in Berlin.

BK'in Merkel: Es lohnt sich, noch bis Dresden oder Leipzig zu kommen.

Schüler: Das kann ich mir vorstellen.

BK'in Merkel: Und Sie?

Schüler: Ich war auch nur in Berlin.

BK'in Merkel: Aber ihr seid ja noch jung, insofern - - -

Machen wir einmal Hände-Heben: Wer war schon in Berlin? - Und wer war über Berlin hinaus? - Gut.

Schüler: Dann werden wir jetzt ein bisschen internationaler, kommen zur Europäischen Union.

Sie haben gerade von Ihren Erfahrungen aus der DDR berichtet. Sie haben die politische Unfreiheit dort selbst erlebt. Jetzt ist es so, dass es heute leider immer noch Menschen gibt, die politisch nicht ihre freie Meinung sagen dürfen, die politisch verfolgt werden. Viele dieser Menschen sehen als letzten Ausweg die Flucht in Richtung Europäische Union. Die Einreise gestaltet sich dann aber etwas schwierig, was man vielleicht auch an den sinkenden Flüchtlingsbooten vor den Küsten Europas ganz gut sehen kann.

Dann ist meine Frage, ob Sie die europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik trotzdem als gerecht empfinden, obwohl Sie die Erfahrung als DDR-Bürgerin gemacht haben.

BK'in Merkel: Na ja, wir müssen Folgendes sehen. Deutschland hat das Grundrecht auf Asyl. Das heißt, jeder, der politisch oder aus Gründen seiner Religion oder seiner Rasse verfolgt wird, hat Anspruch auf Asyl. Gleichzeitig haben wir aber die Situation, dass es sehr viel mehr Flüchtlinge gibt, als nach der Rechtsprechung dieser Asylgrund dann auch anerkannt wird. Denn wir haben heute natürlich auch viele Flüchtlinge, die nicht direkt politisch verfolgt sind, die aber kommen, weil sie in ökonomisch extrem schwieriger Situation leben, weil sie arm sind und weil sie glauben, dass sie in Europa eine bessere Lebensperspektive haben.

Ich glaube, wir sind uns einig: Ein Kontinent wie Afrika hat eine Milliarde Einwohner. Wir können jetzt nicht alle, die ein schlechteres Lebensniveau haben als wir, als Asylbewerber anerkennen. Das würde uns auch überfordern.

Aber es zeigt sich, durch das Internet, zum Teil auch durch die politischen Zustände, zum Beispiel jetzt in Libyen, schaffen es immer mehr Menschen, im Übrigen unter Aufbietung aller Kräfte, aber auch mit Schleppern, die dabei sehr reich werden und sich dumm und dämlich verdienen, könnte man sagen, die den Leuten unheimlich viel Geld abpressen. Insofern ist das schon ein humanitäres Drama, was sich zum Beispiel am Mittelmeer abspielt.

Was müssen oder können wir jetzt tun? Wir müssen auf der einen Seite das Grundrecht auf Asyl hochhalten. Das heißt, wir müssen jedem einen Prozess geben, jeder muss individuell geprüft werden. Ich kann nicht sagen, wer aus dem Land kommt, der ist nicht verfolgt. Und wir müssen gleichzeitig in den Ländern, in denen die Armut besonders groß ist oder die politischen Zustände besonders unzureichend sind, versuchen, vor Ort Verbesserungen zu schaffen. Das ist natürlich ein sehr mühevoller Prozess; da könnte ich über verschiedene Länder vieles sagen. Aber das muss unser Bemühen sein, weil wir in einer Welt leben und weil wir uns nicht ducken können.

Deshalb glaube ich, dass unsere Politik schon das Mögliche versucht. Jetzt geht es um die Frage: Wie kann die Arbeitsteilung in Europa besser sein? Da sind wir bereit, auch darüber zu reden: Was kann man besser machen? Denn wir haben in diesem Jahr wahrscheinlich 200.000 Asylbewerber. Damit sind wir nach Schweden und vielleicht zwei anderen Ländern das Land, das mit am meisten Asylbewerber aufnimmt. Deshalb können wir uns sehr offensiv jeder Diskussion stellen.

Es wird nur, wenn man in der Europäischen Union etwas anderes machen will als heute, sehr viele Fragen geben. Das wird auch nicht einfacher. Da sagt man: „Quotierung - jedes Land soll entsprechend seiner Einwohnerzahl aufnehmen, oder entsprechend einer Mischung aus seiner Einwohnerzahl und dem Bruttoinlandsprodukt des Landes“. Was wird sein, wenn wir zum Beispiel sagen: „Wir schicken Flüchtlinge oder Asylbewerber aus Deutschland nach Bulgarien oder nach Rumänien“? Wird man dann nicht sagen: „Diese Länder sind doch so arm. Ist das eigentlich gerecht, dass wir das tun?“?

Also, ich warne nur davor, zu glauben, eine andere Lösung würde plötzlich alle Probleme beheben. Das wird sie nicht. Mittelfristig müssen wir versuchen, dass wir die Probleme vor Ort beheben.

