Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt anlässlich der Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs

Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Grütters beim Festakt anlässlich der Eingliederung des Stasi-Unterlagen-Archivs in die Verantwortung des Bundesarchivs

Am Jahrestag des Volksaufstandes gegen die kommunistische Gewaltherrschaft ist das Stasi-Unterlagen-Archiv in die Zuständigkeit des Bundesarchivs übergegangen. Kulturstaatsministerin Grütters betonte, dass die Zusammenführung mit dem Bundesarchiv kein Schlusspunkt, sondern die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen sei. Durch die BStU sei die ehemalige Stasi-Zentrale zum Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand entwickelt worden, sagte sie.

Donnerstag, 17. Juni 2021

Nur wenige Meter von hier entfernt, am Zeughaus Unter den Linden, eskalierte am 17. Juni 1953, heute vor 68 Jahren, die Gewalt gegen die Demonstrierenden. Um 10.25 Uhr meldete ein Volkspolizist dem Operativstab der Hauptverwaltung Deutsche Volkspolizei den ersten Toten: Ein russischer Schützenpanzerwagen habe einen jungen Mann überfahren. Mehr als 50 Tote und mehr als 15.000 Inhaftierte zählten am Ende zur traurigen Bilanz jenes Tages, an dem in Ost-Berlin und in anderen ostdeutschen Städten der erste Aufstand gegen die kommunistische Gewaltherrschaft in Mittel- und Osteuropa blutig niedergeschlagen wurde. Das jüngste Todesopfer, ein Berliner Schüler namens Rudi Schwandner, war gerade einmal 14 Jahre alt. Ich bitte Sie, sich zu erheben und gemeinsam mit mir einen Moment inne zu halten, um der Menschen zu gedenken, die ihren Einsatz für demokratische Grundrechte mit ihrem Leben oder mit langen, harten Haftstrafen bezahlen mussten.

Ich danke Ihnen, meine Damen und Herren. 

Es ist ein politisches Signal, dass wir zur Erinnerung am Jahrestag des Volksaufstandes gegen die kommunistische Gewaltherrschaft zusammenkommen und einmal mehr die so wichtige und erfolgreiche Arbeit des BStU beleuchten. Denn gerade diejenigen, die – wie die Demonstrierenden am 17. Juni – gegen den Unrechtsstaat der SED gekämpft haben, waren den Einschüchterungs- und Zermürbungsstrategien wie auch dem Bespitzelungssystem der Stasi permanent ausgesetzt – jenem unersättlichen Schwarm aus Denunzianten, der sich in das Beziehungsgefüge einer ganzen Gesellschaft, in Freundschaften und Familien fraß. Wurden die Bespitzelten auch nicht ums Leben gebracht, so wurden sie doch vielfach mit Gewalt um ihr Leben gebracht – um die Verwirklichung ihrer Vorstellungen von einem guten Leben: sei es, weil sie für ihr Aufbegehren gegen die SED-Diktatur in den berüchtigten Gefängnissen Berlin-Hohenschönhausen, Hoheneck oder Bautzen gelitten haben; sei es, weil sie die Repressalien zu spüren bekamen, mit denen das SED-Regime jedes Infragestellen staatlicher Autorität im Keim erstickte. 

Die Akten, in denen dies dokumentiert ist, vor der Vernichtung bewahrt zu haben, ist Verdienst und Vermächtnis der DDR-Bürgerrechtsbewegung. Als 1992 der „Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik“ – kurz: BStU – seine Pforten öffnete, hatten Menschen weltweit zum ersten Mal die Möglichkeit, nach dem Sturz einer Diktatur nachzuvollziehen, welche Informationen die Geheimpolizei über sie gesammelt hatte und wer die Spitzel waren. In den vergangenen drei Jahrzehnten haben der und die BStU im Umgang mit den Schicksalen der Stasi-Opfer und den gesammelten Informationen ein hohes Maß an Verantwortungsbewusstsein bewiesen. Dafür danke ich insbesondere den Bundesbeauftragten und allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Sie, lieber Joachim Gauck, liebe Marianne Birthler, lieber Roland Jahn, waren mehr als Leiter, als Leiterin einer Behörde. Mit dem Gewicht Ihrer Biographie als Bürgerrechtler haben Sie erfolgreich für die Anerkennung der Stasi-Opfer gekämpft und die Mechanismen des Machterhalts der SED sichtbar gemacht. Sie haben die ehemalige Stasi-Zentrale zum Ort der Aufklärung über Diktatur und Widerstand entwickelt und damit auch die Erinnerung an den Mut der Oppositionellen und Bürgerrechtler wachgehalten.

