Merkel: Die Krise ist noch längst nicht überstanden

Merkel: Die Krise ist noch längst nicht überstanden

Einerseits gelte es, Deutschland aus der Finanz- und Wirtschaftskrise zu führen. Zugleich habe die Bundesregierung aber langfristige zu verfolgen, sagt Bundeskanzlerin Angela Merkel im FAZ-Interview: zukunftsfeste Sozialsysteme, besser Integration und eine gute Wettbewerbsposition bei den neuen Technologien.

  • Interview mit Angela Merkel
  • in "Franfurter Allgemeine Zeitung"

Das Interview im Wortlaut:

Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ): Frau Bundeskanzlerin, was ist das Hauptziel der zweiten von Ihnen geführten Regierung?

Angela Merkel: Ich will, dass wir uns an den Notwendigkeiten der Bekämpfung der Krise und zugleich den großen Zukunftsaufgaben ausrichten, um so durch Wachstum, Bildung und Zusammenhalt Deutschland aus der Krise heraus und zu neuer Stärke zu führen.

FAZ: Die seit elf Jahren angestrebte Wunschkoalition von Union und FDP verwirklicht sich in der Krisenbekämpfung?

Merkel: Nicht allein. Unser Motto „Deutschland zu neuer Stärke führen“ beinhaltet beides: Einerseits Deutschland aus der gegenwärtigen Finanz- und Wirtschaftskrise zu führen, eine Krise, die international noch längst nicht überstanden ist. Auch bei uns wird sie in ihrer ganzen Auswirkung an vielen Stellen erst noch spürbar werden. Unser Land muss endlich ein Verständnis für die volle Dimension dieser in der Geschichte unseres Landes so noch nie dagewesenen Krise bekommen. Zugleich müssen wir langfristige Ziele verfolgen: die Sozialsysteme auf die Folgen der Alterung der Gesellschaft einstellen, bessere Erfolge bei der Integration erreichen und unsere gute internationale Wettbewerbsposition in neuen Technologien weiter ausbauen. Vor über hundert Jahren haben wir das Auto erfunden und sind seit Jahrzehnten führend auf diesem Markt. Heute dagegen haben wir bei der Elektromobilität vor allem in der Batterieentwicklung starke ausländische Wettbewerber.

FAZ: Vor vier Jahren forderten Sie in Ihrer Regierungserklärung: „Mehr Freiheit wagen“. Nun hieß es nur noch: „Freiheit in Verantwortung“. Ist die christlich-liberale Koalition bescheidener als die große?

Merkel: Nein, sie ist weiter, beides entspricht meiner Überzeugung, und beides gehört zusammen. Wir erleben gerade eine Weltwirtschaftskrise, deren Ursache Exzesse bei Akteuren der Finanzmärkte waren. Die CDU hat immer darauf hingewiesen, dass Freiheit stets auch Verantwortung bedeutet. Das passt in die jetzige Situation.

FAZ: Sie gehen erhebliche Risiken ein, indem Sie zur Krisenbewältigung vor allem auf Wirtschaftswachstum setzen.

Merkel: Ich bin mir der Risiken voll bewusst, aber wir haben diese Entscheidung nach gründlichem Abwägen des Für und Wider und mit einem hohen Maß an Verantwortungsbewusstsein getroffen. Nach dem dramatischen Einbruch der Wirtschaft in diesem Jahr von fünf Prozent müssen wir rasch wieder auf einen selbsttragenden Wachstumspfad kommen, auch um das Zukunftsvertrauen der Bürger zu stärken. Eine ausbleibende Erholung mit Jahren schwachen und labilen Wachstums ist für die Volkswirtschaft und die öffentlichen Haushalte teurer als beherztes Gegensteuern, wie die Erfahrungen der Vergangenheit zeigen. Die Globalisierung hat die Möglichkeiten nationaler Politik sehr verändert. Bis jetzt ist es uns aber ganz gut gelungen, die Krise abzufedern. Die Menschen sind jedoch besorgt, weil wir so viele Schulden machen müssen, was ich vollkommen verstehe. Die neue Dimension dieser weltweiten Krise muss daher immer wieder erklärt werden.

FAZ: Weil es an Krisenbewusstsein im Volk mangelt?

Merkel: Dafür mache ich niemandem einen Vorwurf, ich darf, wenn Sie erlauben, auch die Berichterstattung in den Medien einschließen, die sehr verantwortungsvoll ist, aber aus meiner Sicht die einzigartige Dimension der Krise auch zu wenig vermittelt. Ich möchte allen klarmachen, dass es auch für Deutschland die größte wirtschaftliche Krise ist, die wir in 60 Jahren hatten. Die Kenntnis der Lage schafft Verständnis dafür, dass diese Regierung anders vorgehen muss, als es die vorherige im Jahr 2005 konnte.