Schüler: Deutschland und die Europäische Union tun jetzt schon einiges dafür, die Lage der Flüchtlinge zu verbessern. Trotzdem gibt es in der Gesellschaft und auch in den Medien den Begriff „Festung Europa“. Würden Sie die Benutzung dieses Begriffs als angemessen beurteilen, oder denken Sie, er ist arg überspitzt?

BK'in Merkel: Nein, ich finde, dass dieser Begriff nicht angemessen ist. Wir haben Flüchtlingsströme, wie wir sie gar nicht kannten. Ich muss allerdings auch sagen, wir leben im Augenblick in einer Zeit, in der es so viele Flüchtlinge auf der Welt insgesamt gibt, jetzt gar nicht nach Europa, wie die Welt sie wahrscheinlich noch nie gesehen hat. Vieles davon spielt sich vor unserer Haustür ab. Syrien erleben Sie jedes Wochenende. Wenn da an einem Wochenende 150.000 in die Türkei flüchten, dann müssen auch wir sicherlich sehen, dass wir mit unseren Problemen fertig werden müssen.

Unser Problem besteht darin - das muss man auch ganz offen ansprechen -, dass von den 200.000 Menschen, die zu uns kommen, der Asylantrag schlussendlich nur für etwa 25 Prozent im Durchschnitt genehmigt wird, und die Genehmigung der anderen erfolgt nicht. Von vielen wissen wir aber gar nicht, aus welchem Land sie kommen. Das ist dann ein Zustand, der für die Betroffenen, aber auch für uns nicht einfach ist. Wenn wir unser Recht auf Asyl denen geben wollen, die wirklich verfolgt sind, müssen wir auf der anderen Seite auch immer wieder klar die Entscheidungen treffen.

Schüler: Momentan besteht die Europäische Union aus 28 Mitgliedstaaten. Das sind relativ viele, und das macht den Entscheidungsfindungsprozess zunehmend kompliziert und langwierig. Jetzt stellen Sie sich einmal vor, Sie hätten diesen ganzen Entscheidungsfindungsprozess nicht, Sie könnten an der Europäischen Union verändern, was Sie wollten. Was würden Sie verändern, oder, anders gesagt, was ist Ihre Vision von Europa, wenn Sie die anderen Länder nicht berücksichtigen müssten?

BK'in Merkel: Ehrlich gesagt, diesen Gedanken hänge ich nicht an, weil das bedeuten würde, dass die anderen denken, man müsste mich nicht berücksichtigen, und das finde ich nun gar nicht schön. Insofern versetze ich mich schon da rein: Was du einem anderen zumutest, musst du dir auch selbst zumuten können.

Deshalb ist es sicher richtig, dass wir bestimmte Fragen einstimmig entscheiden müssen. Zum Beispiel wenn wir eine Aufgabe nach Europa geben, dann müssen dazu der Deutsche Bundestag, der Bundesrat, müssen alle Ja sagen, weil dann die deutsche Politik das überhaupt nicht mehr entscheiden kann. Sie wissen, wenn dann etwas schiefläuft und man sagt: „Ach ja, das ist eine europäische Entscheidung“, gibt es in Deutschland ganz wenige Menschen, die überhaupt noch Verständnis dafür haben. Die sagen: „Wie konntet ihr denn das weggeben?“ Insofern muss man sich das sehr gut überlegen.

Dann gibt es die sogenannte qualifizierte Mehrheit, also eine bestimmte Mehrheitsformel. Da kann ich als Land schon mal überstimmt werden. Das finde ich manchmal schon schwer, wenn wir überstimmt werden. Zum Beispiel haben wir die Automobilindustrie; das kennt man hier in Rüsselsheim auch. Jetzt gibt es irgendeine CO2-Richtlinie, wie man Kohlendioxid einsparen soll - wegen des Klimaschutzes sehr gut. Dann gibt es gar nicht mehr so viele Mitgliedstaaten von den 28 in der Europäischen Union, die überhaupt eine eigene Autoindustrie haben. Das heißt, viele sind dann nur vom Klimaschutz beeindruckt, aber kümmern sich in dem Moment nicht so um den Arbeitsplatz, weil sie keine Automobilfirma im Land haben. Wenn ich da überstimmt werden kann, weiß ich natürlich, was ich dann tue. Dann achte ich schon sehr, dass jedes Land, das noch einen Zweigbetrieb von Opel, Ford, Mercedes, VW oder sonst was hat, in Europa angesprochen wird: „Passt auf, dass uns hier nicht Arbeitsplätze verloren gehen.“

Außenpolitische Entscheidungen fällen wir nur einstimmig.

Was ist meine Vision von Europa? Dass wir uns auf das Wesentliche konzentrieren, dass wir uns nicht zu viel mit Dingen beschäftigen, die zum Schluss keiner mehr richtig versteht, mit der Normierung von diesem und jenem, mit der Form der Bananen, und was es früher alles gab, sondern dass die Leute das auch verstehen. Denn wir sind in Europa 500 Millionen Menschen. Wenn wir auf der Welt eine Stimme haben wollen, bei sieben Milliarden Einwohnern, dann müssen wir mit einer Stimme sprechen.

