Bernhard Klasen

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Sehr geehrte Damen und Herren,

Die deutsche Bundesregierung hat eine Dialogfassung der überarbeiteten Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie für das Jahr 2021 veröffentlicht und die Zivilgesellschaft um Kommentierungen bis zum 31. Oktober 2020 gebeten.

Die Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (DNS) ist explizit an der UN-Agenda 2030 und den Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs) ausgerichtet und somit unterstreicht die Bundesregierung die SDGs als Leitfaden deutscher Politik und übernimmt Verantwortung, die Ziele in Deutschland, durch Deutschland und mit Deutschland umzusetzen.
Damit zählt Deutschland weiterhin zu den wenigen OECD-Staaten mit einem so umfassenden Plan zur Umsetzung der SDGs.

Meine Kommentierung bezieht sich auf das SDG Nr. 3.4. „Psychische Gesundheit“. Seit über 20 Jahren bin ich niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut und Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Immer wieder stoße ich auf Grenzen in der psychosozialen Versorgung, die die betroffenen Personen hilflos, ohnmächtig und psychisch schwer belastet zurücklässt und dem Anschein nach aufgibt.

Am Beispiel der Versorgung schwer traumatisierter Menschen möchte ich Sie auf die Folgen dieser Strukturmängel hinweisen und die Strukturmängel aufzeigen, wohl wissend, daß dies keine umfassende Darstellung der Problematik werden kann, jedoch zu einer erhöhten Sensibilisierung führen könnte.

Bei traumatisierten Menschen kann man zwischen einfach und komplex Traumatisierten unterscheiden. Eine einfache Traumatisierung liegt z.B. nach einem Verkehrsunfall oder einem anderen Unglück vor, wenn es in der vorherigen Lebensgeschichte keine Faktoren gab, die die Vulnerabilität erhöhten. Diese Menschen werden in Deutschland zumeist sehr gut versorgt, angefangen von der medizinischen Erstversorgung, evtl. Unterstützung durch Kriseninterventionshelfer und Notfallseelsorger, Trauma-Ambulanzen, Beratungsstellen und Psychotherapeuten. Bei Arbeitsunfällen bieten die Berufsgenossenschaften oft kurzfristig psychotherapeutische Hilfe an. Ganz anders stellt sich die Lage bei komplex Traumatisierten an. Man spricht von einer komplexen Traumatisierung, bei Menschen, die jahrelang einer missbräuchlichen Situation ausgesetzt waren. Dies ist oft der Fall bei sexuellem Mißbrauch durch Familienangehörige, bei den jüngsten Vorfällen in Bergisch Gladbach, Lügde und Münster. Hier wurden Kinder jahrelang schwerstwiegender sexueller Gewalt ausgesetzt.

Bevor ich die Versorgungslücken aufzeige, möchte ich die psychischen und psychosozialen Folgen darstellen: Typisch ist die Symptomtrias Hyperarousal, ausgeprägtes Vermeidungsverhalten und intrusive Erlebnisse. Hyperarousal meint den Zustand eines anhaltenden erhöhten Aktivierungsniveaus, mit vermehrter Anspannung, Unruhe, Schlafstörungen, Reizbarkeit, aggressivem Verhalten, Konzentrationsstörungen, übermäßiger Wachsamkeit, gesteigerter Schreckhaftigkeit und psychosomatischen Symptomen. Es meint eine Unfähigkeit, sich entspannen zu können. Das Vermeidungsverhalten (Vermeidung von allen Reizen, die an die Traumasituation erinnern könnten) führt zu sozialem Rückzug und reduzierter sozialer teilhabe. Intrusive Erlebnisse meinen sich aufdrängende Erinnerungen an die Traumasituation, die nicht verdrängt werden können und alle sensorischen Kanäle besetzen können: Gerüche, Bilder, Töne und Geräusche, taktile Wahrnehmungen, Schmerzen, Bilder und Filmabläufe und weitere Körperwahrnehmungen. Flashbacks, Alpträume, Tagträume, spontane Erinnerungen. Diese Intrusionen werden oftmals nicht als Erinnerungen wahrgenommen, sondern Teil der gegenwärtig erlebten Realität. Zu dieser Symptomtrias kommen oft, besonders bei komplexen Traumatisierungen, dissoziative Symptome wie Derealisations- und Depersonalisationserlebnisse, Gedächtnis- und Konzentrationsstörungen, Orientierungsstörungen. Dies führt zu Selbstmedikation mit Alkohol und anderen Drogen zur Beruhigung, Selbstverletzungen als Ablenkung von den Intrusionen, oftmals Prostitution, nicht selten Suizidversuche als letzte Problemlösestrategie. In der Folge treten oft weitere Störungsbilder wie Depressionen, Angststörungen, psychosomatische Beschwerden, Persönlichkeitsstörungen auf.
Neben diesen psychischen Folgen sind die psychosozialen Folgen erheblich. Gerade komplex Traumatisierte fühlen sich nach jahrelang erlebter sexueller Gewalt beschämt, erniedrigt, entwürdigt, wertlos, schmutzig ohne die Chance, sich reinwaschen zu können, als Menschen zweiter oder dritter Klasse. Der Rückzug, der Konsum von Alkohol, die Chronifizierung weiterer Beschwerden führt über den sozialen Abstieg (oder Verhinderung des sozialen Aufstiegs) zu Ausgrenzung und erheblich reduzierter Teilhabe am sozialen und gesellschaftlichen Leben.