FAZ: Ihre Regierung macht Schulden in der Hoffnung auf baldiges Wachstum. Hat für Sie die „schwäbische Hausfrau“ als Vorbild ausgedient?

Merkel: Nein, selbstverständlich bleibt es richtig, dass wir die öffentlichen Haushalte konsolidieren müssen. Wenn wir aber bereits am wirtschaftlichen Tiefpunkt damit beginnen, verschärfen wir die Krise. Das ist eine Lehre der Weltwirtschaftskrise nach 1929. Oder, um im Bild zu bleiben, wenn die schwäbische Hausfrau eine kranke Familie hat, dann wird sie, um Medikamente kaufen zu können, notfalls auch Schulden aufnehmen. Denn das Wichtigste ist, dass ihre Familie wieder zu Kräften kommt. Dann erst wird sie die alten Tugenden wieder beherzigen können. Wir sind das einzige Land weltweit, das in dieser Krise unter dem Druck von CDU, CSU und FDP die Schuldenbremse in seine Verfassung geschrieben hat. Wir haben also nicht nur kurzfristig mit einem schuldenfinanzierten Maßnahmenpaket reagiert, sondern wir haben zugleich Vorsorge für eine langfristige Konsolidierung getroffen.

FAZ: Nun würde die kranke Familie auch gern wissen, wie lange die Krankheit dauert, wenn sie schon so teuer ist.

Merkel: Ebenso wie bei einer tatsächlichen schweren Krankheit kann man derzeit in der gesamten Welt nicht zuverlässig realistisch abschätzen, wie lang diese Krise dauern wird. Das wird auch von Branche zu Branche stark unterschiedlich sein, abhängig von der jeweiligen Exportabhängigkeit und dem Grad der Verflechtung mit anderen Wirtschaftsregionen. Sicherlich wird die deutsche Wirtschaft noch einige Jahre mit unterausgelasteten Kapazitäten produzieren. Wenn wir jahrelang kein oder sehr geringes Wachstum haben, bedeutet das steigende Arbeitslosenzahlen und große Belastungen für Haushalte und Sozialkassen.

FAZ: Sie glauben noch Prognosen?

Merkel: Die Frage ist sehr berechtigt nach den großen Schwankungen in den Berechnungen der Experten, vor allem seit Ausbruch der Krise im vergangenen Jahr. Die Prognosen wurden bis heute immer wieder angepasst, weil sich vor allem die wirtschaftspolitischen Bedingungen national und international durch die staatlichen Programme ständig ändern. Unser Ziel ist, dass wir in Deutschland deutlich vor 2013 wieder auf einem dauerhaften Wachstumspfad zurückkehren. Aber garantiert ist das nicht, weil es stark von der Wirtschaftsentwicklung weltweit abhängt.

FAZ: Was werden Sie tun, wenn Ihre Wachstumserwartungen nicht eintreffen?

Merkel: Ich werde alles daransetzen, dass wir Erfolg haben. Zudem gilt, dass Wirtschaft zu 50 Prozent aus Psychologie besteht. Der eigentliche Erfolgsmaßstab für die Überwindung der Krise wird sein: Wie viele Leute haben Arbeit? Als Faustformel gilt: Hunderttausend Arbeitslose weniger entlasten Haushalt und Sozialkassen um zwei Milliarden. Mehr Beschäftigung eröffnet dem Staat also spürbare Spielräume. Die Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen ist das zentrale Ziel auch mit Blick auf die Sanierung des Staatshaushalts. Im Übrigen ist es auch zur Sicherung der Belegschaften mit den vielen erstklassigen Facharbeitern richtig, dass der Staat derzeit massiv Kurzarbeit fördert, um das wichtige Knowhow in den Betrieben zu bewahren.

FAZ: Im CDU-Wahlprogramm werden Steuersenkungen nicht genau datiert. Die Begründung war: Steuersenkungen dienten der Gerechtigkeit, generierten aber nicht ausreichend Wachstum, um sich selbst zu finanzieren. Daher könnten Steuersenkungen erst nach der Krise erfolgen. Warum gilt das nicht mehr?

