#anstanddigital
Wie wollen wir uns im Netz begegnen? Eine Antwort auf diese Frage geben „11 Gebote“, die gestern Abend der Öffentlichkeit vorgestellt wurden. Sie sollen Orientierung für den Umgang im digitalen Raum bieten.
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„Was kann jeder, was kann jede einzelne dazu beitragen, dass Meinungsverschiedenheiten auch in virtuellen Räumen zivilisiert ausgetragen werden?“ Diese Frage stellte Kulturstaatsministerin Grütters gestern Abend anlässlich der Abschlussveranstaltung von #anstanddigital. Zum Abschluss des Projekts wurden in einem Livestream „11 Gebote“ für ein respektvolles und tolerantes Miteinander im Netz präsentiert.
Orientierung für die digitale Kommunikation
Seit 2019 hatten sich Intellektuelle, Politikerinnen und Politiker, Internet-Expertinnen und Experten, Philosophinnen und Philosophen sowie Vertreterinnen und Vertreter der katholischen und evangelischen Kirche Gedanken über Umgangsformen im Internet gemacht. Dabei sind „11 Gebote“ herausgekommen. Sie sollen Orientierung für die Kommunikation im digitalen Raum bieten.
Ins Leben gerufen wurde das Projekt von der Katholischen Akademie Berlin in Zusammenarbeit mit dem Kulturbüro der Evangelischen Kirche Deutschlands. Die Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und Medien hat #anstanddigital im Rahmen ihrer Digitalisierungsoffensive gefördert.
Kulturstaatsministerin Grütters hofft auf breite Anerkennung
„Sie helfen zu verhindern, dass Gereiztheit auf Gleichgültigkeit, dass Respektlosigkeit auf Resignation stößt und die Grenzen des Sagbaren sich dabei immer weiter verschieben“, sagte Grütters über die „11 Gebote“. Man könne dem Projekt nur breite Anerkennung wünschen, nicht zuletzt angesichts der zahlreichen Fälle realer Gewalt von Menschen, die sich in virtuellen Räumen radikalisiert hätten, fügte sie an.
Neben der Staatsministerin für Kultur und Medien begrüßten der Direktor der Katholischen Akademie Berlin Joachim Hake das Publikum vor den Bildschirmen. Ijoma Mangold, Markus Beckedahl, Nora Bossong, Hasnain Kazim und Jule Weber nahmen als Gäste teil. Johann Hinrich Claussen, Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland, moderierte die Online-Veranstaltung.
11 Gebote für mehr Haltung und Respekt im Netz
Ohne Empörung ist Demokratie nicht möglich. Sie ist die treibende Kraft, wenn es gilt, Ungerechtigkeiten zu erkennen und zu beheben. Ohne sie verliert die Demokratie an Kraft und Leidenschaft. Gleichwohl liegt hier eine große Gefährdung. Das Internet fördert eine fragwürdige Erregungsunkultur, in der sich empörte Urteile über andere in rasender Geschwindigkeit aufschaukeln und verstärken. Ressentiments, Wut und Hass ziehen wie Wellen durchs Netz und beschädigen die demokratische Gesprächs- und Streitkultur und verstärken Atmosphären gegenseitiger Verdächtigungen und Verschwörungstheorien. Die Themen, die man eigentlich verhandeln wollte, gehen darin unter.
Ohne eine ausgeprägte Urteilskraft ist demokratisches Handeln nicht möglich. Demokratische Prozesse brauchen klare Unterscheidungen und Entscheidungen. Vorschnelle moralische Urteile über andere beschädigen diese Bemühung. Denn Urteilskraft wird im Gespräch gebildet. Das Internet befördert die Neigung zum schnellen, oft letzten Urteil über andere. Im vernichtenden Kommentar oder in der moralischen Verächtlichmachung von Mitmenschen. Stets gilt es zu bedenken, dass die eigenen Urteile ein Irrtum sein können und wir selbst Schonung und Nachsicht nötig haben. Und vor allem: Letzte Urteile übereinander stehen niemandem zu.
Die Demokratie lebt von guten Entscheidungen, nicht von schnellen. Um diese zu finden, hat sie in Institutionen und Verfahren viele Verzögerungen, Filter, Verlangsamungen verordnet. Viele sehen darin eine Schwäche, aber es liegt auch eine Stärke darin. Dies gilt auch und vor allem im Internet. Sich mit Äußerungen im Netz Zeit lassen, heißt, diese stets einmal zu überdenken, sie zu überschlafen, grundsätzlich das Tempo herauszunehmen. Denn wer sich vom schnellen Netz hetzen lässt, hat schon verloren, und kurz ist der Weg vom Gehetztwerden zum Selbst-Hetzen.
Demokratische Kultur lebt von der leidenschaftlichen, aber auch sachlichen Debatte. Im Internet wird dieser Streit der Argumente ohne Abstände und ohne Filter ausgetragen. Da gehen leicht die Affekte durch. Die Chancen, im Internet Wissen zu teilen, werden verspielt. Es regieren die Emotionen. Mehr als in der analogen Welt braucht es hier einen kühlen Kopf und eine Leidenschaft der Sachlichkeit sowie eine Haltung, dem Anderen seine Affekte und Emotionen nicht immer nachzutragen.
