Flüchtlinge gleich Menschen

Gelungene Integration Flüchtlinge gleich Menschen

Was braucht ein Mensch, um sich in einem fremden Land beheimatet zu fühlen? Für viele gehören neben Sprachkenntnissen auch ein Job und Freunde dazu. In Berlin helfen zahlreiche Ehrenamtliche neu angekommenen Flüchtlingen, sich ein berufliches und soziales Umfeld aufzubauen: Zwei Projekte stellen wir vor.

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Teilnehmer des Community-Tags, organisiert vom Verein 'Über den Tellerrand e.V.', vor dem Hauptbahnhof in Potsdam. 26. September 2015

"Über den Tellerand" organisiert Ausflüge, damit sich Einheimische und Flüchtlinge besser kennenlernen.

Foto: Lisa Thaens

Es ist ein goldener Septembersamstag, die Sonne scheint heiß auf die saftigen Äpfel, die an den Bäumen in Neumann`s Erntegarten in Potsdam hängen. Gaith Henk und Faruk Kattan stehen in der Schlange der Apfelpflücker, klopfen laut auf Plastikeimern den Rhythmus arabischer Lieder und singen lauthals mit - alle um sie herum lachen.

Dass Gaith und Faruk zwei Bürgerkriegs-Flüchtlinge sind, sieht man den beiden nicht an. Erst vor wenigen Monaten sind sie vor Krieg und Vertreibung aus Syrien und dem Jemen geflüchtet, um ihr Leben zu retten.

Teilnehmer des Community-Tags, organisiert vom Verein 'Über den Tellerrand e.V.', bei der Apfelernte in Potsdam. 26. September 2015

Faruk und Gaith haben sich als Kinder in Syrien kennengelernt und in Berlin wiedergetroffen.

Foto: Lisa Thaens

"Ursprünglich kommen wir beide aus Aleppo", erzählen sie. Früher waren sie Nachbarn. Als Gaith jedoch zum Studium in den Jemen ging, haben sie sich aus den Augen verloren und erst jetzt in Berlin über facebook wiedergefunden. "Dass wir uns nach fünf Jahren ausgerechnet als Flüchtlinge in Berlin wiedertreffen würden, ist kaum zu glauben, aber jeden Tag freue ich mich darüber. Man braucht jemanden, der einen versteht", sagt Faruk.

Wie viele andere auch, kam der 20-jährige Faruk Kattan über die Türkei mit dem Boot nach Griechenland. Gestrandet war er zunächst in München, dann reiste er nach Hamburg, von dort wurde er nach Berlin gebracht. Inzwischen hat Faruk eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre erhalten.

"Meine Familie ist immer noch in Aleppo. Mein Bruder ist jünger als ich und für meine Schwester wäre eine Reise zu gefährlich", erzählt er traurig.

Unkompliziert Kontakte knüpfen

Um Flüchtlingen wie Faruk und Gaith das Ankommen in einem fremden Land zu erleichtern, aber vor allem, um eine langfristige Integration zu fördern, engagieren sich die ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer von dem Verein "Über den Tellerrand". Sie organisieren regelmäßig Community-Treffen, wie zum Beispiel die Apfelernte in Potsdam. Ein Tag, an dem sich Faruk und Gaith wie zwei ganz normale junge Männer fühlen durften.  

Gestartet war "Über den Tellerrand" als Projekt in einem Wettbewerb der Freien Universität Berlin. Ziel war es, die Teilnehmerinnen und Teilnehmer ausprobieren zu lassen, ob sie Spaß an unternehmerischen Entscheidungen haben. Innerhalb von acht Wochen sollte ein Produkt oder eine Dienstleistung kreiert und auf den Markt gebracht werden.

"Unser Konzept lautet: Begegnungen auf Augenhöhe zwischen Einheimischen und Neuankömmlingen fördern, um dadurch nachhaltige Freundschaften entstehen zu lassen. Denn nur wer ein soziales Umfeld hat, ist wirklich integriert", erklärt Rafael Strasser. Der 29-Jährige ist Wirtschaftsingenieur und Mitgründer des Vereins.

