Demokratie lebt vom Zuhören

  • Bundesregierung ⏐ Startseite
  • Schwerpunkte

  • Themen   

  • Bundeskanzler

  • Bundesregierung

  • Aktuelles

  • Mediathek

  • Service

Das Gespräch Demokratie lebt vom Zuhören

Für das Magazin der Bundesregierung "schwarzrotgold" sprachen Kulturstaatsministerin Monika Grütters und der Leiter des Rechercheverbundes von NDR, WDR und Süddeutscher Zeitung, Georg Mascolo, über Meinungs- und Pressefreiheit. Die ausführliche Version des Gesprächs gibt es hier.

11 Min. Lesedauer

Georg Mascolo (li.) und Staatsministerin Monika Grütters beim Interview im Büro

Georg Mascolo (li.) und Staatsministerin Monika Grütters beim Interview im Büro der Staatsministerin im Bundeskanzleramt, Berlin.

Foto: Lene Münch

In weiten Teilen der Welt kämpfen Menschen für Presse- und Meinungsfreiheit oder leiden darunter, dass es sie nicht gibt. Wissen wir Artikel 5 genug zu schätzen, der freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit garantiert?

Monika Grütters: Presse- und Meinungsfreiheit sind grundlegend für unsere Demokratie. Die Lehren aus der Vergangenheit haben dazu geführt, dass sie mit Artikel 5 des Grundgesetzes einen derart noblen Verfassungsrang haben wie kaum irgendwo sonst auf der Welt. Der Künstler Jean Paul hat es für die Kunst auf den Punkt gebracht: "Eine Demokratie ohne ein paar hundert Widersprechkünstler ist undenkbar." Das gilt für die Pressefreiheit genauso.

Georg Mascolo: Ich bin sicher, dass die Menschen das hart erkämpfte Menschenrecht der Meinungsfreiheit sehr wohl zu schätzen wissen. Sie machen in diesen Zeiten in einem Umfang von ihr Gebrauch, wie es das nie zuvor gegeben hat. Das Internet schafft, vergessen wir das bei allen Klagen über Hass und Häme nicht, glänzende Voraussetzungen für die Meinungsfreiheit. Jeder kann an ihr teilhaben und partizipieren. Und so soll es auch sein. Artikel 5 bedeutet nicht: Journalisten haben das Recht, eine freie Meinung zu äußern. Sondern jeder hat das Recht dazu. Und der Staat darf nicht durch Zensur eingreifen.

Monika Grütters: Jede autoritäre Herrschaft beginnt damit, Intellektuelle, Kreative und Künstler buchstäblich mundtot zu machen. Wir beobachten das inzwischen in vielen Ländern – sogar in Europa. Dieses Recht wird schneller mit Füßen getreten als wir mitdenken können.

Georg Mascolo: Der beste Verbündete, den der Journalismus in diesem Land immer gehabt hat, ist die unabhängige Justiz. Auf sie haben wir uns, auch wenn es einmal Konflikte mit dem Staat gab, noch stets verlassen können.

Monika Grütters: Wir versuchen darüber hinaus, mit markanten Maßnahmen unabhängigen Journalismus und freie Medien zu stärken. So will der Gesetzgeber mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz Rechte, die es in der analogen Welt gibt, auch in der digitalen Welt verteidigen. Und wir haben das Informationsfreiheitsgesetz geschaffen - und so das Recht aller Bürger ausgeweitet, Informationen des Bundes einzusehen.

Trotzdem belegen Umfragen, dass die Menschen sich zunehmend schlechter informiert fühlen. Was ist da schief gelaufen?

Georg Mascolo: Es gibt nicht eine einzige Ursache dafür, dass Menschen eine neue Unübersichtlichkeit beklagen. Die wesentlichste ist ganz sicher, dass wir inmitten einer technologischen Revolution leben, deren Ausgang niemand vorherzusagen vermag. Was tun? Suchen Sie sich aus, welchen Medien Sie vertrauen wollen. Sind diese fair, ausgewogen, faktentreu? Bleiben Sie kritisch und fordernd. Überprüfen Sie, wer Ihnen was vorausgesagt hat. Und beschäftigen Sie sich mit Positionen und Meinungen, die Sie nicht teilen. Heute ist es einfach, unter sich zu bleiben, immer in der eigenen Echokammer. Aber es ist notwendig und gut, sich mit jenen auseinander zu setzen, die man am wenigsten versteht. Die Demokratie ist kein Schützengraben. Sie lebt davon, dass wir uns zuhören. Populisten tun übrigens oft was das Gegenteil von gutem Journalismus ist: Sie spitzen zu, lassen weg, unterschlagen notwendige Fakten und setzen auf Emotionalisierung.