Demokratische Gesellschaften brauchen ein rechtes Maß von Nähe und Distanz. Das Internet verkürzt die Abstände, ohne jedoch leibliche und körperliche Nähe zu ermöglichen. Diese digitale Nähe ist eine Chance, aber gleichzeitig eine Gefährdung, gegen die Diskretion, Aufmerksamkeit und Empathie für den Anderen eingeübt werden müssen. Hierzu gehört auch die Zurückhaltung, fragwürdige Inhalte im Internet zu rasch und ohne Prüfung zu teilen und zu verbreiten. Gerüchteküchen, Klatschblasen oder missionarisches Verteilen von „fake news“ werden im Netz allzu leicht zu Hetzmeuten und Verschwörungsgemeinschaften.
Der Respekt vor dem Anderen gehört zu den Grundhaltungen der Demokratie. Der Andere ist wie ich: endlich und fehlbar, frei und verletzbar, versucht sich seine Meinung zu bilden, und ist dem Wechsel von Missverständnissen und Einsichten unterworfen. Im Umgang miteinander braucht es den Mut, die eigene Position klar zu vertreten, aber auch zur Diskussion zu stellen, die faire Auseinandersetzung mit dem Gegner und immer wieder der Willen zur genauen Interpretation der gemeinsamen Situation.
Wie immer in der Öffentlichkeit sollte man auch im Netz genau überlegen, was man von sich preisgibt und was man für sich behält. Anonymität kann in repressiven Verhältnissen ein legitimer Schutz der Schwachen sein. Sie kann aber auch feige, verlogen und zerstörerisch sein. Dem sollte man mit gutem Beispiel entgegentreten. Dazu gehört, dass man sich auf das, was man sagt und schreibt, ansprechen lässt. Gesicht zu zeigen, bedeutet zum Beispiel, eine deutliche Haltung zu vertreten, an der sich auch andere orientieren oder der sie mit Gründen widersprechen können.
Demokratie setzt Opposition voraus. Ohne den Widerspruch der Opposition gegen die Regierung verliert die Demokratie ihr Herz. Das Internet und seine Neigung, dies und das für gut zu erklären oder zu empfehlen, kann in eine Atmosphäre sentimentaler Positivität und der Widerspruchslosigkeit führen. Widerspruchsfähigkeit ist eine demokratische Haltung. Sie sollte aber nicht zur Dauerempörung oder zum kindlichen Trotz verkommen. Wer aber auf Widerspruch nur gereizt oder überempfindlich reagiert, nimmt sich die Chance auf bessere Einsichten.
Nicht: Empört euch! Und auch nicht: „Entpört euch!“ (#JoachimBittner). Warum aber nicht: Entrüstet Euch? Die eigenen Borniertheiten und Waffenschilde des Besserwissens ablegen und dem Wortsinn vertrauen: Entrüsten ist ohne Entwaffnen nicht zu haben. Der Entrüstete macht sich wehrlos. Die falschen Entrüstungen würden weniger! Die falsche Empörung ist ja nicht selten nur die Kehrseite einer kalten Gleichgültigkeit, die das Interesse an dem Anderen und dem Gemeinwohl aufgegeben hat.
Ohne die Fähigkeit, sich schämen zu können, ist ein Zusammenleben schwer vorstellbar. Nur so kann man sich mit den Augen der Anderen sehen. Das Sich-schämen-Können reguliert zudem den schwierigen Übergang von Intimität zur Öffentlichkeit. Einen Anderen jedoch in der Öffentlichkeit zu beschämen, ist eine fragwürdige Intervention, von der nur in Ausnahmesituationen Gebrauch gemacht werden sollte. Eher gilt es, dem Anderen Scham zu ersparen und die Schamgefühle anderer zu respektieren. Es braucht Dezenz und Pietät, um die eigene Schamgrenze oder die des Gegenübers zu erkennen und nicht zu verletzen. Ohne ein Bewusstsein für den Wert der Grenze geht es auch im grenzenlosen Internet nicht.
Es ist die Aufgabe des Rechtes, durch Gesetze für den rechtmäßigen Umgang mit Persönlichkeitsrechten, für entsprechenden Datenschutz, für eine angemessene Transparenz von Algorithmen zu sorgen und die Macht der großen Plattformen zu regulieren. Gebote des Anstands haben grundsätzlich keine gesetzliche Regelungskraft, sind lediglich subjektive Empfehlungen und gewinnen ihre Wirkmacht durch möglichst weit verbreitete Verwirklichung. Defizite der Gesetzgebung oder ihrer Durchsetzung können durch Aufrufe nach mehr Anstand nicht ersetzt oder kompensiert werden. Anstand und Recht sind daher stets voneinander zu unterscheiden.
11 Fragen zu Umgangsformen im Internet
Um zu ermitteln, was im digitalen Umgang miteinander erlaubt ist und was nicht, hatten die Initiatoren einen Fragebogen mit insgesamt 11 Fragen zum Umgang im Netz auf der Webseite des Projekts bereitgestellt. Neben Vertreterinnen und Vertretern unter anderem aus Wissenschaft, Kultur und Politik, Influencern und Netz-Aktivisten waren auch Bürgerinnen und Bürger eingeladen, den Fragebogen unter www.anstanddigital.de auszufüllen. Über die gesamte Projektlaufzeit hinweg wurden auf der Projektplattform außerdem Videostatements von Expertinnen und Experten zum Thema Umgangsformen im Internet veröffentlicht.
Freiwilliges Engagement zeigen
Die „11 Gebote“ sind nicht „in Stein gemeißelt“, wie es auf der Projektwebseite heißt. Vielmehr leben die Gebote von der freiwilligen Umsetzung und dem persönlichen Engagement jedes Einzelnen. Als Leitfaden für einen von Anstand, Respekt und Toleranz geprägten Umgang miteinander bieten sie jedoch eine praktische Orientierung für den respektvollen Austausch und eine demokratische Streitkultur in einer zunehmend digitalen Welt.