in Berlin vor dem Deutschen Bundestag
(Protokoll des Deutschen Bundestages)
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir erleben ganz und gar außergewöhnliche, ernste Zeiten. Und wir alle, Regierung und Parlament, unser ganzes Land, werden auf eine Bewährungsprobe gestellt, wie es sie seit dem Zweiten Weltkrieg, seit den Gründungsjahren der Bundesrepublik Deutschland nicht gab. Es geht um nicht weniger als das Leben und die Gesundheit der Menschen. Und es geht um den Zusammenhalt und die Solidarität in unserer Gesellschaft und in Europa.
Ich stehe vor Ihnen als Bundeskanzlerin einer Bundesregierung, die in den vergangenen Wochen zusammen mit den Bundesländern Maßnahmen beschlossen hat, für die es kein historisches Vorbild gibt, an dem wir uns orientieren könnten. Wir haben Ihnen, dem Parlament, Gesetzentwürfe zugeleitet und Sie um die Bewilligung von Finanzmitteln in einer Höhe gebeten, wie sie vor der Coronapandemie schlicht außerhalb unserer Vorstellungen lag. Ich danke von Herzen dafür, dass der Deutsche Bundestag wie im Übrigen ja auch der Bundesrat unter schwierigen Umständen die gesetzlichen Maßnahmen äußerst schnell beraten und beschlossen hat.
Wir leben nun seit Wochen in der Pandemie. Jeder Einzelne von uns hat sein Leben den neuen Bedingungen anpassen müssen, privat wie beruflich. Jeder von uns kann berichten, was ihm oder ihr besonders fehlt, besonders schwerfällt. Und ich verstehe, dass dieses Leben unter Coronabedingungen allen schon sehr, sehr lange vorkommt.
Niemand hört es gerne, aber es ist die Wahrheit: Wir leben nicht in der Endphase der Pandemie, sondern immer noch an ihrem Anfang. Wir werden noch lange mit diesem Virus leben müssen. Die Frage, wie wir verhindern, dass das Virus zu irgendeinem Zeitpunkt unser Gesundheitssystem überwältigt und in der Folge unzähligen Menschen das Leben kostet, wird noch lange die zentrale Frage für die Politik in Deutschland und Europa sein.
Mir ist bewusst, wie schwer die Einschränkungen uns alle individuell, aber auch als Gesellschaft belasten. Diese Pandemie ist eine demokratische Zumutung; denn sie schränkt genau das ein, was unsere existenziellen Rechte und Bedürfnisse sind – die der Erwachsenen genauso wie die der Kinder. Eine solche Situation ist nur akzeptabel und erträglich, wenn die Gründe für die Einschränkungen transparent und nachvollziehbar sind, wenn Kritik und Widerspruch nicht nur erlaubt, sondern eingefordert und angehört werden – wechselseitig.
Dabei hilft die freie Presse. Dabei hilft unsere föderale Ordnung.
Dabei hilft aber auch das wechselseitige Vertrauen, das die letzten Wochen hier im Parlament und überall im Land zu erleben war. Wie selbstverständlich sich die Bürgerinnen und Bürger füreinander eingesetzt haben und sich eingeschränkt haben als Bürgerinnen und Bürger für andere, das ist bewundernswert.
Lassen Sie mich Ihnen versichern: Kaum eine Entscheidung ist mir in meiner Amtszeit als Bundeskanzlerin so schwergefallen wie die Einschränkungen der persönlichen Freiheitsrechte.
Auch mich belastet es, wenn Kinder im Moment nicht einfach ganz unbeschwert ihre Freundinnen und Freunde treffen können und das so vermissen. Auch mich belastet es, wenn Menschen derzeit grundsätzlich nur mit einem weiteren Menschen außerhalb ihres eigenen Hausstands spazieren gehen können und immer auf den so wichtigen Mindestabstand achten müssen.