Aber wenn es um die Frage geht, wie ich jetzt meinen Wasserbetrieb führe, dann, glaube ich, muss ich nicht in Europa alles einheitlich machen. Diese Unterscheidung zu treffen, da setze ich jetzt große Hoffnung in die neue Kommission, dass sie sich mehr aufs Wesentliche konzentriert und nicht darauf, welche Süßigkeitspackung mit welcher Ampel beschriftet sein muss. Ich glaube nicht, dass Europa das alles tun muss.

Aber andere Dinge muss Europa tun. Wir brauchen eine gemeinsame Asylpolitik, wir brauchen möglichst eine Stimme nach außen beim Klimaschutz, beim Verbraucherschutz, bei Handelsfragen, die im Augenblick höher schlagen. Ansonsten kann jeder von uns zerbröselt werden, und selbst Deutschland als größtes Land kann dann überhaupt keine richtige Rolle mehr spielen.

Schüler: Diese Trägheit, die ich gerade angesprochen habe, ist auch ein Grund, warum europakritische Parteien immer mehr an Stimmen gewinnen. Die Fraktionen EFDD und ECR haben im Europäischen Parlament jetzt zusammen schon 118 Sitze. Was können Sie als Kanzlerin dafür tun, um die Attraktivität dieser Parteien zu lindern, und was könnte vielleicht auch die CDU dafür tun?

BK'in Merkel: Ich glaube, wir müssen den Problemen ins Auge sehen, wir müssen über das sprechen, was nicht gut läuft, und überlegen, wie wir es besser machen können. Wir müssen aber auch positiv über Europa sprechen. Die Idee: „Mir geht es besser, wenn ich mich abspalte, wenn ich mich einigle, wenn ich überhaupt nichts mehr mit anderen teile“, ist natürlich faszinierend. Sie wissen auch, wenn Sie ganz alleine sind, können Sie sich 100 Prozent Ihrer Wünsche erfüllen. Wenn Sie schon in der Familie überlegen müssen: „Was mache ich am Sonntag?“, dann kommen Sie nur noch, je nach Größe der Familie, mit 20, 25 Prozent durch. Aber ist es jetzt schlimmer, wenn ich den Kompromiss in der Familie mache, oder ist es nicht auch schön, in der Familie unterwegs zu sein?

Das heißt, ich kann mich immer kleiner machen, und dann setze ich immer mehr meiner Vorstellungen durch. Aber so klappt es ja nicht, und so entsteht keine Gemeinschaft. Da die Gemeinschaft etwas sehr Schönes ist, sollten wir uns ab und zu auch über das unterhalten, worüber Europa sich nicht streitet. Dass man frei seine Meinung sagen kann, dass man Religionsfreiheit hat, Reisefreiheit hat, Pressefreiheit hat, darüber brauchen wir uns unter den 28 Mitgliedstaaten im großen Ganzen nicht zu streiten. Solche Ecken auf der Welt müssen Sie erst einmal finden. Dafür sitze ich auch manchmal gerne nachts und ringe um einen Kompromiss, wo die Leute hinterher sagen: „Mein Gott, warum werden die nicht fertig?“

Schüler: Vielen Dank.

Schüler: Der Ukraine-Russland-Konflikt ist im Moment in den Medien ein ziemlich heißes Thema. Wir wollten einfach einmal von Ihnen wissen, wie Sie die Rolle der EU und insbesondere der Nato in diesem Konflikt beurteilen. Sind Sie eher ein Vermittler zwischen den beiden Fronten, oder unterstützen Sie die Ukraine, um ein weiteres Vordringen der Russen in deren Land zu verhindern?

BK'in Merkel: Ja, das Vordringen der Russen. Es geht um Folgendes. Wir haben erst über die Deutsche Einheit gesprochen. Deutschland ist es vergönnt gewesen, auch indem der damalige sowjetische Präsident Michail Gorbatschow einverstanden war, dass Deutschland seinen Weg gehen konnte. Wir konnten als ganzes Deutschland EU-Mitglied werden, wir konnten Nato-Mitglied werden, und die Sowjetunion hat zugestimmt.

Heute haben wir die Situation: Wenn ein Land wie die Ukraine sagt: „Wir möchten gern ein Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union abschließen“, dann hat der russische Präsident Sorge, dass daraus eine EU-Mitgliedschaft werden könnte oder eine Nato-Mitgliedschaft, und versucht, der Ukraine das sehr schwer zu machen. Ich sage mal, solange man das mit den normalen Mitteln tut und Recht und Gesetz einhält, ist alles in Ordnung. Aber wenn man sagt: „Weil mir das nicht gefällt, annektiere ich jetzt mal die Krim“, dann bricht das mit einem Prinzip. Jetzt sagen viele: „Na ja, wegen der Insel. War die Krim nicht schon lange russisch, und müssen wir uns da so aufregen?“ So wird oft gesprochen. Stimmt doch, oder?

