„Corona hat Verschwörungsglauben sichtbar gemacht“

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Interview zu Verschwörungstheorien „Corona hat Verschwörungsglauben sichtbar gemacht“

In Deutschland ist die Gruppe von Verschwörungsgläubigen vergleichsweise klein, sagt Michael Butter von der Uni Tübingen. Dennoch müsse man das Phänomen ernst nehmen. Familien können bei dem Thema auseinanderbrechen, andere radikalisieren sich. Ein Interview.

4 Min. Lesedauer

Herr Butter, Sie waren Vorsitzender eines europäischen Forschungsnetzwerks, das Verschwörungstheorien vergleichend analysiert hat – sitzen Menschen europaweit denselben Verschwörungstheorien auf?
Michael Butter: Verschwörungsgläubige sind überzeugt davon, dass nichts in der Welt zufällig geschieht und eine Gruppe im Verborgenen die Strippen zieht. Für sie ist nichts so, wie es scheint und alles miteinander verbunden. Das eint Verschwörungsgläubige weltweit. Und dennoch gibt es große Unterschiede. 

Und zwar?
Butter: Einer der Hauptunterschiede, den wir in Europa festmachen konnten, ist, dass in großen Teilen Osteuropas Verschwörungstheorien gesellschaftlich akzeptiert und legitimiert sind. Das ist beispielsweise in Skandinavien oder Westeuropa nicht der Fall. Dort haben sie nach dem zweiten Weltkrieg einen Prozess der Stigmatisierung durchlaufen. In diesen Teilen der Welt sind Verschwörungstheorien eher zu einer Form der Elitenkritik geworden. 

Proträt von Prof. Dr. Michael Butter

Prof. Dr. Michael Butter von der Universität Tübingen

Foto: Privat

Professor Dr. Michael Butter ist Professor für amerikanische Literatur- und Kulturgeschichte an der Universität Tübingen. Er war Vorsitzender der Cost Action "Comparative Analysis of Conspiracy Theories". Das europäische Forschungsnetzwerk hat sich mit den Ursachen und Folgen von Verschwörungstheorien befasst. Daraus entstanden ist unter anderem ein Handbuch zum Umgang mit Verschwörungstheorien (pdf-Dokument). Aktuell leitet Prof. Butter ein vom Europäischen Forschungsrat gefördertes Projekt zum Zusammenhang von Populismus und Verschwörungstheorien.

Seit Beginn der Pandemie beobachtet die Bundesregierung einen Anstieg an Desinformation, Halbwahrheiten und eben auch Verschwörungsmythen …
Butter: In den letzten zwanzig Jahren haben wir zwei Mal einen solchen Anstieg erlebt. Einmal durch das Aufkommen des Internets. Und nun erneut durch die Pandemie. Das Internet hat Verschwörungstheorien sichtbarer gemacht und die Vernetzung von Anhängerinnen und Anhängern erleichtert. 

Was Corona anbelangt – so sind Verschwörungstheorien im Diskurs präsenter geworden, zugenommen haben sie aber nicht. Das zeigen mehrere repräsentative Studien eindeutig. Aber: Menschen, die ohnehin eine Neigung zu einem solchen Glauben hatten, sind in der Krise in ihren Überzeugungen gestärkt worden. Das hat dazu geführt, dass sie eher darüber sprechen. Deshalb kommt es uns so vor, als gäbe es eine Zunahme. Es gibt aber noch weitere Faktoren, die zu dieser Sichtbarkeit geführt haben. 

Welche Faktoren sind das?
Butter: Die meisten Menschen, die an Verschwörungen glauben, wissen genau, dass ihr Umfeld das nicht tut. Selbst Familien sind großartig darin, strittige Themen zu vermeiden. Corona hat uns allen aber abverlangt, sich zu positionieren. Die Fragen, wie und ob man sich treffen kann, wo man eine Maske tragen muss – bei solchen Unterhaltungen erfährt man plötzlich, dass die Tante, der Freund, der Kollege an Verschwörungstheorien glaubt. Das ist für einen selbst neu, aber in den meisten Fällen haben die Menschen schon vorher an solche Theorien geglaubt. 

Die Pandemie hat bei vielen Menschen Ängste geschürt …
Butter: Richtig. Das Bedrohungsszenario hat sich durch Corona verändert. Ein Beispiel: Wenn Sie vor der Krise zur Überzeugung gelangt sind, der 11. September sei ein geplanter Anschlag der Amerikaner selbst gewesen - dann hatte das auf Ihren Alltag keinen Einfluss. Sie konnten die Kinder zur Schule bringen, zur Arbeit gehen, mit Kollegen in der Cafeteria sitzen, nachmittags in der Stadt einkaufen, usw.

Mit Corona sind Sie plötzlich in Ihrem Alltag eingeschränkt. Und wenn Sie jetzt glauben, dass alles ein großer Komplott sei, alles Lug und Trug, werden Sie nun jede Sekunde des Tages daran erinnert. Sie haben das Gefühl, die Verschwörung will Ihnen selbst ans Leder. Diese Gedanken haben enormes Mobilisierungspotential, das haben wir auf den Straßen sehen können und insbesondere in den Familien hat der Beratungsbedarf enorm zugenommen.

Was raten Sie Freunden und Familien von Verschwörungstheoretikern?
Butter: Grundsätzlich sollte man immer versuchen im Gespräch zu bleiben und einen Prozess der Selbstreflexion auszulösen. Im Zweifel rate ich dazu, sich professionelle Hilfe zu holen. Beratungsstellen können die individuellen Fälle am besten einschätzen und erkennen auch, ob jemand in Richtung Rechtsextremismus oder Antisemitismus abdriftet. Denn dann werden Menschen zu einer Gefahr für unsere Gesellschaft. Das passiert jedoch wesentlich seltener, als die Berichterstattung suggeriert. Am härtesten trifft es zunächst die Familien selbst. Verschwörungstheorien zerreißen sie enorm.

Was kann Politik und Gesellschaft tun?
Butter: Wir wissen, dass Bildung hilft. Je gebildeter Menschen sind, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie an Verschwörungstheorien glauben. Zudem hilft es Menschen konkret über Verschwörungstheorien aufzuklären. Menschen, die sich mit den Mechanismen auskennen, sind weniger anfällig für solches Denken. 

Weitere Informationen zu Verschwörungsmythen finden Sie auf der Webseite der Bundeszentrale für politische Bildung   oder der Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg
Im Einzelfall kann es richtig sein, Hilfe zu holen, beispielsweise wenn Menschen sich oder andere direkt gefährden. In einigen Bundesländern gibt es dafür spezielle Beratungsstellen, wie beispielsweise in Baden-Württemberg , Nordrhein-Westfalen oder in Berlin .