Auch mich belastet ganz besonders, was die Menschen erdulden müssen, die in Pflege-, Senioren-, Behinderteneinrichtungen leben. Dort, wo Einsamkeit ohnehin zum Problem werden kann, ist es in Zeiten der Pandemie und ganz ohne Besucher noch viel einsamer. Es ist grausam, wenn außer den Pflegekräften, die ihr Allerbestes tun, niemand da sein kann, wenn die Kräfte schwinden und ein Leben zu Ende geht. Vergessen wir nie diese Menschen und die zeitweilige Isolation, in der sie leben müssen. Diese 80-, 90-Jährigen haben unser Land aufgebaut. Den Wohlstand, in dem wir leben, haben sie begründet.
Sie sind Deutschland genau wie wir, ihre Kinder und Enkel. Und wir kämpfen den Kampf gegen das Virus auch für sie. Ich bin deshalb auch überzeugt, dass die so harten Einschränkungen dennoch notwendig sind, um diese dramatische Krise als Gemeinschaft zu bestehen und das zu schützen, was unser Grundgesetz in das Zentrum unseres Handelns stellt: das Leben und die Würde jedes einzelnen Menschen.
Durch die Strenge mit uns selbst, die Disziplin und Geduld der letzten Wochen haben wir die Ausbreitung des Virus verlangsamt. Das klingt wie etwas Geringes, aber es ist etwas ungeheuer Wertvolles. Wir haben Zeit gewonnen und diese wertvoll gewonnene Zeit gut genutzt, um unser Gesundheitssystem weiter zu stärken.
Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen im medizinischen Bereich sind die Intensivstationen. Dort entscheidet sich das Schicksal für die am schwersten von Corona Betroffenen. Wir alle kennen die furchtbaren Berichte aus Krankenhäusern in einigen Ländern, die vom Virus ein paar Wochen lang schlicht überrannt waren. Dass es dazu nicht kommt, das ist das schlichte und gleichzeitig so anspruchsvolle Ziel der Bundesregierung. Ich danke unserem Gesundheitsminister Jens Spahn, aber auch den Gesundheitsministern der Länder, die so unermüdlich auf dieses Ziel hinarbeiten – und mit sichtbaren Erfolgen.
Wir haben die Anzahl der Beatmungsbetten deutlich ausgeweitet. Mit dem COVID-19-Krankenhausentlastungsgesetz haben wir sichergestellt, dass die Krankenhäuser die zusätzlichen Intensiversorgungskapazitäten aufbauen können. So können wir heute feststellen: Unser Gesundheitssystem hält der Bewährungsprobe bisher stand. Jeder Coronapatient erhält auch in den schwersten Fällen die bestmögliche menschenwürdige Behandlung.
Mehr als allen staatlichen Maßnahmen verdanken wir das der aufopfernden Arbeit von Ärzten und Ärztinnen, von Pflegekräften und Rettungssanitätern, von so vielen Menschen, die mit ihrem Fleiß und ihrer Tatkraft das ausmachen, was wir oft einfach „unser Gesundheitssystem“ nennen.
Ihnen danken wir mit diesem Applaus, und in diesen Dank möchte ich auch Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr einschließen, die an vielen Stellen helfen.
Eine vielleicht in der Öffentlichkeit weniger beachtete, aber ebenso entscheidende Rolle im Kampf gegen die Pandemie spielt der öffentliche Gesundheitsdienst. Fast 400 lokale Gesundheitsämter sind das. Wenn es uns in den nächsten Monaten gelingen soll, das Infektionsgeschehen zu kontrollieren und einzudämmen, dann brauchen wir diese Ämter in starker Verfassung, und ich sage: in stärkerer Verfassung, als sie vor der Pandemie waren.