Unter dem juristischen Dach des Bundesarchivs und im Kontext weiterer Archivbestände mit Bezug zur ehemaligen DDR und zur Zeit der deutschen Teilung wollen wir die Stasi-Unterlagen als Teil unseres gesamtstaatlichen Gedächtnisses dauerhaft und für künftige Generationen bewahren. Deshalb führen wir die Kompetenzen und Erfahrungen des Bundesarchivs und des Stasi-Unterlagen-Archivs gut 30 Jahre nach der deutschen Wiedervereinigung zusammen. Das ist kein Schlusspunkt, sondern im Gegenteil die Fortsetzung der Aufarbeitung unter gesamtdeutschen Vorzeichen und mit verbessertem Zugang zu den Akten, die künftig zusätzlich auch an sämtlichen Standorten des Bundesarchivs und digital eingesehen werden können. Für die Belange der Opfer der SED-Diktatur wird die ehemalige Bürgerrechtlerin Evelyn Zupke sich künftig als Ombudsperson beim Deutschen Bundestag einsetzen. Vielen Dank für Ihre Bereitschaft, diese große Verantwortung zu übernehmen, liebe Frau Zupke. Dankbar bin ich auch für das breite politische und gesellschaftliche Bündnis im Sinne der Zukunft der Aufarbeitung der SED-Diktatur, das die Eingliederung der Akten in die Verantwortung des Bundesarchivs heute trägt – umso mehr, weil der Verständigung auf den Gesetzentwurf kontroverse, durchaus auch emotional geführte Debatten vorausgegangen sind. 

Solche Debatten zu führen, über Diktaturerfahrungen zu reden, persönlichen Geschichten Raum zu geben und dabei Konflikte zuzulassen und auszutragen – das ist mühevoll und schmerzhaft, aber genau das ist Aufarbeitung. Dafür bleiben die Stasi-Unterlagen weiterhin unverzichtbar: als Möglichkeit, das Unrecht der SED-Diktatur zur Sprache zu bringen, aber auch als Aufforderung zur differenzierten Auseinandersetzung mit Leid und Verantwortung. Wie schwer es ist, den „Schweigebann“ zu brechen, hat die Schriftstellerin und ehemalige DDR-Leistungssportlerin Ines Geipel in ihrem Buch „Umkämpfte Zone“ anhand ihrer eigenen Familiengeschichte nachgezeichnet und dafür mit Hilfe der Akten beim BStU auch die Stasi-Vergangenheit ihres Vaters erforscht. Ich zitiere aus einem Interview: „Die harte Substanz der DDR – die Haftgeschichten, die stillen Morde, die Zersetzungen – wird nur von sehr wenigen erzählt und immer noch nicht innerhalb der Familien. Genau da, an die Familientische, sollte Aufarbeitung aber hin.“

Ja, es reicht nicht, in Parlamenten und auf Podien, unter Politikern und Historikern, in Gedenkstätten und Forschungseinrichtungen um Aufarbeitung zu ringen. Aufarbeitung gehört auch in die Mitte der Gesellschaft: an die Familientische, ins persönliche Umfeld, auf dass mehr erzählt als belehrt, mehr sich ausgesprochen als abgerechnet wird. Denn vor allem in der Auseinandersetzung mit einzelnen Biographien, angesichts des ständig notwendigen Abwägens zwischen Anpassung und Aufbegehren, lassen sich Möglichkeiten und Grenzen individueller Verantwortung in einem totalitären Staat vermessen. Als Zeugnisse des Unrechts wie auch der Unbeugsamkeit ermöglichen die Stasi-Akten Lernerfahrungen, die das Bewusstsein für den Wert demokratischer Grundrechte und Freiheiten schärfen. Wer versteht, was eine Diktatur dem Einzelnen an Zwängen auferlegt, sieht klarer, welche Verantwortung Demokratie dem Einzelnen anvertraut. In diesem Sinne bitte ich Sie, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des vormaligen BStU, Ihre verdienstvolle Arbeit ab heute gemeinsam mit Ihren Kolleginnen und Kollegen aus dem Bundesarchiv so engagiert wie bisher fortzusetzen. Machen Sie dieses einzigartige Vermächtnis der DDR-Bürgerrechtsbewegung weiterhin für unsere Demokratie fruchtbar. Ich danke Ihnen von Herzen.