Da sage ich: Warum leben wir in Europa jetzt seit Jahrzehnten friedlich zusammen? Wenn Sie sich die deutschen Grenzen von 1850 anschauen - Sie haben sich mit Geschichte beschäftigt, hier am Beispiel Ihrer Fabrik -, wenn Sie sich die polnischen Grenzen anschauen, wenn Sie sich die polnische Teilung anschauen, wenn Sie sich anschauen, wie groß Ungarn vor und nach dem Ersten Weltkrieg war, dann werden Sie in der europäischen Geschichte über Jahrhunderte immer finden, dass mal etwas zum einen Land gehörte, mal etwas zum anderen Land gehörte. Wenn man sagt: „Pass mal auf, weil mir das 300 Jahre gehört hat, muss ich das jetzt wiederkriegen“, dann ist morgen Krieg in Europa. Wenn wir das einem gestatten, wird man immer wieder fragen: Warum darf der das, und der andere darf das nicht?

Das heißt, wenn wir sagen, die Unantastbarkeit des Prinzips der territorialen Integrität ist das Fundament, auf dem die europäische Friedensordnung beruht, dann ist das sehr technisch gesagt, aber dann steckt genau das dahinter. Deshalb: Wehret den Anfängen! Es gibt nicht umsonst bestimmte, ganz grundsätzliche Dinge, und die darf keiner übertreten, weil ansonsten der eine die Begründung beim anderen sucht.

Deshalb mussten wir auf ein solches Vorgehen reagieren, jetzt auch in Lugansk und Donezk. Aber gleichzeitig sage ich, wir müssen immer wieder versuchen, auch zu sprechen. Selbst im Kalten Krieg hat die Bundesrepublik mit der Sowjetunion gesprochen, man hat diplomatische Beziehungen aufgenommen, man hat Handel und Wandel betrieben, man hat sich klar die Meinung gesagt. Aber man darf auch nicht einfach zur Tagesordnung übergehen und sagen: „Pass mal auf, weil dir das jetzt nicht gefällt, darf ich das nicht mehr aussprechen.“ Das ist dann natürlich immer eine politische Entscheidung: Wie mache ich das am besten?

Die Ukraine hat in dieser Richtung jetzt eine schwierige Situation; das muss man sagen. Deshalb bin ich nicht einfach Vermittler, sondern ich versuche, auch Gesprächspartner für Russland zu sein, aber schon die Positionen, unsere gemeinsamen Werte, dort zu vertreten.

Schüler: Wie wäre es möglich, da eine Einheit beziehungsweise Geschlossenheit zwischen den ganzen Gesprächspartnern zu finden, dass sich die Gemüter ein bisschen abkühlen, sich alle an einen großen Tisch zusammensetzen und versuchen, eine gemeinsame Lösung zu finden, mit der alle mehr oder weniger zufrieden sind?

BK'in Merkel: Es ist so: Wenn man eine Lösung finden will, müssen alle, die sich an einen Tisch setzen, auch dazu bereit sein. Wenn jemand sagt: „Pass mal auf, mir passt das nicht, dass die Ukraine sich frei entscheiden kann; und die ganzen Russen, die in der Ukraine wohnen, sind irgendwie auch mein Einflussgebiet, und ich brauche das jetzt für mein Einflussgebiet“, dann hat man natürlich ein Problem.

Insofern bin ich gern bereit, auch Kompromisse zu finden. Nur, bis jetzt sahen die Kompromisse bei Georgien so aus, dass Südossetien und Abchasien abgetrennt sind; bei Moldawien sieht es so aus, dass Transnistrien abgetrennt ist.

Wissen Sie, wir haben nach der Deutschen Einheit gedacht, in Zukunft wird alles friedlich gehen, und man wird sich sehr gut einigen, auch mit Russland; Russland braucht vielleicht etwas länger, aber wird vielleicht zum Schluss doch so wie wir. Ich muss jetzt sagen, vielleicht möchte Russland so nicht werden, und vielleicht möchte Russland unsere Werte nicht teilen. Das kann ja sein, das können wir auch nicht erzwingen. Das muss dann Russland mit sich ausmachen. Wir werden gegen Russland keinen Krieg führen; das habe ich vom ersten Tag an gesagt. Aber wir müssen uns dann schon überlegen, ob das Auswirkungen auch auf die Kooperation hat. Wenn wir zuschauen müssen, wie ein Land destabilisiert wird und damit natürlich auch immer schwächer wird, dann müssen wir von unserer Seite aus eben versuchen, diesem Land zu helfen.

Schüler: Sie haben, um die Russen ein bisschen zu motivieren, sich vielleicht doch einmal mit den anderen Nationen an einen Tisch zu setzen, den Russen gewisse Sanktionen auferlegt. Denken Sie, dass die einen wirklichen Erfolg gehabt haben? Denn Russland an sich scheint nicht sonderlich davon beeindruckt zu sein. Es gibt immer noch regelmäßig Berichte von irgendwelchen russischen Truppen, die wieder mal in der Ukraine oder nah an der Grenze gesichtet wurden. Sie scheinen einfach so weiterzumachen, wie sie es geplant hatten.

