Fragen zu Europa
Im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas haben Studentinnen und Studenten aus ganz Europa mit Kanzlerin Merkel diskutiert. Mit dabei waren Stella Kim aus Deutschland, Ophélie Ranquet aus Frankreich und Jan Tylk aus Tschechien. Im Interview erzählen sie von ihren Erfahrungen mit und ihre Sicht auf Europa.
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Frau Ranquet, Sie haben gleich in mehreren Mitgliedstaaten der EU studiert. Was hat Sie dazu motiviert?
Ranquet: Neben dem Wunsch, Fremdsprachen zu lernen oder zu verbessern, war es vor allem die Neugier, die mich in andere EU-Länder zog: sich auszutauschen und von anderen lernen zu wollen; zu erkennen, dass unsere Prinzipien im Grunde die gleichen sind, auch wenn sie sich unterschiedlich ausdrücken. Und das ist das Schöne daran.
Ophélie Ranquet (26) kommt aus Colmar im französischen Elsass. Bereits während ihres Chemiestudiums in Straßburg verbrachte sie mit Erasmus ein Semester in Trondheim, Norwegen. 2019 hat sie eine internationale Promotion begonnen, die sie mit einer Station in Pisa, einer Kooperation in München und insbesondere am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) schreibt.
Sie waren in Deutschland, Herr Tylk. Warum haben Sie sich dafür entschieden?
Tylk: Schon seit Jahren lerne ich Deutsch. Ich benutze die Sprache sehr oft auch in meinem privaten Leben. Am Gymnasium hatte ich die Möglichkeit, vier Wochen in Marburg zu verbringen. Der Aufenthalt wurde vom DAAD organisiert. Schon damals fand ich Deutschland einfach schön und interessant. Jetzt an der Uni wollte ich die Möglichkeit nutzen, mit Erasmus Deutschland zu besuchen, um das Land besser kennenzulernen und neue Kontakte zu knüpfen.
Jan Tylk ist 25 Jahre alt und kommt aus der tschechischen Stadt Jindřichův Hradec. Er studiert Applied and Enviromental Geology an der Masaryk Universität in Brünn. Er verbrachte das Wintersemester 2020/21 als Erasmus-Student an der RWTH Aachen.
Haben Ihre Aufenthalte in Schottland und Italien Ihre Sicht auf die EU verändert, Frau Kim?
Kim: Meine Auslandsaufenthalte haben meine Dankbarkeit für die EU und ihre Errungenschaften wie Reisefreiheit und Währungsunion nur bestärkt – ich habe keine Studentenvisa oder irgendwas gebraucht. Der bürokratische Aufwand war wirklich gering dafür, dass ich im Ausland studieren konnte.
Die Heidelbergerin Stella Kim (23) macht gerade einen internationalen Master in Security, Intelligence and Strategic Studies an der University of Glasgow in Schottland. Ihr Erasmus Mundus Master führt sie jedes Semester in ein anderes europäisches Land. Derzeit ist sie an der Universität Trient in Italien; die letzte Station ist die Universität in Prag in Tschechien.
Aber verändert sich nicht umgekehrt auch der Blick auf das Heimatland?
Ranquet: Ja, ich verstehe jetzt ein bisschen besser, woher einige der Klischees kommen! Zum Beispiel wird oft gesagt, dass die Franzosen sich viel beschweren, meckern und viel protestieren. Das dachte ich auch. Dem ist aber nicht so: Wir Franzosen beschränken uns einfach nicht auf den privaten Bereich. In anderen Ländern neigen die Menschen hingegen dazu, dies nur vor ihren Freunden und Verwandten zu tun. Es ist einfach eine Frage der Perspektive.
Und wie wird die EU in Ihrem Heimatland wahrgenommen?
Tylk: Mit der EU ist es in meinem Heimatland schwierig. Für viele Politiker ist die EU eine gute Ausrede, wenn etwas in Tschechien nicht funktioniert. Viele Menschen fühlen sich dann nicht als ein Teil der EU. Für viele ist die EU allerdings ein großer Arbeitgeber und mit der tschechischen Wirtschaft ist die EU sehr verbunden. Viele Leute entdecken allerdings in diesen Zeiten, dass die EU für Tschechien ganz wichtig ist, weil sie aufpasst, dass die Gesetze in Tschechien beachtet werden. Ohne diese Aufsicht würde es jetzt in Tschechien vielleicht noch anders aussehen.
