"Deutschland ist nie neutral"

Im Wortlaut: de Maizière "Deutschland ist nie neutral"

Die Bundesregierung hat entschieden, Waffen für den Kampf gegen die Terroristen der ISIS zu liefern. Eine erhöhte Gefährdung Deutschlands sei daher nicht auszuschließen, so Bundesinnenminister de Maizière in einem Zeitungsinterview. Doch dies dürfe nicht zum Maßstab außenpolitischen Handelns werden.

  • Interview mit Thomas de Maizière
  • Bild am Sonntag

Das Interview im Wortlaut:

Bild am Sonntag (BamS): Herr Minister, die ISIS-Milizen verbreiten in Syrien und im Irak einen unvorstellbaren Terror. Mit wie vielen Flüchtlingen vor allem aus dem Irak rechnen Sie in diesem Jahr?

Thomas de Maizière: Seit dem Beginn des syrischen Bürgerkrieges hat Deutschland bereits 50 000 Flüchtlinge und Asylbewerber aus Syrien aufgenommen. Insgesamt rechne ich in diesem Jahr mit rund 200.000 Asylanträgen. Das wären circa 70 000 mehr als im vergangenen Jahr und die höchste Zahl seit Anfang der 90er-Jahre.

BamS: Planen Sie ein Kontingent auch für Irak-Flüchtlinge wie die Jesiden?

de Maizière: Zusammen mit unseren Verbündeten tut die Bundesregierung alles, um das Entstehen eines islamistischen Staates zu verhindern und den Irak als Staat zu erhalten. Die Jesiden selbst wollen nach dem Ende der Kämpfe in ihre Heimatregionen zurückkehren. Deshalb geht es jetzt nicht darum, Flüchtlinge aus dem Irak nach Deutschland zu holen, sondern dafür zu sorgen, dass sie im Land bleiben können. Dafür müssen wir den Irak von diesen Barbaren befreien.

BamS: Viele Jesiden, denen die Flucht ins kurdische Erbil gelungen ist, glauben nach ihren furchtbaren Erlebnissen nicht daran, dass sie im Irak jemals wieder sicher sein werden.

de Maizière: Den Satz, dass die Jesiden oder die Christen im Irak keine Zukunft haben, will ich nicht akzeptieren. Politik muss gegen diesen Satz arbeiten. Die Religion der Jesiden ist Jahrtausende alt. Wir reden hier über das Land zwischen Euphrat und Tigris, über eine Kultur, die älter ist als unsere. Es wäre ein unerträglicher Triumph für die Terroristen als Feinde unserer Religion, wenn am Ende des Konflikts die Christen aus dem Irak vertrieben wären - kulturhistorisch und menschheitsgeschichtlich.

BamS: Viele Kommunen ächzen bereits heute unter den Lasten. Wo sollen die vielen zusätzlichen Asylbewerber unterkommen und wer soll das bezahlen?

de Maizière: Ich halte die Debatte über die Frage, wie viele Flüchtlinge Deutschland auch als reiches Land aufnehmen kann, für notwendig. Im vergangenen Jahr haben in Europa knapp 435.000 Personen einen Antrag auf Asyl gestellt, davon fast 30 Prozent allein in Deutschland. Das ist deutlich mehr, als wir aufnehmen müssten, egal welchen Verteilschlüssel man zugrunde legt. Das ist eine großartige Leistung der gesamten Gesellschaft und der Länder und Kommunen.

BamS: Was antworten Sie den Bürgern, die der Meinung sind, dass uns das Leid in aller Welt nichts angeht oder dass wir es in Deutschland nicht lindern können?

de Maizière: Das ist schlicht falsch. Deutschland ist von nahezu allen Konflikten in der Welt berührt und trägt eine große Verantwortung. Wer politisch verfolgt ist und Flüchtlingsschutz genießt, ist in Deutschland willkommen. Ohne Wenn und Aber. Wer jedoch politisch nicht verfolgt ist und keines Schutzes bedarf, der kann kein Asylrecht bekommen und muss unser Land wieder verlassen.