Teilnehmer des Community-Tags, organisiert vom Verein 'Über den Tellerrand e.V.', bei der Apfelernte in Potsdam. 26. September 2015

Rafael Strasser ist Mitgründer von "Über den Tellerrand e.V.".

Foto: Lisa Thaens

Langsam Vertrauen aufbauen

Bei den Community-Treffen wird darauf geachtet, dass der Anteil Einheimischer und der Neuankömmlinge ausgewogen ist. Auch die Organisationsteams sind durchmischt. Auf diesem Weg wird langsam Vertrauen zwischen Flüchtlingen und Einheimischen aufgebaut und die oft vorhandenen Grenzen zwischen Leistungsempfänger und Unterstützer verschwimmen.

"Neuankömmlinge merken, wer ein langfristiges Interesse an ihnen hat", sagt Rafael Strasser. Es sei enttäuschend, wenn sich jemand zwei, drei Wochen kümmere und danach wieder verschwinde. "Integration heißt für uns, dass die Gesellschaft die Neuankömmlinge als gleichwertige Mitglieder akzeptiert und dass sich die Beziehung nicht auf eine Hilfsbeziehung beschränkt", bekräftigt er.

Kochen verbindet

Der Name "Über den Tellerrand" geht zurück auf die Kochkurse, die der Verein bereits vor zwei Jahren ins Leben gerufen hat. "Mit den Kochkursen wollen wir Einheimische und Flüchtlinge an einen Tisch bringen, damit sie sich unkompliziert und in lockerer Atmosphäre kennenlernen", erklärt Rafael Strasser.

Die sechs- bis achtstündigen Kurse beginnen mit einer Einführung zu Kultur und Heimat eines Flüchtlings, danach kochen alle Teilnehmer gemeinsam ein Rezept aus dem jeweiligen Land. Am Ende würden oft schon Telefonnummern ausgetauscht.

Ein Kochbuch mit Rezepten von Flüchtlingen

Die Idee wurde schnell zur Bewegung. Das Team von "Über den Tellerrand" fasste die Rezepte aus Syrien, Afghanistan, Somalia oder Niger zusammen und veröffentlichte ein Kochbuch, die Resonanz war überwältigend: Das erste Kochbuch kam mit einer Auflage von 3.500 Stück auf den Markt. Davon wurden alle Exemplare verkauft. Die zweite Edition erschien 2014 mit einer Auflage von 4.000 Stück.

Das Kochbuch und die -kurse hätten Bewusstsein für das Flüchtlingsthema geschaffen. Die nachhaltige Integration solle nun über persönliche Kontakte stattfinden, die über die Community-Treffen entstehen.

Integration über den passenden Job

Es ist eine Herausforderung, in einem fremden Land soziale Kontakte aufzubauen. Eine weitere ist es, den richtigen Job zu finden. Auch hierfür gibt es Angebote für Flüchtlinge, wobei eines für ganz besonders viel Aufsehen gesorgt hat: Die Flüchtlings-Stellenbörse "workeer".  

Stellenbörse war Studentenprojekt

Die Erfinder von "workeer" sind der 24-jährige David Jacob und sein ehemaliger Kommilitone der 25-jährige Philipp Kühn. Zusammen haben sie Kommunikationsdesign studiert und das Projekt als Bachelorarbeit eingereicht. 

Ende Juni ging die Stellebörse online, "nach etwa zwei Wochen ging es rasant Berg auf, da hatte schon eine halbe Million Besucher unsere Seite aufgerufen", erzählt David Jacob.

