Merkel: "Wir haben längst eine gesteuerte Zuwanderung ermöglicht"

Interview Merkel: "Wir haben längst eine gesteuerte Zuwanderung ermöglicht"

Die Bundeskanzlerin weist im Spiegel-Interview auf Erfolge in der Zuwanderungspolitik hin. Für Steuersenkungen sieht Merkel derzeit keine Spielräume. Bezogen auf den europäischen Stabilitätspakt wertet die Kanzlerin die geplante Vertragsveränderung als Erfolg. Es gehe darum, einen Mechanismus zur Krisenbewältigung zu schaffen, der private Gläubiger, etwa Banken, einbeziehe.

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Spiegel"
Jeweils eine Frau aus Deutschland und Indien arbeiten zusammen an einem Roboter

Zuwanderung erleichtert

Foto: photothek.net / Grabowsky

Spiegel: Frau Bundeskanzlerin, nach einer Koalition mit Ihnen rutschte die SPD auf 23 Prozent. Nun regiert Schwarz-Gelb seit einem Jahr, und die FDP steht in den Umfragen bei 5 Prozent. Wie schaffen Sie es, Ihre Koalitionspartner immer 'so kleinzukriegen?

Merkel: Die Frage stellt sich für mich überhaupt nicht. Wir arbeiten jetzt seit einem Jahr als christlich-liberale Koalition und sind in einer Phase, in der wir wichtige Entscheidungen fällen, die natürlich auch umstritten sind. Jetzt ist nicht die Zeit, sich auf Umfragen zu konzentrieren, sondern auf Entscheidungen.

Spiegel: Umfragen interessieren Sie gar nicht?

Merkel: Ich nehme sie zur Kenntnis, aber sie bestimmen nicht mein Handeln.

Spiegel: Die Union liegt bei 30 Prozent. Was läuft falsch?

Merkel: Wir haben am Anfang zu wenig Sinn und Zweck bestimmter Entscheidungen deutlich machen können. Aber das ist vorbei: Jetzt geht es um Weichenstellungen, die zunächst Teilen der Bevölkerung nicht gefallen. Wenn die Menschen aber die Wirkungen und Erfolge einmal sehen, werden wir sie überzeugen. Politik heißt nicht, ständig nach dem Wetterhahn auf dem Dach zu schauen, sondern seine Überzeugungen umzusetzen.

Spiegel: Politik in den Zeiten von Schwarz-Gelb ist vor allem Streit. Kaum hat das Sommermärchen der Politik begonnen, ist es schon zu Ende; nach einer kurzen Pause streitet die Koalition wieder. Warum gelingt es Ihnen nicht, auf Dauer ein freundliches Koalitionsklima zu schaffen?

Merkel: Wir haben in der Koalition ein freundliches Klima, geprägt von im Grundsatz sehr, sehr guten persönlichen Beziehungen. Trotzdem wird es immer mal Situationen geben, in denen unterschiedliche Sichtweisen zutage treten.

Spiegel: Das ist ein schöner Euphemismus für Streit.

Merkel: Schade, dass es in der Sprache der Journalisten zwischen Streit und Harmonie gar keine Zwischentöne mehr gibt. Eigentlich ist die deutsche Sprache vielfältiger.

Spiegel: Horst Seehofer hat im Sommer beteuert, dass er künftig freundlich mit Ihnen umgehen möchte. Nun stellt er die Rente mit 67 in Frage, ein Kernstück Ihrer Politik. Fühlen Sie sich von ihm getäuscht?

Merkel: Die Rente mit 67 steht im Gesetzblatt, und sie wird umgesetzt werden. Voll verwirklicht ist sie dann übrigens erst im Jahre 2029. Horst Seehofer hat darauf hingewiesen, dass wir ihre schrittweise Einführung verbinden müssen mit besseren Chancen für ältere Arbeitnehmer, berufstätig zu bleiben. So sehe ich das auch. Die letzten Jahre zeigen übrigens ganz klar, dass die Zahl der Älteren im Erwerbsleben deutlich steigt. Die Richtung stimmt also.