Deshalb haben Bund und Länder gerade vereinbart, diesen Ämtern mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zu geben, damit sie zum Beispiel diese überaus wichtige – ja, ich sage: entscheidende – Aufgabe, nämlich die Kontakte eines Infizierten nachzuverfolgen, auch tatsächlich effektiv wahrnehmen können. Das Robert-Koch-Institut wird darüber hinaus 105 mobile Teams aus Studierenden aufstellen, die sogenannten Containment Scouts, die dort, wo besonderer Bedarf besteht, eingesetzt werden können.
Von Anfang an hat die Bundesregierung sich auch dem Thema der persönlichen Schutzausrüstung gewidmet. Die Versorgung mit diesen Gütern, insbesondere mit medizinischen Schutzmasken, ist schnell zu einer der zentralen Aufgaben geworden, und nicht nur für uns, sondern für die ganze Welt. Denn ohne gesunde Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinnen und Pfleger nützen auch vorhandene Intensivbetten und Beatmungsgeräte nichts.
Die Lage auf den Weltmärkten für solches Material ist angespannt. Die Handelssitten in den ersten Wochen der Pandemie waren, sagen wir mal, rau. Deshalb hat die Bundesregierung, obwohl wir nach dem Infektionsschutzgesetz nicht zuständig sind, entschieden, die Beschaffung persönlicher Schutzausrüstung zentral zu koordinieren und die Waren dann an die Bundesländer weiterzugeben. Ich danke auch den Unternehmen, die uns dabei mit ihrer Erfahrung geholfen haben.
Die Pandemie lehrt uns: Es ist nicht gut, wenn Schutzausrüstung ausschließlich aus fernen Ländern bezogen wird. Masken, die wenige Cent kosten, können in der Pandemie zu einem strategischen Faktor werden. Die Bundesrepublik Deutschland und die Europäische Union arbeiten deshalb daran, auf diesem Gebiet wieder unabhängiger von Drittländern zu werden. Deshalb bauen wir die Produktionskapazitäten für Schutzgüter in Deutschland und Europa mit Hochdruck aus.
Wenn wir uns fragen, was uns zugutegekommen ist in dieser ersten Phase der Ausbreitung des Virus, so sind das – neben den relativ vielen Intensivbetten – die hohen Testkapazitäten und das dichte Netz an Laboren. Die Experten sagen uns: testen, testen, testen. – So gewinnen wir ein besseres Bild von der Epidemie in Deutschland, bekommen größere Klarheit über die Dunkelziffer der Infektionen, können Pflegekräfte häufiger testen, um die Ansteckungsgefahr in Krankenhäusern und Heimen zu senken. Deswegen haben wir die Kapazitäten für eine umfassende Testung schon kontinuierlich ausgebaut und werden sie weiter ausbauen.
Dennoch: Beenden können werden wir die Coronapandemie letztlich wohl nur mit einem Impfstoff, jedenfalls nach allem, was wir heute über das Virus wissen. In mehreren Ländern weltweit sind Forscher auf der Suche. Die Bundesregierung hilft mit finanzieller Förderung, damit auch der Forschungsstandort Deutschland dabei seine Rolle spielen kann. Genauso aber stehen wir auch finanziell hinter internationalen Initiativen wie der Impfstoffinitiative CEPI.
Auch für die Medikamentenentwicklung und für ein neues nationales Forschungsnetzwerk zu Covid-19 hat die Bundesregierung kurzfristig erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt. Das hilft Forschern und Ärzten an allen deutschen Universitätskliniken, Hand in Hand an dieser Aufgabe zu arbeiten. Wir werden ja noch viele Studien brauchen, in der Zukunft auch Antikörperstudien. Dafür sind wir also gut gerüstet.
Doch Wissenschaft ist nie national. Wissenschaft dient der Menschheit. Deshalb versteht es sich von selbst, dass, wenn Medikamente oder ein Impfstoff, gefunden, getestet, freigegeben und einsatzbereit sind, sie dann in aller Welt verfügbar und auch für alle Welt bezahlbar sein müssen.