Monika Grütters: Die Rückmeldung "Wir fühlen uns nicht gut informiert" bedeutet auch, dass es nicht allein um die schiere Quantität geht, sondern das Navigieren durch dieses Angebot offensichtlich für viele eine Überforderung darstellt. Deshalb müssen Medienkompetenz und Kritikfähigkeit an den Schulen früh eingeübt werden. Letztlich geht es um Urteilsfähigkeit gegenüber Inhalten, deren Wahrheitsgehalt und Quelle nicht überprüfbar sind. Viele Menschen, gerade Schüler, informieren sich im Netz und hinterfragen nicht, was sie dort angeboten bekommen. Sie glauben, in dieser Fülle die richtige Antwort zu finden, wenn sie nur den richtigen Suchbegriff eingeben. Das ist mitnichten der Fall. Wir müssen wieder lehren und lernen, misstrauisch zu sein.

Was entgegnen Sie jenen, die Lügenpresse skandieren?

Monika Grütters: Lügenpresse ist zunächst einmal schon vom Begriff her kritisch zu sehen, weil er seinen Ursprung im Nationalsozialismus hat. "Lügenpresse" ist auch deswegen so gefährlich, weil er das gesamte Mediensystem und die Unabhängigkeit des Journalismus pauschal in Frage stellt.

Georg Mascolo: Das Wort ist eine Unverschämtheit. Aber jeder in meinem Berufsstand muss sich entscheiden: Man kann sich an seinen radikalsten Kritikern ausrichten und sich leicht an ihnen vergiften. Ich plädiere für den gegenteiligen Weg. Der Journalismus sollte mit Selbstbewusstsein reagieren, weil er aus sich heraus das Gegenmodell zur Filterblase ist. Er hat die Aufgabe, Informationen zu liefern, die es Menschen erlaubt, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Und mit Selbstkritik: Journalismus heißt Menschen zu informieren, nicht zu missionieren. Wir brauchen wieder eine klarere Trennung von Kommentierung und Nachricht, einen ruhigeren Ton, Mäßigung statt Zuspitzung. Und die Bereitschaft, unsere Fehler transparent zu korrigieren, was viel zu lange nicht stattgefunden hat und bis heute noch nicht ausreichend stattfindet. Wer dem Souverän dienen will, muss selbst souverän sein.

Die Aufgabe des Journalismus hat das Bundesverfassungsgericht schon in den Sechziger Jahren im berühmten Spiegel-Urteil beschrieben, die Sätze lesen sich aufreizend frisch. Er hat die Bürgerinnen und Bürger umfassend zu informieren, ihnen zu ermöglichen, dass sie von unterschiedlichen Meinungen und Positionen erfahren und diese gegeneinander abzuwägen. Er soll als "ständiges Verbindungs- und Kontrollorgan zwischen dem Volk und seinen gewählten Vertretern in Parlament und Regierung" fungieren. So muss es sein. "Solange die Menschen genötigt sind, beide Seiten anzuhören, ist immer noch Hoffnung vorhanden," schrieb der britische Philosoph John Stuart Mill schon im 19. Jahrhundert.

Monika Grütters: Der Schutz der Menschenrechte, grundlegende Freiheitsrechte, Medienvielfalt, ein fairer Wettbewerb - das sind Errungenschaften, die sich unsere Gesellschaft in der analogen Welt mühsam erarbeitet hat. Diesen müssen wir auch in der digitalen Welt Anerkennung verschaffen, das ist ein schwieriger Prozess. Deshalb werden Dinge, die wir mittlerweile als selbstverständlich ansehen, plötzlich durch Begriffe wie "Lügenpresse", "Fake News" oder "alternative Wahrheiten" auf den Prüfstand gestellt. Diese Prüfung werden wir bestehen, wenn wir selbstbewusst für unsere Werte streiten.

Es gibt darüber hinaus eine andere Herausforderung: Journalisten wie Künstler müssen von ihrer Leistung leben können. Das verträgt sich leider überhaupt nicht mit der Selbstbedienungsmentalität im Netz. Frei zugängliche Angebote sind nicht unbedingt besser, manchmal lohnt es sich, für Qualität zu bezahlen. Im Netz gilt - anders als in einer Demokratie - das Recht des Stärkeren, auch des finanziell Stärkeren, des größeren Anbieters. In der Demokratie gilt es vor allen Dingen, Minderheiten zu schützen. Diese Diskrepanz müssen wir auflösen. Deshalb lasse ich mich von Gegenkampagnen nicht bange machen und kämpfe weiter für ein Urheberrecht, das Kreative schützt.