Spiegel: Nun bäumt sich auch noch Ihr Koalitionspartner FDP auf und wirft Ihnen Verrat an der Stabilität des Euro vor. Es war tatsächlich nicht freundlich von Ihnen, die Strategie für die Verhandlungen mit Nicolas Sarkozy nicht mit Guido Westerwelle abzustimmen. Warum haben Sie das an Ihrem Vizekanzler und Außenminister vorbeigemacht?

Merkel: Präsident Sarkozy und ich haben in Deauville im Wesentlichen über den Punkt gesprochen, was passiert, wenn die Euro-Rettungsschirme im Jahre 2013 auslaufen. Wir sind uns in der Koalition schon seit längerem einig, dass wir Vertragsänderungen brauchen, um einen neuen, weit besseren Mechanismus zur Krisenbewältigung zu schaffen. Einen, der auch die privaten Gläubiger, also zum Beispiel die Banken, einbezieht. Wir wollen nicht noch einmal erleben, dass die Staaten allein, also die Steuerzahler zur Kasse gebeten werden. Deshalb war es ein großer Erfolg, Frankreich dafür gewonnen zu haben, sich einer solchen Vertragsänderung zu öffnen. Und diese Einigung liegt voll auf der Linie der Koalition.

Spiegel: Gleichwohl war es ein Alleingang. Sie haben Ihren Außenminister nicht mit ins Boot geholt.

Merkel: Er saß mit im Boot.

Spiegel: Das sieht er aber anders. Merkel: Wir sitzen in einem Boot. Spiegel: Wie haben Sie ihn denn ins Boot geholt?

Merkel: Wir besprechen unser Vorgehen immer wieder gemeinsam.

Spiegel: Haben Sie mit ihm besprochen, dass Sie gegenüber Sarkozy auf einen Automatismus bei Sanktionen gegen Defizitsünder verzichten werden?

Merkel: Das jetzt ins Auge gefasste Verfahren sieht deutlich frühere und härtere Sanktionen vor, als wir sie zurzeit haben, und zwar im Sinne eines Automatismus. Der französische Präsident und ich waren uns genau darüber einig. Die Details wurden einvernehmlich zwischen den Finanzministern vereinbart.

Spiegel: Ist eine Lehre aus der Griechenland-Krise, dass Europa eine Wirtschaftsregierung braucht?

Merkel: Wir brauchen Instrumente, die verhindern, dass es zu einer solchen Situation kommt. Wir müssen lernen, Staaten frühzeitig so zu betrachten, dass wir anhand verschiedener Indikatoren ihre wahre Wettbewerbsfähigkeit beurteilen können. Und wir müssen Wege finden, wie wir die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Staaten angleichen können. Und zwar nicht nach dem Motto: Wir bilden einfach den Durchschnitt oder richten uns nach dem Langsamsten. Wir müssen vielmehr immer von den Besten lernen. In diesem Sinne arbeiten wir als Wirtschaftsregierung.

Spiegel: Hat die Finanzkrise Deutschland nachhaltig verändert?

Merkel: Ich sehe die Krise als eine tiefe Erschütterung. Bei vielen Bürgern herrscht ein großes und verständliches Misstrauen gegen Teile der Wirtschaft. Wir Politiker werden noch eine ganze Weile zu tun haben, um die Menschen wieder davon zu überzeugen, dass Politik gestaltet und nicht den Vorgaben der Wirtschaft hinterherläuft.

Spiegel: Die Konjunktur läuft gut, die Steuerquellen sprudeln. Das reizt die FDP, an Steuersenkungen zu denken. Wie stehen Sie dazu?

Merkel: Wir waren  und sind immer für ein einfaches und gerechtes System mit niedrigen Steuern. Es bleibt auch richtig, dass der sogenannte Mittelstandsbauch ein Problem ist. Aber derzeit sehe ich weiterhin keine Spielräume für Steuersenkungen. Wir haben die Pflicht, gesetzlich und moralisch, erst einmal unsere immer noch gewaltigen Schulden abzubauen. Das ist auch eine Frage der Gerechtigkeit gegenüber der nächsten Generation.

Spiegel: Wenn es Spielräume gäbe, welche Steuern würden Sie senken?

Merkel: Die finanzielle Lage vieler Kommunen ist sehr schwierig. Wenn wir also an einer Stelle noch etwas tun könnten und Spielräume hätten, wäre für mich die dringlichste Frage, wie wir den Städten und Gemeinden helfen, die jetzt so knapp dran sind.

