"Wir hatten einen Weihnachtsbaum wie die meisten DDR-Familien"

Mirna Funk - als Jüdin in der DDR  "Wir hatten einen Weihnachtsbaum wie die meisten DDR-Familien"

Mirna Funk ist Jüdin, Ostdeutsche und Kosmopolitin: Im Interview erklärt die in Berlin lebende Schriftstellerin 30 Jahre nach dem Mauerfall, wie sie die Flucht ihres Vaters aus der DDR als Kind erlebt hat - und welche Konsequenzen das für sie hatte. 

4 Min. Lesedauer

Foto zeigt Mirna Funk

Als ihr Vater aus der DDR floh, wurde Mirna Funk klar, dass es Ost-Berlin und West-Berlin gibt.

Foto: Shai Levy

Frau Funk, welche Erinnerungen haben Sie an Ihre Kindheit in der DDR?
Mirna Funk: Ich habe natürlich einen sehr unreflektierten und kindlichen Blick auf die DDR. Ich wurde 1987 eingeschult, hatte dementsprechend wie fast jedes Kind als Pionier ein blaues Halstuch. Jeden Freitag mussten wir zum Fahnenappell. Ich erinnere mich außerdem an die kleinen Milchtüten in Dreiecksform, die in der Schule verkauft wurden – und dass sie im Schulranzen immer aufgingen. Das ist mir auch passiert und seitdem ist mein Pionierausweis gewellt. Diesen gewellten und fleckigen Ausweis hat meine Mutter heute noch. 

Zuhause hatten wir kein Telefon. Zum Telefonieren sind wir zu meinem Großvater gefahren, der war Technischer Leiter des Palasts der Republik und hatte daher eines. Er lebte auch in einem Neubau mit Zentralheizung und warmem Wasser aus der Leitung, das gab es bei uns nicht. An diese lebensnahen Dinge erinnere ich mich noch sehr genau. 

Wie haben Sie die DDR als Staat wahrgenommen?
Funk: Ich habe den Staat als Kind nicht als einengend wahrgenommen. Wie auch? Ich war nur ein Kind. Erst als mein Vater kurz vor dem Mauerfall aus der DDR geflüchtet ist, wurde mir bewusst, dass etwas nicht normal war. 

Warum ist Ihr Vater geflüchtet?
Funk: Ich denke, mein Vater hat sich eingeengt gefühlt und war mit dem System nicht einverstanden. Seine Flucht hatte aber auch Konsequenzen für mich: Ich musste in der Schule mit der Direktorin sprechen, sie hat mir Fragen zu seiner Flucht gestellt. Außerdem durfte ich meine beste Freundin nicht mehr abholen, um mit ihr zur Schule zu gehen. Mir wurde mit einem Mal klar: Mein Vater ist weg, ich kann ihn nicht mehr sehen. Das hat zu einer politischen Dimension in meinem Leben geführt, die ich davor selbstverständlich nicht hatte. Dass es Ost-Berlin und West-Berlin gibt, begriff ich erst zu diesem Zeitpunkt.

Hatten Sie Kontakt in den Westen? 
Funk: Ich hatte unregelmäßig Kontakt zu meinem Vater. Wir telefonierten, er schickte Pakete und Briefe. Manche wurden aber auch abgefangen. Welche das waren, sah ich viele Jahre später, nachdem mein Vater seine Stasi-Akte abgeholt hatte. Da lagen auch Briefe von mir an ihn drin. Ein anderes Mal ist mein Großvater in den Westen gefahren, um seinen Vater zu besuchen. Der lebte schon seit Jahrzehnten in Norddeutschland. Als er wiederkam, hatte er mehrere Koffer voller Sachen dabei. Aufgeregt wartete ich darauf, dass er aus dem Koffer mehr als nur Kiwis, Kaffee und Seife zieht. Aber die erhoffte Barbie war nicht dabei. Die bekam ich erst nach dem Mauerfall.

Sie sind Jüdin. Welche Rolle spielte der Glaube für Sie und Ihre Familie in der DDR?
Funk: Viele der Juden in der DDR waren Kommunisten und haben sich politisch mit dem System identifiziert. Etliche waren politisch engagiert, bekleideten hohe Ämter und haben den Staat kulturell, intellektuell und politisch geprägt – sie waren also viel aktiver als im Westen. Meine Familie väterlicherseits waren auch kommunistische Juden. Religiöse jüdische Feste waren in meiner Familie nicht wichtig. Wir hatten einen Weihnachtsbaum wie die meisten DDR-Familien – ganz ohne religiösen Bezug. Die Menora stand trotzdem im Bücherregal. In vielen jüdischen Familien lief das so ab. 

Auch heute spielt die Religion für viele Juden keine große Rolle. Die Meisten sehen sich als Teil einer Kulturgemeinschaft. Das ist ein klassischer Irrglaube in der Gesellschaft: Jude zu sein bedeutet, die jüdische Religion zu leben. Nein, jeder Jude definiert sein Jüdischsein individuell.

Wie haben Sie den Mauerfall erlebt? 
Funk: Ich saß mit meiner Mutter im Wohnzimmer und Schabowski las seinen bekannten Satz vor: "Das trifft nach meiner Kenntnis … ist das sofort, unverzüglich." Dann sagte ich zu meiner Mutter: "Jetzt können wir ja Papa wiedersehen." Und sie antwortete nur: "Du spinnst!" Am nächsten Tag fehlte die Hälfte der Schüler in meiner Klasse. Meine Mutter hat mich allerdings weiter in die Schule geschickt. Am Samstag nach dem Mauerfall, wir hatten damals auch samstags Schule, saß ich mit drei Schülern in der Klasse. So ein merkwürdiger Tag. Am Samstagabend sind wir dann nach West-Berlin gefahren, zu meinem Vater nach Steglitz, und haben dort im Schlafsack auf dem Boden geschlafen. 1991 bin ich dann mit meinem Vater das erste Mal nach Israel gereist, um einen Teil unserer Familie zu besuchen. 

Mirna Funk wurde 1981 in Ostberlin als Urenkelin des berühmten DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin geboren. Sie ist Schriftstellerin und Kolumnistin. Funk studierte Philosophie und Geschichte an der Humboldt-Universität und lebt mit ihrer vierjährigen Tochter in Berlin und Tel Aviv.