Ranquet: Im Elsass ist die EU für die Meisten eine logische Institution: Das EU-Parlament ist in Straßburg. Es gibt viele ausländische Studenten und Arbeitnehmer in der Region. Selbst im Rest Frankreichs, denke ich, dass die Menschen, zumindest in meiner Generation, Europa als etwas Notwendiges und Unverzichtbares für die Entwicklung des Landes sehen.
Welche Bedeutung hat die EU für Ihr Leben?
Kim: Wenn man die einzelnen Aspekte, die die EU in meinem Alltag beeinflusst, hervorhebt, wird die Bedeutung der EU schnell deutlich: Es beginnt mit dem „Roam like home“ und dem Verfall von Roaminggebühren im europäischen Ausland, mit dem ich kostengünstig mit Freunden und Familie daheim während meines Auslandsaufenthaltes in Kontakt bleiben konnte. Gleichzeitig ist mein aktuelles Masterstudium nur dank der EU und Erasmus möglich. Durch die EU habe ich die Freiheit, unkompliziert in einem anderen Land zu leben, zu studieren und zu arbeiten. Die EU ist so für mich eine einzigartige Chance!
Tylk: Ich persönlich habe die EU in Tschechien wenig gespürt. Hier ist die EU entweder der bürokratische Apparat, der sinnlose Regeln vorgibt oder der Radwege baut. Daneben gibt es nicht viel. In Deutschland habe ich entdeckt, dass es auch anders aussehen kann. Durch das Auslandsstudium ist für mich deutlich geworden, dass wir, die Menschen, selber die EU bilden.
Hat sich die Bedeutung der EU durch oder nach Ihren Auslandsaufenthalten verändert, Frau Ranquet?
Ranquet: Ich hatte und habe immer noch viel Freude daran, Gemeinsamkeiten in unseren unterschiedlichen Kulturen zu finden, in unserem Wortschatz, unseren Küchen, aber auch in unseren Traditionen. Meine Vision von Europa hat sich durch meine Auslandserfahrungen erheblich erweitert.
Haben Europäerinnen und Europäer etwas gemeinsam?
Tylk: Meiner Meinung nach haben die Europäerinnen und Europäer fast alles gemeinsam. Ob man in Tschechien, Deutschland oder Frankreich mit Menschen spricht: Es haben alle die gleichen Sorgen und Freuden, sie hören die gleiche Musik oder verbringen gerne Zeit mit ihren Freunden. Es gibt schon sprachliche und kulturelle Unterschiede, aber ich glaube, die sind mindestens in Europa nicht so markant, dass wir uns nicht verstehen könnten.
Gibt es Ihrer Ansicht nach eine europäische Identität?
Kim: Hier stellt sich für mich als erstes die Frage, was eine europäische Identität ausmacht. Ich persönlich denke, eine europäische Identität kann man am besten als einen kulturellen Werteverbund, der zusätzlich bzw. ergänzend zu nationalen Identitäten existiert, aber keineswegs die nationale Identität ersetzen soll, beschreiben. In meiner Generation würde ich sagen, dass eine europäische Identität auf jeden Fall zu einem gewissen Grad existent ist. Projekte wie Erasmus ermöglichen es, Erfahrungen im europäischen Ausland zu sammeln und seine eigene Identität neu zu definieren.
Ranquet: Ja, definitiv. Aber das merkt man erst, wenn man die Komfortzone Europas verlässt. Wenn ich um die Welt reise, fühle ich mich als Europäerin. In Europa fühle ich mich eher als Französin. Aber in letzter Zeit dann doch immer mehr als Europäerin. Ich denke, dass das unsere Stärke ist. Die Corona-Pandemie war allerdings ein Rückschlag.
Wie können wir in Europa noch enger zusammenwachsen?
Kim: Ein Ansatz dazu wäre, Möglichkeiten wie Erasmus noch mehr auszubauen und noch zugänglicher zu machen. Ein Verständnis für die anderen Länder außer seinem Heimatland zu gewinnen, ist eben der interkulturelle Austausch, wie durch Erasmus oder auch Interrail. Der Schlüssel liegt im Verständnis und in der Wertschätzung für die kulturelle Vielfalt und in der Handlungsfähigkeit der EU. Europäische Diversität weiterhin zelebrieren zu können, ist eine Bereicherung und, dass wir trotz dieser Vielfalt uns geeint sehen können, dafür lohnt es sich zu kämpfen.