Philipp Kühn,Jobbörse workeer

Philipp Kühn

Foto: Jana Götze

David Jacob als Inhaber und Gründer der Jobbörse workeer

David Jacob

Foto: Jana Götze

"workeer" erleichtert Erstkontakt

Die Webseite besteche durch ihre Klarheit und kinderleichte Bedienung, sagt Heiko Scherer überzeugt: "Es ist der unkomplizierte Erstkontakt um den es geht, den Rest machen Arbeitgeber und Bewerber zu zweit." Heiko Scherer weiß, wovon er spricht. Der Geschäftsführer der Softwareentwicklungsfirma Clapp, ist einer von mehr als 1.150 Arbeitgebern, die ein Angebot auf "workeer" eingestellt haben.  

Schnell, einfach und kostenlos

Das Angebot für einen bezahlten Praktikumsplatz war kaum im Netz, schon kamen fünf Bewerbungen rein. Normalerweise dauere die Suche länger, weil der Softwareentwicklungs-Markt von Headhuntern dominiert werde. "Aber diesmal ist alles ganz schnell gegangen."

Nach einem Bewerbungsgespräch hat sich Heiko Scherer für einen 29-jährigen Softwareentwickler aus Syrien entschieden. Er hat einen Bachelor in Informatik und spricht sehr gut Englisch. "Mit Einwanderern haben wir bisher tolle Erfahrungen gemacht. Sie sind oft sehr motiviert und leistungsbereit", so Heiko Scherer.

Monatelange Recherche und Bedarfsermittlung

Mehr als zwei Monate haben David Jacob und Philipp Kühn recherchiert. In Flüchtlingsunterkünften waren sie unterwegs und haben Gespräche mit Flüchtlingen und Experten geführt. "Als besonders problematisch haben sich die Wohnungssuche, der Zugang zu bürokratischen Verfahren, der Spracherwerb und die Jobsuche erwiesen."

Noch finanzieren die beiden ehemaligen Studenten die Internetplattform selbst. "Der größte Zeitfresser ist die Beantwortung von Emails", pro Woche kommen etwa 150 E-Mails mit Feedback und Hinweisen an, erzählt David Jacob.

Die Berliner Senatsverwaltung für Arbeit und Soziales hat bereits ihre finanzielle Unterstützung angeboten.

Die Zukunft der Stellenbörse

Sobald der Kontakt zwischen Arbeitgeber und Bewerber hergestellt wurde, eröffnen sich jedoch neue Probleme. Oft muss erst einmal geklärt werden, unter welchen Bedingungen ein Neuankömmling in Deutschland arbeiten darf.

David Jacob kennt die Hürden: "Arbeitsrechtliche Informationen finden sich noch nicht bei uns, aber ein Ratgeber und Leitfäden für Unternehmer sind geplant. Außerdem wollen wir eine Qualitätssicherung einführen und die Seite ins Englische übersetzen."

In kleineren Gruppen Kontakte aufbauen

Große Pläne haben auch die Macher von "Über den Tellerrand". Ende des Jahres, am 7. Dezember, wollen sie einen deutschlandweiten Willkommenstag ausrichten. Finanzielle Unterstützung hat das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bereits zugesagt.

Aber das ist nur eine Zukunftsvision: "Unsere Community ist in kürzester Zeit von 15 auf insgesamt 450 Leute angewachsen", erzählt Rafael Strasser, "deshalb haben wir die Champions-Programme ins Leben gerufen, um kleinere Gruppen zu schaffen".

In den sogenannten Champions-Programmen organisieren sich fünf bis 20 Interessierte über Social Media Kanäle, um gemeinsam Fußball zu spielen, zu gärtnern, eine Sprache zu lernen, zu basteln oder laufen zu gehen, "je kleiner die Gruppe ist, desto enger wird der Kontakt zwischen den Menschen. Es sollen keine Geber-Nehmer-Beziehungen entstehen".

Vielleicht sind es genau diese aufrichtigen Kontakte, die Faruk und Gaith das nötige Vertrauen schenken werden, ihren Traum von einem Architekturstudium in Deutschland auch in Zukunft weiterzuverfolgen.