Wie sieht nun die gegenwärtige Versorgung in Deutschland aus:

 (Abbildung aus den Leitlinien, S. 71)

Die Akteure der Versorgung traumatisierter Menschen stellt sich wie folgt dar: Traumainformierte Ärzte führen die somatische Versorgung durch. Die psychosoziale Akutversorgung (1 Termin) erfolgt durch Kriseninterventionsteams und Notfallseelsorger der Hilfeorganisationen und der beiden großen Kirchen. Krisendienste und Traumaambulanzen haben die Möglichkeit zu etwas mehr Terminen. Spezielle Fragestellungen können in Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen oder Telefonangebote bearbeitet werden. Die psychotherapeutische Versorgung erfolgt ambulant, stationär  oder teilstationär (z.B. Tageskliniken). Diverse Organisationen helfen bei Entschädigung, Wiedereingliederung und Berentung. Künftiger Schutz, die Dokumentation des Geschehenen und Rechtsvertretung fordert schließlich weitere rechtsstaatliche Behörden.

Dies mag nun so wirken, als ob eine Rundumversorgung der Opfer gegeben wäre.

Die Lücken des Systems zeigen sich an Fallbeispielen:

  • Ein junger Mann wird mit 18 Jahren schuldlos durch eine Gruppe Rechtsradikaler zusammengeschlagen und schwer verletzt. Er liegt mit schweren inneren Verletzungen und einem offenen Schädelbruch lange im Koma, er wird oft und langwierig operativ behandelt. Nach einigen Jahren kommt er zu mir in die Praxis, er hat recht erfolgreich eine Handwerksausbildung absolviert. Er zeigt noch weiterhin häufigen depressiven Abstürzen, Schlafstörungen, sozialen Rückzug, Flashbacks, Reizbarkeit. Zudem erhebliche Kopfschmerzen, auch infolge einer implantierten Metallplatte. Er erhält Leistungen nach dem Opferentschädigungsgesetz, muss jedoch jährlich vor einem Gutachter nachweisen, dass er noch unter Traumasymptomen leidet. Da er einmal einem Gutachter gegenüber äußerte, es ginge ihm gerade erheblich besser, werden die monatlichen Zahlungen eingestellt, zumal es weiterhin episodenhaft zu schweren psychischen Symptomen kommt. Symptome nach einer geäußerten Besserung könnten nicht im kausalen Zusammenhang mit der ursprünglichen Traumasituation stehen. „Ich habe kürzlich einen Täter mit seinem Mercedes getroffen: Er bekam ein paar Jahre Haft, ich jedoch erhielt lebenslänglich!“ Aus meiner Sicht ist es, bei nachgewiesen schweren Traumatisierungen ausgesprochen entwürdigend, jährlich in der Pflicht zu sein, seinen Anspruch nachzuweisen und verkennt, daß Schwankungen der Befindlichkeit bei traumatisierten Menschen eher die Regel als die Ausnahme sind.
  • Ein junges Mädchen wird jahrelang durch den Vater und Brüder oft zeitgleich vergewaltigt. In der ersten Therapie (80 Stunden) gelingt es, die Frau deutlich zu stabilisieren, die täglich auftretenden Suizidwünsche zu reduzieren und etwas mehr gesellschaftlich zu integrieren. Nach einer Psychotherapie wird stets eine Therapiepause von 2 Jahren verlangt. Die dann beantragte Psychotherapie wird vom eingeschalteten Gutachter als nicht erfolgversprechend, weil nicht heilend, abgelehnt. Psychotherapie diene nicht der Selbstoptimierung. Diese Bewertung durch eine Fachkraft ist nicht nur entwertend, bagatellisierend, fachlich nicht angemessen, sondern auch noch zynisch und demonstriert die Ungleichheit psychischer und organischer Erkrankungen. Ein zweites Problem ist hier die Begrenzung der Therapie auf 80 Stunden. Komplexe Traumatisierungen sind psychotherapeutisch schwer zu behandeln, ähnlich wie schwere Zwangserkrankungen, oder chronifizierte rezidivierende Depressionen. Es gibt noch keine ausreichende medikamentöse Therapie der komplexen Traumatisierung. Es gibt leider viele Lebensgeschichten, die eine jahrelange Therapie erfordern, so zum Beispiel die heftigen Traumatisierungen der kleinen Kinder oder jahrelanger intrafamiliärer sexueller Gewalt. Die Strukturen der ambulanten Psychotherapie werden dem in keinster Weise gerecht, weder, was die Anzahl an traumaspezifischen Fachkräften angeht, noch die Anzahl der Therapiestunden.