Spiegel: Bislang haben Sie es abgelehnt, sich vor den Konservativen zu verbeugen. Was ist in Sie gefahren, dass Sie das jetzt ändern?

Merkel: Wenn Sie mir da bitte ein Beispiel nennen könnten.

Spiegel: Sie haben kürzlich verkündet, Multikulti sei gescheitert.

Merkel: Soll ich Ihnen mal Auszüge aus meinen Bundestagsreden der vergangenen Jahre zeigen? Ich habe dort schon oft dazu Stellung genommen, jedes Mal mit großer Zustimmung, aber nicht immer so beachtet wie diesmal.

Spiegel: Aber, Frau Bundeskanzlerin, Sie wählen doch Ihre Worte mit Bedacht. Und Sie wissen genau, wann Sie was sagen - und wie es wirkt. In dieser Situation ein solches Thema so zu betonen, das ist eine Verneigung vor den Fans von Thilo Sarrazin.

Merkel: Nein, es fügt sich in eine Reihe von politischen Äußerungen, von denen ich weiß, dass sie das Wertegefühl der Bürger sehr sensibel treffen. Das ist zum Beispiel: Opferschutz geht vor Täterschutz. Wer arbeitet, muss mehr haben, als wenn er nicht arbeitet. Und das ist auch: Multikulti ist gescheitert. Jetzt habe ich das wieder gesagt, natürlich in eine bestimmte aktuelle Integrationsdebatte hinein, deswegen wird der Satz nicht falsch. Ich bin mir da ganz treu geblieben.

Spiegel: Sie wollten also die Debatte ein wenig anheizen?

Merkel: Nein. Ich werde einen Satz, den ich früher schon gesagt habe, auch in Zukunft wiederholen. So aufgeheizt ist die Debatte außerdem ja nun auch wieder nicht.

Spiegel: Zu den Lebenslügen der Union gehört, dass Deutschland kein Einwanderungsland ist. Ist es nicht Zeit, damit aufzuräumen?

Merkel: Wir haben bei der Arbeit an unserem Grundsatzprogramm lange über die Frage nachgedacht: Was für ein Land sind wir? Wir sind zu dem Schluss gekommen, dass wir ein Integrationsland sind.

Spiegel: Das ist wieder so ein Begriff, den man überhaupt nicht fassen kann.

Merkel: Ich kann ihn fassen. In einem Integrationsland sind alle Menschen fremder Herkunft willkommen, die bereit sind, auf der Basis der Rechts- und Werteordnung als Mitbürger zu leben oder sogar deutsche Staatsbürger zu werden.

Spiegel: Sie wissen doch genau, dass Deutschland Einwanderung braucht. Ohne Integration haben wir bald niemanden mehr, der die Renten bezahlt.

Merkel: Wir haben uns längst darauf eingestellt. Erstens: Die Ausländer, die hier studiert haben, können unter erleichterten Bedingungen in Deutschland bleiben. Zweitens haben wir innerhalb der EU Freizügigkeit und bei den neuen Mitgliedstaaten für Qualifizierte erleichterte Zugangsmöglichkeiten. Drittens: Wer zum Beispiel als Ausländer ein Jahreseinkommen von mindestens 66000 Euro nachweisen kann, kann unbegrenzt lange bei uns bleiben, auch unterhalb dieser Grenze sind schon mehrjährige Aufenthalte möglich. Wir haben also längst eine gesteuerte Zuwanderung ermöglicht.

Spiegel: Was halten Sie von einem Punktesystem, um die Einwanderung zu steuern?

Merkel: Ein Punktesystem würde auch nicht alle Probleme lösen. Im Koalitionsvertrag steht, dass wir die Zuwanderung nach Deutschland steuern wollen. Der Zugang von ausländischen Hochqualifizierten und Fachkräften, heißt es da, muss systematisch an den Bedürfnissen des deutschen Arbeitsmarkts ausgerichtet sein und nach klaren, transparenten und gewichteten Kriterien gestaltet werden, zum Beispiel Bedarf, Qualifizierung und Integrationsfähigkeiten. Das ist der Arbeitsauftrag.