Konkret bedeutet das: Wir sollten Flüchtlingsschutz so organisieren, dass den wirklich Hilfsbedürftigen wie Flüchtlingen aus den Bürgerkriegsländern schnell und effektiv geholfen werden kann. Das geht nur, wenn Menschen, denen keine politische Verfolgung droht, wie das in der Regel bei Menschen aus den West -Balkanstaaten der Fall ist, das Asylsystem nicht weiter belasten. Und wir müssen bei denen, die hier unter keinem Gesichtspunkt bleiben dürfen, das Instrument der Abschiebung wieder praktikabel machen. Nur so werden wir die breite Zustimmung zu unserem Asylrecht erhalten.

BamS: Die Bevölkerung sieht die Aufnahme von immer mehr Asylbewerbern sehr kritisch.

de Maizière: Wenn sie aus Ländern kommen, in denen regelmäßig keine Schutzgründe vorliegen, habe ich dafür Verständnis. Gut 20 Prozent der Antragsteller in diesem Jahr kommen aus Serbien, Mazedonien und Bosnien-Herzegowina. Serbien aber ist ein Kandidat für die Aufnahme in die EU und ganz klar ein sicheres Herkunftsland wie die beiden anderen auch. Frankreich hat Serbien bereits zu einem sicheren Herkunftsland erklärt. Aber mein vom Bundestag mit großer Mehrheit verabschiedeter Gesetzentwurf hängt leider noch im Bundesrat fest, weil einige Länder mit Regierungsbeteiligung der Grünen sich dagegen sperren.

BamS: Können Sie das nachvollziehen?

de Maizière: Nein. Mir geht es darum, dass wir weiterhin Flüchtlinge aufnehmen können, die wirklich in Not sind. Das geht aber nur, wenn wir diejenigen nicht aufnehmen, die keinen Anspruch auf Asyl haben. Ich hoffe aber, dass wir mit den Grünen vor allem in den Bundesländern jetzt eine Lösung hinbekommen. Sonst droht Schaden für das Asylsystem insgesamt.

BamS: Seit der Regierungsentscheidung für Waffenlieferungen an die Kurden ist Deutschland endgültig Partei geworden im Kampf gegen ISIS. Was bedeutet das für die Sicherheit von Deutschen im Ausland und für die Innere Sicherheit?

de Maizière: Deutschland ist nie neutral. Wir sind Teil des Westens und das wissen die Terroristen. Ich bin stolz darauf, dass Deutschland immer Partei für die Freiheit ergreift und ein Land ist, das Terroristen hassen. Ich kann eine erhöhte Gefährdung für unser Land und seine Bürger nicht endgültig ausschließen, aber diese Frage kann und darf nicht zum Maßstab unseres außenpolitischen Handelns werden.

BamS: Hunderte Extremisten verlassen Deutschland in Richtung Syrien, Irak oder Afghanistan, um an der Seite der Dschihadisten zu kämpfen. Viele von ihnen kehren nach Deutschland zurück. Wie gefährlich ist das für uns und kann man das verhindern?

de Maizière: Diese Männer haben gelernt zu töten und zu hassen. Sie stellen eine Gefahr für unser Land dar. Die deutschen Sicherheitsbehörden sind bestrebt, möglichst viele dieser Ausreiseplanungen frühzeitig zu erkennen und diese Ausreise zu unterbinden. Das Problem ist nur: Nicht jeder, der nach Syrien, in den Libanon oder in die Türkei reist und dann zurückkehrt, ist ein potenzieller Terrorist. Um die Gefährlichen herauszufinden, brauchen wir eine gute Zusammenarbeit der Nachrichtendienste, gerade mit den USA oder der Türkei.

BamS: Haben Sie Schätzwerte, wie viele Selbstmordattentäter oder potenzielle Terroristen sich unter uns befinden?

de Maizière: Nein. Wir beobachten die Situation aber sehr genau und wissen, dass mehr als 2000 Personen aus Europa zum Kämpfen in die Gegend gereist sind. Etliche Hundert davon sind gestorben, viele andere sind frustriert und lehnen Gewalttätigkeiten nun ab. Aus Deutschland sind rund 400 Personen in Richtung Syrien ausgereist, von denen nach unseren Erkenntnissen um die 10 nach Deutschland zurückgekehrt sind, ohne dass diese nun alle als Selbstmordattentäter oder potenzielle Terroristen einzustufen sind. Zu der Mehrzahl dieser Rückkehrer liegen keine Informationen vor, dass sie sich aktiv an Kampfhandlungen vor Ort beteiligt haben.

Das Gespräch führten Michael Backhaus und Roman Eichinger für die