BK'in Merkel: Man kann sich immer noch Schlimmeres vorstellen, wie sie sonst noch weitermachen könnten. Das wird man nicht wissen. Wir haben erst darüber gesprochen, dass man auch nicht wusste, ob die DDR zusammenbricht. In Russland kann nicht jeder Unternehmer, der jetzt Schwierigkeiten hat, zur Zeitung gehen und sagen, dass das alles ganz schrecklich ist. Bei uns können die Unternehmer das. Wenn ich höre, wie viele Klagen es wegen der Sanktionen bei uns gibt, die wir wirtschaftlich stärker sind, muss nach den Regeln der Logik in Russland irgendwie auch ein Einfluss spürbar sein.

Wenn wir sagen, wir wollen nicht militärisch eingreifen - und ich glaube, dazu gibt es nahezu 100 Prozent Zustimmung -, dann frage ich: Was ist unsere Stärke? Unsere Stärke ist die wirtschaftliche Stärke. Und was ist irgendwo die Möglichkeit, wo Russland nicht so stark ist, zu zeigen, dass uns unsere Überzeugungen etwas wert sind? Das sind dann eben Wirtschaftssanktionen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie wirken. Wie sie wirken, weiß man nicht. Ob man sagt: „Für die Einigkeit Russlands und dafür, dass Russland noch mehr Menschen bekommt und dass wir die Krim bekommen, sind wir auch bereit, zehn Jahre zu leiden“, das kann ich nicht einschätzen, das muss Russland für sich entscheiden.

Ich möchte nur, dass ich vor mir in den Spiegel sehen kann und sagen kann, ich lasse das nicht einfach geschehen. Wir können nicht immer nur sonntags von den Werten sprechen und plötzlich sagen: „Ja, wenn sie einer verletzt, interessiert uns das nicht so; Hauptsache ist unser Wohlstand.“

Schülerin: Wir müssen weitermachen.

BK'in Merkel: Geben Sie ihm eine Frage, ich mache es kurz. Sie schauen schon fast wie die Fernsehreporter in der Talkshow, die immer nur auf die Uhr schauen und sagen: „Schon wieder so viel Zeit vergangen“.

Schülerin: Okay, dann nur noch ganz kurz zu der Situation der Bürger auf der Krim. Ich denke, wir müssen nicht darüber streiten, dass es unrechtmäßig war, dass Russland die Krim einfach eingenommen hat. Es gibt dennoch einige Bürger, die wirklich davon profitieren. Man hat kaum irgendwelche Beschwerden mitbekommen, dass es den Leuten schlechter gehen würde. Zum Beispiel die Situation der Ärzte, die vorher von einem Monatslohn von umgerechnet 75 Euro leben mussten: Die erhalten mittlerweile fast das Zehnfache. Es gibt einige Leute, die von der stärkeren russischen Wirtschaft profitieren. Wie würden Sie das einschätzen?

BK'in Merkel: Ich hoffe einmal, dass es die wirkliche Stärke der russischen Wirtschaft ist. Vielleicht hat man bestimmten Gruppen auch erst mal etwas gegeben, damit sie dableiben und nicht abhauen und die medizinische Versorgung zusammenbricht. In der DDR war das so: Bevor die Mauer gebaut wurde, haben die Ärzte das Blaue vom Himmel versprochen bekommen, damit sie ja nicht nach Westdeutschland flüchten. Also, das beeindruckt mich jetzt nicht, wenn der Arzt plötzlich das Zehnfache bekommt.

Wissen Sie, wie es den Krimtataren geht? Ich weiß es gar nicht. Das war eine richtige Frage, weil Sie jetzt sagen, Sie wissen es von den Ärzten auf der Krim. Ich weiß im Augenblick ziemlich wenig darüber, wie es den Menschen auf der Krim geht.

Anfang der Neunzigerjahre, als die Ukraine sich von der Sowjetunion losgesagt hat und selbstständig wurde, gab es schon einmal ein Referendum in der ganzen Ukraine, ob man von Russland unabhängig sein möchte. Das ist gewonnen worden, und auf der Krim ist es auch gewonnen worden, aber ganz knapp. Das heißt, es kann sehr gut sein, dass die Hälfte auf der Krim gern nach Russland möchte und die andere Hälfte nicht. Die einen werden sich wohlfühlen und die anderen vielleicht weniger.

Was ich nur vorwerfe, ist: Man hätte vielleicht, wie jetzt die Briten bei Schottland, mit der Ukraine darüber verhandeln können, ob es noch einmal ein Referendum auf der Krim gibt, mit internationalen Wahlbeobachtern usw. Was man gemacht hat, ist eine Abstimmung nach 14 Tagen, wo kein Mensch schauen konnte. Jetzt bin ich mir nicht ganz sicher, dass es der Masse der Leute unbedingt besser geht. Die Krim hat im Augenblick an vielen Tagen sechs Stunden Stromabschaltung, weil sie von ukrainischen Kraftwerken abhängig sind, weil die aus Donezk keine Kohle bekommen. Also: unklar.

So, ich wollte kurz antworten.

Schüler: Vielen Dank!

Schülerin: Von mir auch noch einmal herzlich willkommen. Ich bin jetzt die Letzte im Bunde. Wir haben angefangen mit Deutschland, DDR, Deutscher Einheit, sind dann über Europa in die Ukraine gegangen. Ich würde jetzt als Abschluss gern etwas internationaler werden und Ihnen ein paar Fragen stellen zu unserer Verantwortung in der Welt.

