Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum IKI-Thementag „Medienbild im Wandel: Jüdinnen und Juden in Deutschland“

Im Wortlaut Rede von Kulturstaatsministerin Grütters zum IKI-Thementag „Medienbild im Wandel: Jüdinnen und Juden in Deutschland“

Anlässlich des Aktionstages „Solidarität mit Juden und gegen Antisemitismus“ wies Kulturstaatsministerin Grütters auf die große Verantwortung der Medien hin. Ihre Bilder seien nicht nur imstande, Stereotype zu vermitteln und zu verstärken, sondern sie eben auch auszuräumen. Der Aktionstag fand zum zweiten Mal im Gedenken an den Anschlag auf die Synagoge von Halle am 9. Oktober 2019 statt.

Donnerstag, 7. Oktober 2021

Der Tag des entsetzlichen Anschlages auf die Synagoge von Halle jährt sich übermorgen am 9. Oktober nun schon zum zweiten Mal. Jeder, der die Bilder des feigen Mordanschlages auf Mitglieder der jüdischen Gemeinde gesehen hat, muss sich fragen: Wie ist das möglich in unserem Land? Woher kommen dieser mörderische Hass, diese Gewalt, diese Aggression?

Für uns in Deutschland ist es ein Geschenk, dass nach der mörderischen Vernichtung der Juden durch den Nationalsozialismus heute wieder jüdisches Leben zum Alltag in unserem Land gehört. Über 200.000 Jüdinnen und Juden haben hier eine Heimat gefunden. Heute zieht es gerade Junge und Kreative mit jüdischen Wurzeln nach Deutschland. Jüdinnen und Juden bereichern den Alltag unserer vielfältigen Gesellschaft auch abseits der jüdischen Gemeinden in jüdischen kulturellen Einrichtungen, sie gehören selbstverständlich zu uns!

Gleichzeitig wächst bei vielen inzwischen wieder die Angst vor Antisemitismus. Menschen, die augenscheinlich als Juden erkennbar sind – etwa durch das Tragen einer Kippa oder israelischer Symbole oder durch die hebräische Sprache – fühlen sich bei uns nicht mehr sicher.

Woher kommt der Anstieg antisemitischer Vorfälle? Diese Frage müssen wir uns immer wieder stellen und sie möglichst auch beantworten. In diesem Jahr soll der .

Dabei kommt mir der vielfach ausgezeichnete Film „Masel Tov Cocktail“ in den Sinn. Die Regisseure antworteten in einem Interview auf die Frage, wie es zu dem Filmprojekt kam, Folgendes: „Wir wollten irgendwie das Gefühl kommunizieren, wie es sich anfühlt, jüdisch zu sein in Deutschland. Was macht es mit einem, wenn die eigene Anwesenheit in den Köpfen der Deutschen nichts anderes auszulösen scheint als die Bilder des Holocausts. Wie fühlt man sich, wenn das Outing als Jude in einer Gruppe, diese zum Schweigen bringt, weil die Leute nicht wissen, was sie jetzt sagen sollen?“
Es sind etliche Klischees und Stereotype, die die Regisseure mit dem Film sprengen. Klischees und Stereotype, denen viele Jüdinnen und Juden in Deutschland begegnen. Das liegt leider auch daran, dass die wenigsten Menschen eine Jüdin oder einen Juden persönlich kennen. So sind es oft die Medien, die die Bilder in den Köpfen prägen.

Der heutige Thementag stellt die Funktion der Medien als „Bilderzeugungsmaschine“ in den Mittelpunkt. Welches Bild von Jüdinnen und Juden vermitteln deutsche Medien? Spiegeln sie die Realität und die Vielfalt der Lebensentwürfe von Jüdinnen und Juden tatsächlich wider? Wo prägen Stereotypen noch immer das Bild? Welche Rolle spielen soziale Medien in der wachsenden Verbreitung von Hass und Hetze, bei der Verbreitung alter und neuer Verschwörungsmythen? Ausgewiesene Expertinnen und Experten werden diesen Fragen später nachgehen.
Fest steht: Die klassischen Medien tragen eine wichtige gesellschaftliche Verantwortung dafür, wie jüdisches Leben wahrgenommen wird. Insbesondere dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk mit seinem Informations-, Bildungs- und Kulturauftrag kommt dabei eine Schlüsselfunktion zu. Fest steht auch: Wir brauchen eine differenzierte Berichterstattung über Jüdinnen und Juden. Für das Thema bei „Machern“ wie Nutzern zu sensibilisieren und Klischees und Stereotype aufzubrechen, ist eine wichtige Aufgabe.