Ein Virus, das sich in fast allen Staaten ausbreitet, kann auch nur im Zusammenwirken aller Staaten zurückgedrängt und eingedämmt werden. Für die Bundesregierung ist die internationale Zusammenarbeit gegen das Virus herausragend wichtig. Wir stimmen uns im Kreis der Europäischen Union ab, genauso im Rahmen der G 7 und der G 20.
Mit der Entscheidung, den ärmsten 77 Staaten der Welt alle Zins- und Tilgungszahlungen in diesem Jahr zu stunden, konnten wir etwas Druck von diesen hart geprüften Staatengruppen nehmen. Aber bei dieser Unterstützung wird es natürlich nicht bleiben können. Für die Bundesregierung ist die Zusammenarbeit mit den Staaten Afrikas immer ein Schwerpunkt, und in der Coronakrise müssen wir sie noch verstärken.
Nicht nur in Afrika, aber gerade dort kommt es sehr auf die Arbeit der Weltgesundheitsorganisation, WHO, an. Für die Bundesregierung betone ich: Die WHO ist ein unverzichtbarer Partner, und wir unterstützen sie in ihrem Mandat.
Meine Damen und Herren, wenn wir uns hier in Deutschland die neuesten Zahlen des Robert-Koch-Instituts ansehen, dann zeigen die Indikatoren, dass sie sich in die richtige Richtung entwickeln, zum Beispiel eine verlangsamte Infektionsgeschwindigkeit, derzeit täglich mehr Genesene als Neuerkrankte. Das ist ein Zwischenerfolg. Aber gerade, weil die Zahlen Hoffnungen auslösen, sehe ich mich verpflichtet, zu sagen: Dieses Zwischenergebnis ist zerbrechlich. Wir bewegen uns auf dünnem Eis, man kann auch sagen: auf dünnstem Eis.
Die Situation ist trügerisch, und wir sind noch lange nicht über den Berg; denn wir müssen im Kampf gegen das Virus immer im Kopf haben: Die Zahlen von heute spiegeln das Infektionsgeschehen von vor etwa zehn bis zwölf Tagen wider. Die heutige Zahl der Neuinfizierten sagt uns also nicht, wie es in einer oder zwei Wochen aussieht, wenn wir zwischendurch ein deutliches Mehr an neuen Kontakten zugelassen haben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte diese Gelegenheit nutzen, um noch einmal etwas ausführlicher zu erläutern, was mir gerade Sorge bereitet. Natürlich sind politische Entscheidungen immer Teil eines fortwährenden Abwägungsprozesses nach bestem Wissen und Gewissen. Das gilt auch für die Entscheidungen zur Bekämpfung der Coronapandemie, die ja von größter Trageweite für das Wohlergehen der Menschen in unserem Lande sind.
In dieser so überaus wichtigen Abwägung, die sich niemand, weder im Bund noch in den Bundesländern, leicht macht – das weiß ich –, bin ich bei der Bekämpfung des Coronavirus überzeugt: Wenn wir gerade am Anfang dieser Pandemie größtmögliche Ausdauer und Disziplin aufbringen, dann werden wir in der Lage sein, schneller wieder wirtschaftliches, soziales und öffentliches Leben zu entfalten, und zwar nachhaltig, als wenn wir uns – gerade am Anfang – vor dem Hintergrund ermutigender Infektionszahlen zu schnell in falscher Sicherheit wiegen.
Wenn wir also am Anfang diszipliniert sind, werden wir es viel schneller schaffen, Gesundheit und Wirtschaft, Gesundheit und soziales Leben wieder gleichermaßen leben zu können. Auch dann wird das Virus immer noch da sein; aber mit Konzentration und Ausdauer – gerade am Anfang – können wir vermeiden, von einem zum nächsten Shutdown zu wechseln oder Gruppen von Menschen monatelang von allen anderen isolieren zu müssen und mit furchtbaren Zuständen in unseren Krankenhäusern konfrontiert zu sein, wie es in einigen anderen Ländern leider der Fall war. Je ausdauernder und konsequenter wir am Anfang der Pandemie die Einschränkungen ertragen und damit das Infektionsgeschehen nach unten drücken, umso mehr dienen wir nicht nur der Gesundheit der Menschen, sondern auch dem wirtschaftlichen und sozialen Leben, weil wir dann in der Lage wären, jede Infektionskette konsequent zu ermitteln und somit das Virus zu beherrschen. Diese Überzeugung leitet mein Handeln.