Gegenwärtig haben wir die IS-Kämpfer, wir haben Bürgerkriege, allgemeine Unruhen. Was denken Sie, was unser Beitrag ist? Was sollen wir tun, was können wir noch tun zu den Dingen, die wir sowieso schon tun? Was ist da die Rolle Deutschlands in der Welt?

BK'in Merkel: Wir haben eine Verantwortung. Wir sind sicherlich keine Supermacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika. Das hat die einfachere Seite, dass wir sicherlich nicht bei jedem Konflikt als Erste eingreifen müssen und auch militärisch gar nicht so stark sind. Wir sehen jetzt bei den Kämpfen beim Islamischen Staat, dass man da, um Jesiden zu retten oder um Menschen aus Not zu retten, wirklich hart vorgehen muss. Aber wir können uns auf gar keinen Fall wegducken. Wir sind die größte Volkswirtschaft Europas. Wir müssen in der Koalition, in der Gemeinsamkeit mit Ländern in bestimmten Fällen mit dabei sein.

Wo sind unsere Stärken? Ich glaube, wir werden auf der Welt schon dafür geachtet, dass wir zum Beispiel so etwas wie die Deutsche Einheit zustande gebracht haben. Ich werde in Afrika und in Lateinamerika oft angesprochen, dass uns das gelungen ist, dass sich Menschen aus ganz unterschiedlichen Systemen heute gut miteinander vertragen. Natürlich haben wir im Osten Westfernsehen, viele Gemeinsamkeiten und Verwandte gehabt, aber über Jahrzehnte immer noch unterschiedlich gelebt. Deshalb nimmt man uns zum Teil auch als sehr ehrliche Vermittler wahr. Man sagt, wir haben nicht so viele Eigeninteressen.

Was ich wichtig finde, ist, dass wir uns auch langfristig engagieren, also nicht: „Heute ist das Thema in der Krise, und morgen ist das Thema, und dann sind wir wieder auf dem nächsten Platz“, sondern dass wir auch in Afghanistan weiter unserer Verantwortung nachgehen, dass wir auf dem westlichen Balkan, in Bosnien und im Kosovo weiter dabei sind und nicht gleich den vorletzten Konflikt vergessen, weil wir mit dem letzten noch beschäftigt sind und morgen schon wieder auf dem nächsten sind. Aber die Welt ist unübersichtlich geworden.

Was heute noch nicht entschieden ist und woran wir auch in Europa weiter arbeiten müssen, ist: Wie können wir auch europäisch handeln? Jetzt haben wir diese schreckliche Ebola-Katastrophe. Im Grunde gibt es internationale Organisationen wie die Weltgesundheitsorganisation - da geben wir auch Geld hin - oder den UNHCR, die sich um Flüchtlinge kümmern. Aber wir erleben dann oft - das ist jetzt kein Vorwurf -, dass die organisatorische Kapazität dieser internationalen Organisationen nicht groß ist, und dann sagt man: „Jetzt musst du doch bilateral handeln“, Deutschland mit Liberia zum Beispiel bei Ebola.

Da sind wir in Europa nicht schlagkräftig und auch nicht schnell genug; das muss man schon sagen. Da würde ich mir wünschen, dass wir einfach schneller handlungsfähig sind. Jetzt zum Beispiel bei Ebola sind wir in der Situation: Wir müssen nicht nur Betten dorthin schaffen - das könnten wir machen -, sondern wir brauchen Ärzte, die Ärzte müssen ausgebildet werden. Auf europäischer Ebene funktioniert so etwas noch sehr langsam. Im Sicherheitsbereich, also im militärischen Bereich, funktioniert das besser, aber im Bereich des zivilen Schutzes, bei Krankheiten, bei Naturkatastrophen, auf der europäischen Ebene nicht so gut.

Deshalb sind wir aber auch sehr anerkannt mit unserem Technischen Hilfswerk, mit unseren Feuerwehren. Wir sind schon sehr anerkannte Helfer auf der Welt, wenn es um Naturkatastrophen geht.

Schülerin: Würden Sie auch sagen, dass wir uns als Deutschland erst einmal zurückhalten, aber als EU mehr eintreten sollten?

BK'in Merkel: Nein, nein, das würde ich nicht sagen. Wir müssen uns nur abstimmen. Wir können nicht der EU das Geld geben, und anschließend müssen wir als Deutschland trotzdem handeln, sondern wir müssen zu jeder finanziellen Ausstattung auch eine schlagkräftige Einheit haben, die handeln kann. Aber es wird auf Jahre noch bestimmte Fähigkeiten geben. Schauen Sie: So etwas wie das Technische Hilfswerk, das hier in Deutschland überall vor Ort ist, das kann auf der Welt bei bestimmten Sachen sehr schnell helfen und soll es auch weiter. Die Bundeswehr wird auch bei bestimmten Sachen weiter helfen. Bestimmte Sachen werden aber auch zum Beispiel über die Nato oder über die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik gemacht werden.

