Rede von Kulturstaatsministerin Grütters anlässlich des 60. Jahrestags des Mauerbaus

84 Jahre alt wäre Günter Litfin aus Berlin-Weißensee heute. Vermutlich könnte er stolz auf seinen beruflichen Werdegang zurückblicken, den er als modebewusster junger Mann Ende der 1950er Jahre mit seiner Schneiderlehre und der ersten Festanstellung in einem Westberliner Maß-Atelier begann. Vielleicht wäre es ihm gelungen, seinen Lebenstraum zu verwirklichen und Theaterschneider zu werden. Und vielleicht hätte er Enkelkinder, denen er erzählen könnte, wie es damals war, an jenem Augusttag kurz nach dem Mauerbau, auf der Flucht aus Berlin-Weißensee nach West-Berlin.

Nicht Günter Litfin, sondern sein Bruder Jürgen Litfin hat später davon erzählt, ich zitiere: „Mein Bruder ist hin zur Charité, hat das Fahrrad irgendwo abgestellt, ist runter gelaufen bis zum Wasser, ist unter die alte Brücke vierzig Meter noch gelaufen, wurde oben von der Brücke angesprochen: ‚Halt, oder wir schießen!‘ Daraufhin ist mein Bruder spontan ins Wasser gesprungen und wollte rüber auf die Westseite schwimmen, wo jetzt die Bahnhofshalle ist. Und das wusste ja keiner, dass die den Schießbefehl hatten. Und publik hat das mein Bruder gemacht, indem durch seine Flucht alle Bescheid wussten, es wird geschossen an der Grenze.“ Der 24-jährige Günter Litfin war das erste Todesopfer an der Berliner Mauer. Er starb am 24. August 1961 nicht weit entfernt von hier durch einen Schuss in den Hinterkopf.

Wenn sich übermorgen der Beginn des Mauerbaus zum 60. Mal jährt, sind unsere Gedanken vor allem bei den Menschen, die im Schatten der Mauer ihr Leben lassen mussten. Wir denken aber auch an jene, die nach einem gescheiterten Fluchtversuch in Gefängnissen wie Berlin-Hohenschönhausen Haft, Misshandlung und Entwürdigung erleiden mussten. Auch Angehörige und Freunde dieser so genannten „Grenzverletzer“ waren den Schikanen, Repressionen und Zersetzungsstrategien des Staatssicherheitsdienstes ausgesetzt. Mit Wachtürmen, Panzersperren, Stacheldraht, Laufanlagen für Hunde, Selbstschussanlagen und dem Schießbefehl für Grenzsoldaten wurde die Berliner Mauer zum Bestandteil eines gnadenlosen Grenzregimes, das den totalitären Machtanspruch der SED-Diktatur durchzusetzen half. Sie machte die DDR zu einem Gefängnis und ihre Bürgerinnen und Bürger zu Gefangenen eines sozialistischen Staates, der individuelle Vorstellungen von einem guten Leben unterdrücken musste, um überhaupt Bestand zu haben. So war der Mauerbau vor 60 Jahren sowohl Bankrotterklärung der kommunistischen Diktatur als auch Fanal der 28 Jahre währenden Spaltung Europas in zwei Welten. In der einen war Freiheit offener Lebensraum, in der anderen nur heimlicher Lebenstraum.

Mögen die Narben, die 160 Kilometer Beton, Sperranlagen und „Todesstreifen“ hinterlassen haben, heute auch weitgehend aus dem Stadtbild des wieder vereinten Berlins verschwunden sein: Bestand haben muss die Erinnerung an das Leid und das Unrecht unter kommunistischer Gewaltherrschaft, vor dem es nach dem Bau der Mauer kein Entrinnen mehr gab. Erinnerung verdienen die Opfer staatlicher Unterdrückung und Gewalt, nicht zuletzt jene, die an der innerdeutschen Grenze für ihre Sehnsucht nach Freiheit mit dem Leben bezahlten. Erinnerung bedeutet auch, den Mut all jener DDR-Bürgerinnen und -Bürger anzuerkennen, die sich den Traum von einem selbstbestimmten Leben selbst hinter Mauern und Stacheldraht nicht nehmen ließen und deren Sehnsucht nach Freiheit schließlich 1989 revolutionäre Kraft entfaltete. Erinnerung bietet darüber hinaus aber auch Chancen für die Zukunft. Erinnerung kann Menschen, die den Schrecken eines totalitären Unrechtsregimes nie selbst erleben mussten, den Wert demokratischer Grundrechte wie auch die Gefahren totalitärer Ideologien vermitteln. Wie bitter nötig eine fundierte Auseinandersetzung mit der DDR-Diktatur ist, zeigen Umfragen, wonach der Sozialismus sich in Deutschland und weltweit eines erstaunlich guten Rufs erfreut, obwohl in den vergangenen 100 Jahren mehr als zwei Dutzend Versuche, eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, gescheitert sind.