Ich sage Ihnen deshalb ganz offen: Ich trage die Beschlüsse, die Bund und Länder am Mittwoch letzter Woche getroffen haben, aus voller Überzeugung mit. Doch ihre Umsetzung seither bereitet mir Sorgen.
Sie wirkt auf mich in Teilen sehr forsch, um nicht zu sagen: zu forsch. Wenn ich das sage, dann ändert das natürlich kein Jota daran, dass ich die Hoheit der Bundesländer, die ihnen nach unserer grundgesetzlich festgeschriebenen föderalen Staatsordnung in vielen Fragen zukommt, natürlich auch beim Infektionsschutzgesetz aus voller Überzeugung achte. Unsere föderale Ordnung ist stark. Damit hier kein Missverständnis entsteht, wollte ich das noch mal deutlich sagen.
Gleichwohl sehe ich es als meine Pflicht an, zu mahnen, eben nicht auf das Prinzip Hoffnung zu vertrauen, wenn ich davon nicht überzeugt bin. So mahne ich in diesem Sinne auch im Gespräch mit den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten und auch in diesem Hohen Hause: Lassen Sie uns jetzt das Erreichte nicht verspielen und einen Rückschlag riskieren!
Es wäre jammerschade, wenn uns die voreilige Hoffnung am Ende bestraft. Bleiben wir alle auf dem Weg in die nächste Phase der Pandemie klug und vorsichtig. Das ist eine Langstrecke, bei der uns nicht zu früh die Kraft und die Luft ausgehen dürfen.
Klar ist, dass wir erst einmal nicht zum Alltag, wie wir ihn vor Corona kannten, zurückkehren können. Der Alltag wird einstweilen anders aussehen, auch dann, wenn die derzeit beratenen digitalen Tracing-Modelle zum Einsatz kommen können. Auch die strengen Abstandsregeln, die Hygienevorschriften, auch die Kontaktbegrenzungen werden weiter dazugehören. Das betrifft beispielsweise die Öffnung von Schulen und Kitas. Die Länder sind dabei, die schrittweise Öffnung der Schulen nun auch ganz praktisch umzusetzen bzw. vorzubereiten. Da wird es viel fantasievoller Tatkraft bedürfen. Ich danke heute schon allen, die sich dafür zurzeit einsetzen. Ich weiß, dass das sehr, sehr viele sind.
Ich habe am Anfang von der größten Bewährungsprobe seit den Anfangstagen der Bundesrepublik Deutschland gesprochen. Das gilt leider auch für die Wirtschaft. Wie tief die Einbußen am Ende des Jahres sein werden und wie lange sie anhalten, wann die Erholung einsetzt, das können wir heute noch nicht seriös sagen; denn auch das hängt natürlich von unserem Erfolg in der Auseinandersetzung mit dem Virus ab.
Die Pandemie hat uns in einer Zeit gesunder Haushalte und starker Reserven getroffen. Jahre solider Politik helfen uns jetzt. Es geht jetzt darum, unsere Wirtschaft zu stützen und einen Schutzschirm für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufzuspannen. Millionen von Anträgen für verschiedene Hilfsprogramme sind eingegangen; Millionen von Menschen und Unternehmen haben bereits Geld erhalten. Wir konnten all diese gesetzlichen Maßnahmen schnell und mit überwältigender Mehrheit beschließen. Unsere parlamentarische Demokratie ist stark, sie ist leistungsfähig und in Krisenzeiten äußerst schnell.