Unsere Erfahrung ist nur: Wenn Sie einen Polizisten für eine europäische Polizeimission rekrutieren wollen, dauert es bestimmt mehrmals so lang wie in Deutschland, und in Deutschland dauert es schon lang. Das muss verändert werden; das meinte ich.

Schon zu Ende?

Schülerin: Nein, aber wir wollten noch ein paar Fragen aus dem Publikum haben.

BK'in Merkel: Wie viele Fragen hatten Sie noch?

Schülerin: Ich hätte noch ein paar zu ISIS gehabt, wie wir da jetzt weiter vorgehen, ob wir wie die USA gemeinsam mit den Assad-Truppen uns vielleicht zusammentun könnten oder ob Sie das erst einmal - - -

BK'in Merkel: Nein.

Schülerin: Danke für diese eindeutige Antwort.

BK'in Merkel: Nein, ich glaube, wir sollten uns nicht mit den Assad-Truppen zusammentun. Dann würden wir viele Menschen unglaublich enttäuschen. In Syrien sind schon bald 150.000 Menschen oder mehr gestorben, die haben ihr Leben dafür gegeben. Das dürfen wir nicht. Trotzdem müssen wir jetzt erst einmal schauen, dass wir IS Herr werden. Aber gerade auf dem syrischen Staatsgebiet ist das eine Aufgabe, über die wir durchaus noch keine gemeinsame Haltung haben, die Erfolg verspricht, sondern da müssen wir die Situation jeden Tag analysieren.

So, jetzt!

Schüler: Ich hätte eine Frage, und zwar: Sie haben jetzt Deutschland eher mit einer helfenden Rolle in der Welt beschrieben. Ich wollte fragen, was Sie so zum Waffenhandel in Deutschland sagen. Denn wir sind der Größte in Europa und der Drittgrößte auf der Welt. Das wäre meine Frage.

BK'in Merkel: Wir haben sehr strenge Exportbestimmungen für Waffen und müssen deshalb auch in jedem Einzelfall entscheiden. Wenn wir unseren Nato-Bündnispartnern oder den europäischen Mitgliedstaaten Waffen liefern, dann ist das eine einfachere Sache. Aber im Zusammenhang mit Staaten, die nicht der Nato angehören, muss jedes Mal im Einzelfall entschieden werden.

Wir erleben, dass eine Zusammenarbeit mit bestimmten Staaten auch mit der Erwartung erfüllt ist, dass wir auch Waffenlieferungen machen. Ich sage ein Beispiel, über das oft sehr kritisch diskutiert wird. Saudi-Arabien ist ein Partner im Kampf gegen den Terrorismus, obwohl wir vieles, was innenpolitisch in Saudi-Arabien passiert, nicht teilen. Wenn man mit solchen Partnern zusammenarbeitet, dann hat uns Saudi-Arabien zum Beispiel sehr geholfen, als wir Geiseln im Jemen hatten, dann wollen sie mit uns aber auch eine Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung machen. Wenn wir eine Zusammenarbeit bei der Grenzsicherung machen, dann können wir nicht sagen: „Passt mal auf, wir geben euch einen Zaun, aber sonst keine Ausrüstung, keine Nachtsichtgeräte, keine Sachen, mit denen ihr euch verteidigen könnt, wenn Angreifer an eurer Grenze sind.“

Das sind so Fragen, wo man jedes Mal genau abwägen muss: Mache ich das, oder mache ich das nicht? Wenn ich überlege: „Wen statte ich aus im Kampf gegen den Terrorismus zum Beispiel auf dem Mittelmeer?“, dann kommt man sofort in die Fragen: Katar ja/nein, Vereinigte Arabische Emirate ja/nein? Wenn wir denen allen sagen: „Passt mal auf, wir wollen mit euch gemeinsam gegen Terrorismus kämpfen und jetzt auch gegen IS, aber wir finden euch so wenig akzeptabel, dass wir euch in keinem Fall Waffen geben“ - - - Jetzt kann man immer noch über die Art der Waffe nachdenken; denn wenn man die Waffe als Repression nach innen, also als Unterdrückungsmaßnahme, verwenden kann, dann ist das schwieriger. Aber das wird abgewogen.

Wir sind nicht besonders weitherzig, aber wir haben auch einige Produkte, die auf der Welt sehr anerkannt sind. Das ist nun auch ein Beispiel dafür, dass deutsche Technologie relativ gut ist. Deshalb haben wir auch sehr viele Anfragen, viel mehr Anfragen, als wir überhaupt genehmigen.

Schülerin: Danke schön! Dann würde ich jetzt die Diskussion beenden, weil wir leider keine Zeit mehr haben.

BK'in Merkel: Nehmen Sie noch eine Frage.

Schülerin: Guten Tag, Frau Merkel! Ich habe eine Frage zum Thema Grundgesetz. Es wurde 1949 in Kraft gesetzt, und man wollte es damals noch nicht Verfassung nennen, da die BRD und die DDR noch nicht vereint waren. Im letzten Artikel steht, dass das Grundgesetz so lange gültig ist, bis eine Verfassung in Kraft tritt. Nun sind wir schon seit 25 Jahren vereint, und ich wollte fragen, wann das der Fall sein wird.