Merkel: Es war immer klar, dass sich die Steuersenkungen nicht hundertprozentig selbst finanzieren werden. Der Erfolg von Steuersenkungen hängt auch wesentlich von der Wirtschaftslage ab. Noch vor gut einem Jahr, als wir vor der Krise kurz vor dem Ziel eines ausgeglichenen Haushalts waren, hätten große Steuersenkungen über die Abmilderung der „kalten Progression“ hinaus dieses Ziel gefährdet. Mit dem abrupten Absturz der Weltwirtschaft mussten wir dann situationsbedingt schnell und deutlich handeln. Deshalb hat schon die alte Bundesregierung, zum Teil schon mit Wirkung zum 1.1.2009, die Steuern gesenkt als Teil der konjunkturstützenden Maßnahmen. Diese Impulse brauchen wir auch jetzt, nachdem wir die Talsohle erreicht haben, um einen raschen Aufschwung zu erreichen. In Übereinstimmung mit der Schuldenbremse werden wir nach Überwindung der Krise konsequent konsolidieren. So haben wir das auch im G-20-Prozess verabredet.

FAZ: Schulden sind die Steuern von morgen, sagten Union und FDP früher immer. Gilt auch das nicht mehr?

Merkel: Wie gesagt: Die Haushalte können auch Jahre eines krisenbedingt niedrigeren Wachstumsniveaus auf Dauer nicht verkraften. In der Krise braucht es besondere Maßnahmen, und dann werden wir in internationaler Abstimmung eine Exit-Strategie festlegen. Das ist auch auf meine Initiativen hin in den Vereinbarungen der G8 und der G20 enthalten. Deutschland wird konsequent dafür eintreten, dass wir auch international auf die Konsolidierungslinie einschwenken, die wir national schon in der Schuldenbremse verankert haben.

FAZ: Im Bundesfinanzministerium heißt es, bis 2016 müssten 65 Milliarden Euro eingespart werden, damit die Schuldenbremse eingehalten wird.

Merkel: Diese Berechnungen ändern sich in Abhängigkeit von den jeweils aktuellen Wachstums- und Steuerschätzungen. Daher können solche Zahlen immer nur vorläufig sein.

FAZ: Die Europäische Kommission verlangt von Deutschland, ab 2011 das Defizit zu reduzieren, damit es 2013 den Stabilitäts- und Wachstumspakt wieder einhält. Sie jedoch wollen 2011 die Steuern senken.

Merkel: Der Ecofin-Rat wird hierüber am 2. Dezember befinden. Die EU und die G-20-Staaten haben noch nicht die Maßstäbe festgelegt, wann wir mit der sogenannten Exit-Strategie beginnen sollen. Wir brauchen klare gemeinsame Kriterien, ab wann der Verlauf der Krise das Umsteuern ermöglicht. Darüber werden wir mit der Europäischen Kommission und der Europäischen Zentralbank sprechen. Hierzu müssen auch die G-20-Finanzminister und die Notenbanken klare Angaben machen. Durch eine enge Zusammenarbeit der G20 und der Notenbanken konnte eine Katastrophe für die Weltwirtschaft wie in den dreißiger Jahren verhindert werden. Die enge Abstimmung gilt auch für den Weg aus der Krise.

FAZ: Die Ministerpräsidenten der Union klagen bereits über die zu erwartenden Steuerausfälle. Inwiefern könnte Ihnen Finanzminister Schäuble helfen, doch weniger auszugeben als geplant?

Merkel: Wolfgang Schäuble weiß wie ich, dass wir uns, ich kann es nur wiederholen, in einer außergewöhnlichen Krise befinden. Wir sind uns zugleich über das Ziel der Konsolidierung nach der Krise einig: Der europäische Stabilitäts- und Wachstumspakt darf nicht abgeschafft oder ausgehöhlt werden. Er bleibt wichtig für die Stabilität des Euro und den Zusammenhalt der EU.

FAZ: Aber Sie müssen zum „business as usual“ zurückfinden, um die Kriterien einzuhalten.

Merkel: Vorneweg müssen wir alle die Krise verstehen, und in der Koalitionsvereinbarung steht, dass möglichst Anfang 2011 weitere steuerliche Entlastungen durch die Einführung eines Stufentarifs in Kraft treten sollen. Ich habe fest vor, den Koalitionsvertrag auch so umzusetzen.

FAZ: Wie viele Stufen?

Merkel: Anzahl und Art der Stufen werden wir im nächsten Jahr in der Entwicklung der Steuerreform besprechen. Dabei werden wir auch die Zahlen der Steuerschätzung vom Mai für die nächsten Jahre einbeziehen. Wir haben politische Ziele, etwa die kalte Progression der Normalverdiener, den sogenannten Mittelstandsbauch abzuflachen.

FAZ: Sie sind verärgert über die Entscheidung von General Motors, Opel doch behalten zu wollen. Gilt der Ärger auch Präsident Obama?