Auch gestern Abend haben wir im Koalitionsausschuss noch einmal weitere Maßnahmen beschlossen; Sie sind darüber informiert. Doch all unsere Bemühungen auf nationaler Ebene können letztlich nur dann erfolgreich sein, wenn wir auch gemeinsam in Europa erfolgreich sind. Sie haben mich hier in diesem Haus oft sagen hören: Deutschland kann es auf Dauer nur gut gehen, wenn es auch Europa gut geht. – Mir ist es mit diesem Satz auch heute wieder sehr, sehr ernst.
Wie drückt sich das praktisch aus? Zum Beispiel haben wir mehr als 200 Patienten aus Italien, Frankreich oder den Niederlanden in deutschen Intensivstationen behandelt. Wir haben medizinisches Material zum Beispiel nach Italien oder Spanien geliefert und neben unseren Bürgern Tausende gestrandete andere Europäerinnen und Europäer aus aller Welt zurück nach Hause geholt – dafür übrigens ein herzliches Dankeschön allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Auswärtigen Amt. Man glaubt gar nicht, wie viele Deutsche sich außerhalb der eigenen Landesgrenzen befinden; aber wir konnten auch vielen anderen Europäern helfen. Danke dafür.
Wir haben auch gemeinsam gehandelt, um dem massiven Einbruch der europäischen Wirtschaft zu begegnen. Wir tun das mit einem Paket von Hilfsmaßnahmen für Unternehmen und Beschäftigte in Höhe von immerhin 500 Milliarden Euro, das unser Finanzminister Olaf Scholz und die anderen Finanzminister in der Euro-Gruppe vor zwei Wochen vereinbart haben. Jetzt geht es darum, diese 500 Milliarden Euro auch wirklich verfügbar zu machen; dafür wird auch der Deutsche Bundestag noch Beschlüsse fassen müssen. Ich würde mich freuen, wenn wir sagen könnten: Zum 1. Juni ist das Geld auch wirklich da. – Denn es geht hier um Hilfe für kleine und mittlere Unternehmen. Es geht hier um vorsorgliche Kreditlinien, und es geht hier auch um Kurzarbeitergeld, für das einige Mitgliedstaaten vielleicht nicht die finanziellen Ressourcen haben, was aber Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dort sehr helfen kann.
Nun fordern einige unserer europäischen Partner – aber auch innerhalb der politischen Diskussion in Deutschland ist das ein Thema –, angesichts der schweren Krise gemeinsame Schulden mit gemeinsamer Haftung aufzunehmen. Diese Frage wird auch bei der Videokonferenz des Europäischen Rates heute Nachmittag sicherlich wieder eine Rolle spielen. Nehmen wir an, die Zeit und der politische Wille zur gemeinsamen Verschuldung seien wirklich vorhanden: Dann müssten alle nationalen Parlamente in der Europäischen Union und auch der Deutsche Bundestag entscheiden, die EU-Verträge so zu ändern, dass ein Teil des Budgetrechts auf die europäische Ebene übertragen und dort demokratisch kontrolliert würde. Das wäre ein zeitraubender und schwieriger Prozess und keiner, der in der aktuellen Lage direkt helfen könnte; denn es geht jetzt darum, schnell zu helfen und schnell Instrumente in der Hand zu haben, die die Folgen der Krise lindern können.
Es wird beim heutigen Europäischen Rat auch darüber beraten, wie wir in Europa in der Zeit nach den strengsten Einschränkungen gemeinsam vorgehen wollen. Wir wollen schnell in Europa handeln; denn wir brauchen natürlich Instrumente, um die Folgen der Krise in allen Mitgliedstaaten überwinden zu können.
Ich halte es in diesem Zusammenhang erst einmal für wichtig, dass die Europäische Kommission jetzt und in den nächsten Wochen fortlaufend prüft, wie die verschiedenen Bereiche der Wirtschaft in Europa von der Krise betroffen sind und welcher Handlungsbedarf sich daraus ergibt. Dies betrifft also auch die unmittelbare Hilfe für die europäische Wirtschaft. Ein europäisches Konjunkturprogramm könnte in den nächsten zwei Jahren den nötigen Aufschwung unterstützen. Deshalb werden wir dafür auch arbeiten.