Der Ökonom Kristian Niemietz hat diesem Phänomen ein lesenswertes Buch gewidmet, das kürzlich mit dem Titel „Sozialismus. Die gescheiterte Idee, die niemals stirbt“ auch auf Deutsch erschienen ist. Wie kann es sein, fragt er, dass eine Idee, die schon so viel Leid verursacht hat, heute wieder auf so viel Enthusiasmus stößt? Wie kann es sein, dass der vage Traum von Gleichheit in einer antikapitalistischen Gesellschaft blind macht für bittere Armut, Unterdrückung und massive Freiheitseinschränkungen, die bisher noch jedes sozialistische Experiment begleitet haben – ob in der DDR, ob in der Sowjetunion, ob im maoistischen China oder heute in Venezuela? Niemietz erklärt die Renaissance sozialistischer Ideen mit ihrer erfolgreichen Immunisierung gegen Kritik. Das dafür verwendete Argumentationsmuster läuft auf die Behauptung hinaus, sämtliche gescheiterten sozialistischen Experimente seien – obwohl von Sozialistinnen und Sozialisten lange als solcher bejubelt – in Wahrheit gar kein Sozialismus gewesen. Die historischen Erfahrungen seien deshalb kein Argument gegen den Sozialismus.
Tatsächlich ist dieses Argumentationsmuster weit verbreitet, und das leider nicht nur am äußersten linken Rand des politischen Spektrums. Zu den unbeirrbaren Verteidigerinnen des Sozialismus gehört offenbar beispielsweise die SPD-Parteivorsitzende. Ich zitiere zwei ihrer Tweets:
„Wer Sozialismus negativ verwendet, hat halt einfach keine Ahnung.“
Und: „*Echten* Sozialismus gab’s bisher noch nicht“.

Niemietz zeigt in seinem Buch, warum der Traum vom Sozialismus ein fataler Irrtum ist. Es gibt keinen Sozialismus, der nicht früher oder später autoritäre Züge annehmen muss – unabhängig von den hehren Idealen seiner Befürworter. Die Unterdrückung der Freiheit ist kein Unfall, sondern angelegt im System selbst. Sie ist die zwangsläufige Konsequenz, wenn ökonomische Aktivitäten allein staatlich geplant, gelenkt und kontrolliert werden. Deshalb, so Niemietz, hätte der Bau der Berliner Mauer 1961 – ein Schock für die Welt und vor allem für die Berlinerinnen und Berliner – eigentlich niemanden überraschen dürfen; schließlich hatten andere sozialistische Länder massive Einschränkungen der Reisefreiheit längst vorgemacht. Ich zitiere: „Der Bau der Berliner Mauer war die Herstellung sozialistischer Normalität.“