Spiegel: Wir waren überrascht, dass Sie sich für ein Verbot der Präimplantationsdiagnostik, der PID, ausgesprochen haben. Ist das auch ein Zugeständnis an die Konservativen?

Merkel: Nein, eine Gewissensfrage. Wir reden über die Frage, ob man nach einer künstlichen Befruchtung unter den Embryonen eine Auswahl vornimmt, ob man konkret die mit Merkmalen einer schweren Erbkrankheit vernichtet. Meine Sorge ist es, dass diese Linie zwischen schweren und nicht so schweren Krankheiten kaum zu formulieren sein wird. Man wird sehr restriktiv beginnen, und dann könnten rasch Diskussionen kommen, ob das nicht zu restriktiv sei. Und eines Tages müssen sich erbkranke Menschen rechtfertigen, weil manche glauben, das hätte doch alles verhindert werden können. Aus diesem Grund komme ich persönlich zu der Haltung, dass wir es von Anfang an gar nicht erlauben sollten.

Spiegel: Aber es gelingt doch eine relativ klare Abgrenzung bei den Abtreibungen. Warum soll das bei der PID nicht gehen?

Merkel: Bei der Abtreibung geht es um die Feststellung, dass es der Mutter nicht zumutbar ist, das Kind zu bekommen. Das ist ein völlig anderer Sachverhalt. Aber zurück zur PID: Das ist eine Entscheidung, die auch ich nicht hundert zu null treffe, sondern nach einem langen Abwägungsprozess. Das soll jeder Abgeordnete nach seinem Gewissen entscheiden.

Spiegel: Noch nie haben Sie sich so richtig leidenschaftlich für eine Sache engagiert, und nun ausgerechnet für einen Bahnhof. Warum ist Ihnen „Stuttgart 21" so wichtig?

Merkel: Ich bin schon aus Leidenschaft für die Freiheit in die Politik gegangen, also da habe ich keine Defizite. Im Moment geht es auf vielen Gebieten und in vielen Einzelfragen immer wieder um das eine: um Deutschlands Zukunftsfähigkeit. Nehmen Sie die dringend benötigten und überall heiß umstrittenen Hochspannungsleitungen, ohne die wir die ökologische Energiewende nie schaffen werden. Oder nehmen Sie eben dieses große Bahnprojekt. Das Thema wirkt weit über Stuttgarts Grenzen hinaus, da haben die Menschen ein Recht zu erfahren, was die Bundeskanzlerin denkt, ob sie dafür ist oder dagegen. Da es eine wichtige Debatte im Bundestag war, habe ich mich dort dafür dezidiert ausgesprochen.

Spiegel: Was werden Sie denn tun, wenn die Wahl in Baden-Württemberg im März 2011 schiefgeht?

Merkel: Ich arbeite dafür, dass die Wahl in unserem Sinne gut ausgeht.

Spiegel: Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg wird jetzt schon als Ihr Nachfolger gehandelt. Finden Sie auch, dass er der Richtige ist?

Merkel: Ich freue mich, dass der Verteidigungsminister erstklassig arbeitet, dabei eine gute Figur macht und viel Anklang findet. Außerdem ist es doch schön, dass die Zeit, als Sie noch über gähnende Leere im Unionspersonaltableau geschrieben haben, ganz offensichtlich überwunden ist.

Spiegel: Schauen Sie sich ihn manchmal an und denken, Mensch, das eine oder andere könnte ich von ihm lernen?

Merkel: Ich bin jetzt in einem Lebensalter, in dem ich mit mir immer mehr im Frieden lebe. Als Mädchen war ich oft unzufrieden, weil ich Dinge können wollte, die ich nicht konnte, zum Beispiel gut auf dem Schwebebalken turnen oder eislaufen. Heutzutage kann ich die Dinge, die ich können möchte. Also erfreue ich mich einfach an Karl-Theodor zu Guttenberg und wünsche ihm alles Glück - wie auch meinen anderen begabten und hervorragenden Ministern.

Spiegel: Frau Bundeskanzlerin, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

Dirk Kurbjuweit und Mathias Müller von Blumencron im Büro der Bundeskanzlerin.
Quelle: Spiegel