Merkel: Nein, Präsident Obama hat mir deutlich gemacht, dass er in diese Entscheidung nicht eingebunden war. Nun ist die Entscheidung definitiv gefallen, und GM muss den Brückenkredit an uns zurückzahlen und hat mit seiner Entscheidung die Finanzierungsverantwortung für Opel wieder übernommen. Ohne unseren Einsatz würde es Opel heute nicht mehr geben. Insofern haben wir Opel die Chance zum Überleben gesichert. GM weiß das, und ich gehe davon aus, dass dies bei allen Entscheidungen sorgfältig berücksichtigt wird.

FAZ: Verteidigungsminister zu Guttenberg spricht von einem Kriegseinsatz in Afghanistan. Und Sie?

Merkel: Ich teile die Meinung von Verteidigungsminister zu Guttenberg, dass aus der Sicht unserer Soldaten kriegsähnliche Zustände in Teilen Afghanistans herrschen, auch wenn der Begriff „Krieg“ aus dem klassischen Völkerrecht auf die jetzige Situation nicht zutrifft.

FAZ: Wird Deutschland mehr Soldaten schicken?

Merkel: Von großer Bedeutung für die weitere Strategie der internationalen Gemeinschaft und damit auch Deutschlands ist die geplante Afghanistan-Konferenz zum Jahresbeginn. Dort sollen gemeinsam mit der neuen afghanischen Regierung Zeithorizonte definiert werden für die Ausbildung von afghanischen Soldaten und Polizisten. Wir wollen auf der Konferenz die Voraussetzungen für eine Übergabestrategie in Verantwortung schaffen. Bis dahin werden wir unser Mandat auf dem Niveau halten, das wir jetzt haben.

FAZ: Den Kampf gegen Terrorismus halten Sie für wichtig. Ist es da klug, wenn der Innenminister de Maizière seinen Staatssekretär Hanning, einen allseits anerkannten Sicherheitsfachmann, fristlos entlässt, ohne einen Nachfolger zu benennen?

Merkel: Thomas de Maizière ist ein hervorragender Innenminister, der viel Erfahrung im Bereich der öffentlichen Sicherheit hat. Er wird einen exzellenten Nachfolger vorschlagen.

FAZ: Was für eine Lehre ziehen Sie daraus, dass die SPD sich immer weiter von der Politik des früheren Kanzlers Schröder zu entfernen scheint?

Merkel: Für mich gar keine. Die SPD muss sich alleine selbst finden. Was Herrn Schröder angeht, so hat er nicht ausreichend versucht, seine Partei mitzunehmen. Man muss als Kanzler mit seiner Partei Hand in Hand gehen, auch wenn das zuweilen schwierig ist. Deshalb hielt ich es für falsch, dass Schröder den Parteivorsitz abgab. Aber, wie gesagt, ansonsten ist es nicht meine Aufgabe, besondere Lehren der SPD zu ziehen.

FAZ: Kann Außenminister Westerwelle dem Bund der Vertriebenen verbieten, seine Präsidentin Steinbach in den Beirat der Stiftung „Flucht, Vertreibung, Versöhung zu entsenden?

Merkel: Der Bund der Vertriebenen hat das Vorschlagsrecht. Anschließend befindet dann nach dem Stiftungsgesetz die Bundesregierung darüber.

FAZ: Ihre Entscheidung verwunderte, Günther Oettinger als Kommissar nach Brüssel zu entsenden.

Merkel: Günther Oettinger ist Ministerpräsident eines der erfolgreichsten und größten Bundesländer. Er ist ein ausgewiesener Wirtschaftsfachmann. Er wird mit Sicherheit die Kompetenz der Kommission stärken.

FAZ: Warum strebt Deutschland nicht an, einen der beiden künftig wichtigsten Posten der EU, den Ständigen Ratspräsidenten oder den Hohen Außenbeauftragten, zu stellen?

Merkel: Beim Ratspräsidenten sollte es ein amtierender oder ehemaliger Regierungschef eines EU-Mitgliedstaates sein. Das kommt für uns nicht in Betracht. Im Übrigen halte ich für das Industrieland Deutschland ein Ressort in der neuen Kommission aus dem Bereich der Wirtschaft für wünschenswert. Insgesamt wird der Vertrag von Lissabon, für den ich mich persönlich sehr eingesetzt habe und der am 1.12. in Kraft tritt, die Handlungsfähigkeit der EU stärken. In der kommenden Woche werden wir die beiden ersten Amtsinhaber für die neuen Positionen, die der Vertrag bringt, im Europäischen Rat bestimmen. Das ist ein weiterer großer Schritt für die EU, auch wenn ich mir eine schnellere Entscheidung gewünscht hätte.

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