BK'in Merkel: Es steht da, dass dieses vorläufige Grundgesetz so lange in Kraft ist, bis das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung über eine wirkliche Verfassung abstimmt. Jetzt ist die Frage: Wann gibt es dazu die Notwendigkeit, und wie wird der Diskussionsprozess dazu stattfinden? Das ist natürlich sehr, sehr kompliziert. Deshalb hat man bis jetzt gesagt: Unser Grundgesetz ist eigentlich ganz gut geeignet, auf die Probleme zu antworten.

Ich weiß nicht - das steht jetzt nicht ins Haus -, ob nicht eines Tages ein Punkt kommt, durch die europäische Integration. Sie haben mich nach den Visionen gefragt. Wenn wir zum Beispiel sagen, wir wollen eine europäische Armee haben, wir wollen eine europäische Sozialversicherung haben, dann hat das Bundesverfassungsgericht gesagt: Wenn die Elemente, die zu einem Staat gehören, nicht mehr in dem Nationalstaat Deutschland abgebildet sind, sondern doch zu viel an Kompetenz nach Brüssel wandert, dann muss man überlegen, dass man sich eine neue Verfassung gibt.

Ich sehe den Zeitpunkt im Augenblick nicht gekommen, weil auch viele andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union gar kein Interesse verspüren, mehr Dinge nach Brüssel zu geben. Aber ich schließe nicht aus, dass zu Ihrer Lebenszeit noch einmal eine solche Diskussion aufkommt.

Die Allerallerletzte! Hier vorne gibt es noch so eine nette Wortmeldung.

Schülerin: Ich hätte eine Frage. Ich bin so aufgeregt, also wenn ich mich verspreche, dann tut es mir leid. Sie haben Israel nicht direkt versprochen, aber Sie haben gesagt, dass Deutschland hinter Israel stehen wird. Da wollte ich fragen, warum es bedingungslos versprochen wurde, also warum es nicht eingeschränkt wurde, und welche Vorteile Deutschland daraus zieht. Denn so ein Versprechen gibt man ja nicht einfach so.

BK'in Merkel: Das hat natürlich mit unserer Geschichte zu tun. Das, was wir Shoah oder Holocaust nennen, dass sich Deutschland in der Zeit des Nationalsozialismus angeschickt hat, Menschen einfach zu vernichten, zu töten, nur weil sie Juden sind - sie mussten überhaupt nichts gemacht haben, einfach geboren und Jude: dem Tode geweiht -, das ist eine schwere Schuld, für die wir jetzt nicht individuell Verantwortung tragen, aber die ein wesentlicher, nicht der einzige, Gründungsimpuls für den Staat Israel war.

Als ich das erste Mal in Israel war und Yad Vashem besucht habe, diese Gedenkstätte für die ermordeten Juden, da hatte ich eine Führerin, die war als Jüdin aus Österreich geflohen. Es war für mich ein sehr persönliches Erlebnis. Diese Frau wäre freiwillig nie nach Israel gegangen, sondern wir haben sie im Grunde vertrieben.

Jetzt haben wir nichts weiter gesagt, als dass das Recht des Staates Israel, zu existieren, für uns zur Staatsräson gehört. Das heißt nicht, dass ich nicht israelische Politik kritisieren kann. Ich finde zum Beispiel den Siedlungsbau absolut abträglich einer Zweistaatenlösung, weil ich auch eine Lösung für den palästinensischen Staat möchte. Darüber gibt es sehr kritische Diskussionen, auch zwischen dem Premierminister Israels und mir. Aber wenn es an das Recht des Staates geht, zu existieren, wenn man ihn einfach wieder auslöschen will, dann sage ich aus der deutschen Verantwortung heraus: „Mit uns nicht!“, dann stehen wir an der Seite Israels.

Schülerin: Dann noch einmal danke schön, dass Sie hier waren und danke für die ganzen Fragen, die wir hatten. Ohne euch hätten wir das hier gar nicht geschafft.

BK'in Merkel: Danke auch für die Vorbereitung, wollte ich sagen.

Schülerin: Das wäre übrigens auch noch meine Frage gewesen, mit Israel. Also bin ich doch ganz froh, dass die jetzt gestellt wurde.

BK'in Merkel: Na bitte, so fügt es sich manchmal. Danke schön.

Ich bedanke mich auch bei all denen, die jetzt nicht hier im Saal sein können, für den tollen Empfang. Ich hoffe, Sie hatten nicht zu viele Unannehmlichkeiten im Vorfeld. Nein - gut. Man weiß immer nicht, was so alles passiert, bevor ich anrausche.

Ansonsten: Sie wachsen in eine Welt hinein, wo Sie unglaubliche Chancen haben, die ich, als ich so alt war, nicht hatte. Aber Sie müssen von uns auch wissen: Wir wissen auch, dass Sie ganz andere Probleme haben. Was wir mit Flüchtlingen, mit der Armut auf der Welt, mit den Konflikten besprochen haben, das wird auch Ihr Leben beherrschen. Deshalb wünsche ich mir einfach, dass Sie offen und neugierig bleiben und immer nach dem rechten Weg suchen. Die Welt ist selten schwarz und weiß, sondern meistens sehr bunt.

Danke schön!