In unseren heutigen Beratungen wird es noch nicht darum gehen, bereits die Details festzulegen oder schon über den Umfang zu entscheiden. Doch eines ist schon klar: Wir sollten bereit sein, im Geiste der Solidarität über einen begrenzten Zeitraum hinweg ganz andere, das heißt deutlich höhere Beiträge zum europäischen Haushalt zu leisten. Denn wir wollen, dass sich alle Mitgliedstaaten in der Europäischen Union wirtschaftlich wieder erholen können.
Ein solches Konjunkturprogramm sollte allerdings von vornherein mit dem europäischen Haushalt zusammengedacht werden; denn der gemeinsame europäische Haushalt ist das seit Jahrzehnten bewährte Instrument solidarischer Finanzierung gemeinsamer Aufgaben in der Europäischen Union.
Darüber hinaus werde ich heute darauf drängen, dass sich der Europäische Rat schon bald mit grundsätzlichen Fragen befasst: Wo müssen wir auf europäischer Ebene noch enger zusammenarbeiten? Wo braucht die Europäische Union zusätzliche Kompetenzen? Welche strategischen Fähigkeiten müssen wir in Zukunft in Europa haben oder halten? Nicht nur bei der Finanzpolitik, der Digitalpolitik und beim Binnenmarkt könnten wir diese Union vertiefen; auch in der Migrationspolitik, der Rechtsstaatlichkeit, der Europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik oder beim Klimaschutz ist europäische Solidarität gefragt.
Herr Präsident, liebe Kolleginnen und Kollegen, für uns in Deutschland ist das Bekenntnis zum vereinten Europa Teil unserer Staatsräson. Das ist kein Stoff für Sonntagsreden, sondern das ist ganz praktisch: Wir sind eine Schicksalsgemeinschaft.
Dies muss Europa jetzt angesichts dieser ungeahnten Herausforderung der Pandemie beweisen.
Diese Pandemie trifft alle, aber nicht alle gleich. Wenn wir nicht aufpassen, dient sie all denen als Vorwand, die die Spaltung der Gesellschaft betreiben. Europa ist nicht Europa, wenn es sich nicht auch als Europa versteht.
Europa ist nicht Europa, wenn es nicht füreinander einsteht in Zeiten unverschuldeter Not.
Wir haben in dieser Krise auch die Aufgabe, zu zeigen, wer wir als Europa sein wollen.
Und so bin ich am Ende meiner Rede wieder beim Gedanken des Zusammenhalts angekommen. Was in Europa gilt, ist auch für uns in Deutschland das Wichtigste. So paradox es klingt: In Wochen, in denen die Verhaltensregeln uns weit auseinander gezwungen haben und Distanz statt Nähe nötig ist, haben wir zusammengehalten und durch Zusammenhalt gemeinsam geschafft, dass sich das Virus auf seinem Weg durch Deutschland und Europa immerhin verlangsamt hat. Das kann keine Regierung einfach anordnen. Auf so etwas kann eine Regierung letztlich nur hoffen. Das ist nur möglich, wenn Bürgerinnen und Bürger mit Herz und Vernunft etwas für ihre Mitmenschen tun, für ihr Land – nennen Sie es: für das große Ganze.
Mich macht das unendlich dankbar, und ich wünsche mir, dass wir auch so weiter durch diese nächste Zeit gehen. Sie wird noch länger sehr schwer bleiben. Aber gemeinsam – davon bin ich nach diesen ersten Wochen der Pandemie überzeugt – wird es uns gelingen, diese gigantische Herausforderung zu meistern: gemeinsam als Gesellschaft, gemeinsam in Europa.
Vielen Dank.