Diese Zusammenhänge zu verstehen, ist wichtig: zum einen, um den Verheißungen totalitärer Ideologien zu widerstehen, zum anderen, um mit den richtigen Mitteln für eine gerechte und solidarische Gesellschaft zu kämpfen. Nicht zuletzt aus diesem Grund bleiben die Aufarbeitung der kommunistischen Diktatur in der DDR und die Erinnerung an ihre Opfer Aufgaben für die Zukunft.
Deshalb fördert die Bundesregierung aus dem Kulturetat Einrichtungen und Initiativen, die Gewalt, Repressionen und Freiheitseinschränkungen durch das sozialistische Regime in der DDR dokumentieren. Dazu gehören die Stiftung Berliner Mauer, die Stiftung Aufarbeitung, das deutsch-deutsche Museum in Mödlareuth, die Gedenkstätten Berlin Hohenschönhausen und Deutsche Teilung Marienborn oder die Initiativgruppe Geschlossener Jugendwerkhof Torgau. Dazu gehören aber auch die Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft und das Bundesarchiv, das kürzlich die Verantwortung für das Stasi-Unterlagen-Archiv übernommen hat. Die Fördersummen haben wir in den vergangenen Jahren vielfach massiv erhöht: So stieg seit meinem Amtsantritt der Bundeszuschuss bei der Stiftung Berliner Mauer von rund 900.000 Euro auf knapp 2 Millionen Euro, bei der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen von 750.000 Euro auf rund 1,7 Millionen Euro und bei der Stiftung Aufarbeitung von knapp 3,5 Millionen Euro auf fast 6 Millionen Euro. Im Rahmen unseres neuen Programms „Jugend erinnert – Förderlinie SED-Unrecht“ unterstützen wir darüber hinaus 44 Bildungs- und Vermittlungsprojekte zur Aufarbeitung des SED-Unrechts mit insgesamt bis zu rund 7 Millionen Euro. Sie, lieber Herr Dr. Lukasch, haben bei der Auswahl geeigneter Vorhaben in der beratenden Jury engagiert mitgewirkt. Dafür danke ich Ihnen herzlich.

Für die politische Bildung, für das Lernen aus Diktaturerfahrungen und die Sensibilisierung für den Wert demokratischer Freiheitsrechte ist auch und insbesondere die Konfrontation mit den erschütternden Geschichten hinter der leidvollen deutsch-deutschen Teilungsgeschichte unverzichtbar: Denn mehr als ein Überblick im Geschichtsbuch geht die Begegnung mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen unter die Haut. Das aus dem Bundeskulturetat geförderte, koordinierende Zeitzeugenbüro vermittelt dafür Zeitzeugengespräche an Bildungsträger. Auch Sie, lieber Herr Lubomierski, engagieren sich als Zeitzeuge für die politische Bildung. Ich bin dankbar, dass Sie heute einmal mehr von Ihrer Geschichte berichten, die auch in der Dauerausstellung des Tränenpalasts dokumentiert ist. Wie man Wissen über die DDR an ein sehr junges Publikum vermittelt und schon Kinder im Grundschulalter für die Unterschiede zwischen Diktatur und Demokratie sensibilisiert, wissen Sie, liebe Frau Schädlich, die Sie in Ihrem Kinderbuch „Wie war das in der DDR?“ von Ihrer Kindheit in der DDR erzählen. Für diesen Beitrag zur politischen Bildung der Jüngsten bin ich dankbar und hoffe, dass Sie heute auch von der Resonanz auf Ihr Buch berichten. Sie, lieber Herr Schmitzer, haben in Ihrem vom Bundespräsidenten ausgezeichneten Projekt die Folgen des Mauerbaus für Schülerinnen und Schüler einer grenznahen Westberliner Schule – Ihrer Schule, des Canisius-Kollegs – dokumentiert. Ich bin gespannt zu erfahren, welche Diskussionen Ihre Nachforschungen ausgelöst haben und welche Erkenntnisse für Sie und Ihre Mitschülerinnen und Mitschüler damit verbunden waren.

Erinnerung hat Zukunft, wenn die junge Generation sie als relevant begreift und weiterträgt. Davon bin ich überzeugt. Und ich glaube, dass Menschen gerade in einem Alter, in dem sie selbst große Pläne und Zukunftsträume haben, besonders empfänglich sind für die Einsicht, wie schmerzhaft es sein muss, wenn Träume auf Mauern statt Möglichkeiten treffen und unter Umständen sogar, wie im Fall Günter Litfins, mit dem Leben bezahlt werden müssen. Wie sich die junge Generation für die Auseinandersetzung mit der kommunistischen Diktatur gewinnen lässt und welcher (auch politischer) Unterstützung es dafür bedarf, verdient deshalb noch mehr Aufmerksamkeit – nicht nur, aber ganz besonders zum 60. Jahrestag des Mauerbaus. In diesem Sinne freue ich mich auf eine inspirierende Diskussion!