Ich danke der Initiative Kulturelle Integration, dem Deutschen Kulturrat, Herrn Dr. Schuster und dem Zentralrat der Juden und dem Antisemitismusbeauftragten der Bundesregierung Felix Klein, für die vertrauensvolle und gute Zusammenarbeit. Ich danke allen, die mit Leidenschaft und Sachverstand an dieser Veranstaltung mitwirken! Der Thementag hat das Ziel, die Normalität und Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland heute noch sichtbarer und selbstverständlicher zu machen.
Mit dem Aktionstag laden wir dazu ein, sich zum Judentum als Bereicherung unserer Kultur zu bekennen und ein sichtbares Zeichen gegen Diskriminierung und Antisemitismus und für Solidarität und Zusammenhalt zu setzen. Denn nur gemeinsam, im Zusammenstehen aller freiheitliche-demokratisch gesinnten Kräfte dieses Landes, können wir Antisemitismus bekämpfen. Daher begrüße ich es, dass vor wenigen Tagen auch die Europäische Kommission eine EU-weite Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt hat, an der wir seitens der Bundesregierung aktiv mitgewirkt haben.
Der Thementag reiht sich aber auch ein in das Programm zum Festjahr „1700 Jahre Jüdisches Leben in Deutschland“. 1.700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland zeigen, dass Jüdinnen und Juden, jüdische Kultur und Traditionen unser Zusammenleben seit Jahrhunderten prägen – sei es in Wirtschaft oder Wissenschaft, Philosophie oder Physik, Malerei oder Musik. Diesen Beitrag deutlich und sichtbar zu machen, soll ein Zeichen der Ermutigung sein, dass sich ein selbstbewusstes Judentum hier in Zukunft noch offener entfalten kann und möge. Das Gleiche gilt für die Bewahrung jüdischen Kulturerbes. Mit der Sanierung und Erhaltung denkmalgeschützter Synagogen wie der kürzlich wiedereröffneten, aufwendig sanierten Carlebach-Synagoge in Lübeck oder des Kulturforums Synagoge Görlitz setzten wir weithin sichtbare Zeichen.
Kultur und Medien können tatsächlich viel leisten. Ausstellungen können irritieren und Stereotype aufbrechen. Bildende Kunst und Theater können Menschen ins Gespräch bringen, sichtbar und hörbar machen. In Büchern können bislang nicht bekannte Geschichten erzählt werden. Filme wie der eingangs erwähnte „Masel Tov Cocktail“ oder Fernsehshows wie „Freitagnacht Jews“ von Daniel Donskoy feiern das heutige jüdische Leben in Deutschland.

Mit der Vermittlung von Medienkompetenz, mit kultureller und historisch-politischer Bildung, gilt es, diese Entwicklung weiter zu unterstützen. Bundesgeförderte Museen, Gedenkstätten und Dokumentationszentren zur NS-Aufarbeitung, Einrichtungen zur Demokratiegeschichte, Bibliotheken, Archive − sie alle sind dabei gefordert. Im Kabinettausschuss gegen Rechtsextremismus und Rassismus hat die Bundesregierung Maßnahmen beschlossen, mit denen wir vor allem junge Menschen erreichen wollen. Ein Beispiel dafür ist das digitale Denkmal „Jeder Name zählt“ des Arolsen Archives. Hier können Schulklassen aktiv an einem Archiv für die Opfer der NS-Zeit mitarbeiten. Darüber hinaus sind breitenwirksame Bildungsformate mit Polizei, Bundeswehr, Feuerwehr und Fußballclubs geplant. Ein weiteres wunderbares Beispiel ist natürlich auch das Jüdische Museum direkt gegenüber. Es lädt mit seiner neuen Dauerausstellung wie auch mit der neuen Kinderwelt ANOHA Besucherinnen und Besucher aller Altersgruppen ein, die facettenreiche Geschichte und vor allem Gegenwart jüdischen Lebens in Deutschland und Europa besser kennenzulernen. Derzeit sind dort gerade Bilder von Jüdinnen und Juden, die heute in Deutschland leben, zu sehen. Zehn Fotos, die wir vor wenigen Monaten anlässlich des IKI-Fotowettbewerbs „Zusammenhalt in Vielfalt – jüdischer Alltag in Deutschland“ ausgezeichnet haben, sehen wir hier an der Wand.
Wenige Meter nebenan zeigt das Museum 50 Fotografien des französischen Fotografen Frédéric Brenner, der über Jahrzehnte jüdisches Leben in der Diaspora begleitet hat. Zwischen 2016 und 2019 entstand so eine Serie über Jüdinnen und Juden im Berlin der Gegenwart. Die Bilder zeigen die Fülle und die Lebendigkeit jüdischen Lebens als Teil des Alltags in Deutschland. Sie zeigen, dass diese Vielfalt keine fremde Welt ist, sondern deutsche Lebenswirklichkeit und kulturelle Bereicherung. Der Fotograf selbst sagt über diese Bilder: „Ich mache Bilder, um Bilder zu brechen“.

Bilder machen und Bilder zeigen, um Bilder zu brechen: In diesem Sinne können Medien nicht nur Stereotype vermitteln und verstärken, sondern sie eben auch ausräumen. Das macht auch der Protagonist Dimitrij Liebermann im eingangs erwähnten Kurzfilm „Masel Tov Cocktail“. Und er gibt uns – Stichwort Vergangenheitsbewältigung – direkt noch einen Auftrag mit: „Gucken Sie nach vorn und bewältigen Sie die Gegenwart“. In diesem Sinne bin ich gespannt auf die Diskussionen und Erkenntnisse des heutigen Tages und wünsche Ihnen allen eine inspirierende Veranstaltung.