Hat sich das Verhältnis zwischen Politik und Journalismus und Medien in den letzten Jahren verändert?

Monika Grütters: Wenn es um die Angriffe populistischer Strömungen und neuer Demokratieverächter geht, haben wir dieselben Gegner. Die Beschimpfung und Bedrohung von Journalisten geht auch mich als Politikerin etwas an, nicht nur, weil ich in der Bundesregierung für Medien mitverantwortlich bin, sondern auch weil das Spannungsverhältnis zwischen Medien und Politik unsere öffentliche Debattenkultur und Meinungsbildung bestimmt.

Georg Mascolo: Das, was der Journalismus verteidigt, ist die Demokratie selbst. Deren Grundlage ist die Meinungsfreiheit. Ich hätte in dem Zusammenhang noch einen Vorschlag für die Regierung: Lange war es so, dass die Vereinigten Staaten die Wahrung der Presse- oder Meinungsfreiheit anmahnten. Diese Position ist - jedenfalls für den Moment und unter dem derzeitigen US-Präsidenten - frei geworden. Es stünde unserem Land gut an, auf eine energischere Art und Weise als bisher für dieses Recht gerade gegenüber jenen Ländern einzutreten, die es nicht gewähren. Oder Journalisten ermorden lassen. Nach dem Mord an meinem Kollegen Jamal Khashoggi in Istanbul hat sich die Bundesregierung weggeduckt. Ich würde mir in dem Bereich weniger Realpolitik wünschen.

Monika Grütters: Der Mord an Jamal Khashoggi war brutal und abstoßend. So etwas muss ganz klar ausgesprochen werden. Allerdings: Wenn es darum geht, Freiheitsrechte anzumahnen, ist es manchmal wirkungsvoller, das diplomatisch und nicht in aller Öffentlichkeit zu tun. In vielen Fällen ist es Deutschland auf diesem Weg gelungen, Inhaftierte wieder frei zu bekommen. Auf vielen Kanälen sprechen wir Missstände an. Gerade auch für die Bundeskanzlerin glaube ich sagen zu können, dass sie aus tiefer Überzeugung für die Meinungs- und Pressefreiheit kämpft - weil sie selber aus einem unfreien System kommt.

Georg Mascolo: In Berlin habe ich oft den Satz gehört, wir sind was wir sind aufgrund unserer Geschichte. Unsere Zurückhaltung bei militärischen Einsätzen wird damit erklärt. Eine andere Lehre muss sein, dass wir für die Verteidigung von Demokratie und Pressefreiheit in aller Welt eintreten. Dass wir sagen: Dies ist das Land, dies ist die Regierung die niemals darüber hin weg schauen kann und will, wenn große Freiheitsrechte missachtet werden. Uns ist die Demokratie geschenkt worden. Sie nicht nur bei uns zu verteidigen, ist eine Pflicht.

Wie erreichen wir diejenigen, die gar nicht mehr bereit sind Demokratie wertzuschätzen?

Monika Grütters: Hinfahren und zuhören. Ich war kürzlich in Chemnitz und habe einen Abend lang mit Bürgerinnen und Bürgern diskutiert. Am nächsten Tag habe ich in Dresden eine neue Veranstaltungsreihe meines Hauses namens "ZUKUNST" gestartet und über "Kunst und Freiheit" diskutiert. Meine Erfahrung ist, dass viele Menschen dankbar für das Angebot sind, sich aussprechen zu können und von "denen da oben" gehört zu werden. Damit wird man nicht jeden erreichen, und dennoch ist dieses Angebot wichtig und ein Schlüssel, um Menschen zu erleben und vielleicht zu verstehen, die skeptisch geworden sind.

Georg Mascolo: Wir Journalisten müssen uns auch die Frage stellen, wer eigentlich einmal in Chemnitz war, wenn dort gerade nichts geschehen ist. Der Schreibtisch ist ein gefährlicher Ort in meinem Beruf. Wir müssen ein Gefühl dafür haben, was die Menschen besorgt und bewegt. Und Journalismus muss den Beweis antreten, dass ein heute immer wieder erhobener Vorwurf falsch ist: Wir paktieren nicht mit denjenigen, die Macht haben. Diese Macht zu kontrollieren ist die Aufgabe meines Berufsstandes.

Monika Grütters: Und der Fall Relotius? Auch dadurch ist Vertrauen verloren gegangen.

Georg Mascolo: Ja. Deshalb müssen wir damit so umgehen, wie wir es von anderen erwarten: offen und konsequent. Bis vor kurzem war Volkswagen der Stolz der deutschen Autoindustrie. Dann flog ein beispielloser Betrug, die Diesel-Affäre, auf. Wir Journalisten stellen die Frage, welche Verhältnisse in dieser Branche eigentlich herrschten, dass so etwas möglich war. Legen wir den gleichen Maßstab an uns selbst an. Leider hat es solche Betrugsfälle bereits in der Vergangenheit gegeben. Aber wahr ist auch: Es sind Einzelfälle. Fehler machen wir alle. Fälschen ist eine eigene Kategorie.

Gleich ob Medien, Wirtschaft oder Politik: Die Menschen haben Vertrauen verloren oder verlangen den Beweis, dass wir ihr Vertrauen verdienen. Darin liegt auch eine Chance. Die Menschen können gut beurteilen, ob ihnen eine umfassende Aufklärung nur versprochen wird. Oder ob sie diese auch bekommen.

Erleben wir im Moment auch insofern eine Umbruchphase, als dass mehr Menschen sich darüber bewusst werden, was auf dem Spiel steht?

Monika Grütters: Ich denke und ich hoffe, die Bürger merken sehr wohl, dass für sie selbst viel auf dem Spiel steht, dass sie die wichtigsten Verteidiger dieser demokratischen Strukturen sind. Für uns alle steht viel auf dem Spiel.

Nicht nur die Politik oder die Medien, sondern jede und jeder Einzelne ist verantwortlich für die Einhaltung der Grundrechte. Diese Verantwortung kann nicht delegiert werden.

Die Anfechtungen unseres Systems von Seiten der neuen Rechten und Linken oder aus dem Ausland machen die Errungenschaften deutlich, die wir uns erarbeitet haben und an die wir uns in den 70 Jahren seit Bestehen des Grundgesetzes gewöhnt haben.

Georg Mascolo: Es geht um viel, Großes droht ins Rutschen zu kommen. Bei aller berechtigten und notwendigen Kritik: Ich kann in den populistischen und radikalen Parteien in Europa keine Alternative erkennen. Ihre Vision liegt nicht in der Zukunft, sondern immer in der Vergangenheit. Populismus bietet keine eigenen Konzepte an. Es reicht, sich an den Konzepten oder den vermeintlichen Unzulänglichkeiten anderer zu reiben. Ich würde mir wünschen, dass diejenigen, die heute mit Skepsis auf dieses Land schauen, mit eben solcher Skepsis auf diejenigen schauen, die ihnen jetzt alternative Angebote machen. Und diese dann ähnlich hart beurteilen.

Wird es auch in Zukunft unabhängigen Journalismus geben? Wird die Politik es schaffen, wieder Vertrauen zurück zu gewinnen?

Monika Grütters: Ja. Vorausgesetzt, es gelingt uns, klar zu machen, dass nicht weniger auf dem Spiel steht als unsere Demokratie selbst. Und dass nicht nur die Freiheit der Presse, sondern die Freiheit des Einzelnen bedroht ist. Wenn wir es schaffen, diesen Zusammenhang zu vermitteln, dann wird es auch künftig freien und unabhängigen Journalismus, eine vitale Demokratie sowie mündige Bürger geben, die diese Rechte für sich und für andere zu verteidigen imstande sind.

Georg Mascolo: Ich war schon an so vielen falschen Prognosen beteiligt, dass ich mich an keinen mehr beteiligen mag. Aber ausnahmsweise: Ja, Journalismus wird es immer geben und muss es geben. Stimmt oder stimmt nicht lässt sich nicht ersetzen durch "gefällt mir". Der Zugang zu verlässlichen Informationen ist ein Grundrecht und die Voraussetzung dafür, die eigenen Entscheidungen zu treffen. Journalismus ist auch etwas wert. Deshalb ist Geiz nicht geil. Guter Journalismus kostet Geld und muss bezahlt werden.

Monika Grütters: Die Menschen suchen nach Halt und Zugehörigkeit. Ob das die Nation, Europa, eine Wertegemeinschaft, eine Kirche oder die Leserinnen und Leser der gleichen Zeitung sind. Wenn wir es schaffen, Bindungen wieder zu kultivieren, dann haben wir und unsere Demokratie eine gute Zukunft.