Diese beiden Beispiele sollen deutlich machen, dass Menschen mit komplexen Traumatisierungen, sehr wohl von einer Psychotherapie profitieren können, und von weiteren psychosozialen Angeboten. Diese Menschen werden jedoch oft nicht erreicht, weil sie einer strukturellen Gewalt gegenüberstehen, der sie sich nicht gewachsen fühlen, sich nicht gesehen fühlen,

  • wenn ihnen auf der Suche nach Liderung ihres Leidens selbstsüchtige Motive unterstellt werden,
  • wenn Psychotherapie nicht mehr zur Verfügung steht, somatische Medizin jedoch schon
  • wenn Schwankungen der Befindlichkeit zum Schaden der Betroffenen ausgelegt werden
  • wenn es keine ausreichenden Möglichkeiten für aufsuchende Dienste gibt,
  • wenn es einen ständigen, über Jahre andauernden Begründungszwang gibt, daß man an Symptomen leidet
  • wenn ihnen von vielen Behörden Simulation und ein Rentenbegehren unterstellt wird, anstelle die Befindlichkeit neutral zu erfragen.

Dies führt oft zu weiteren auch körperlichen Erkrankungen, zu sozialer Isolierung und insofern einer sehr eingeschränkten Teilhabemöglichkeit.

So will ich einige Schwachstellen in der psychotherapeutischen Versorgung konkretisieren:

  • Flüchtlinge mit einer PTBS haben in Deutschland nur geringen Zugang zur Psychotherapie. Es fehlt an Therapeuten und Fachberatern in Muttersprache. Frauen, die auf ihrer Flucht Opfer von Vergewaltigung wurden, haben große Hemmungen, sich fremden Menschen anzuvertrauen.
  • Folteropfer finden nur wenige spezialisierte Ansprechpartner.
  • Unter Bedingungen einer drohenden Abschiebung kann die Symptomatik nicht gemildert werden.
  • Die psychotherapeutische Versorgung chronisch psychisch kranker Menschen ist nicht auf deren langjährige Betreuung ausgerichtet.
  • Behörden, wie Rentenversicherungsträger, Versorgungsämter, Berufsgenossenschaften, Krankenkassen sind in ihren Hilfeangeboten oft misstrauisch und unterstellen oft unredliche Motive. Die Angebote sind nicht niedrigschwellig. Eingeschaltete Gutachter werden nicht von einer neutralen Stelle bezahlt, sondern vom Rentenversicherungsträger, Krankenkassen etc., so dass eine interessengeleitete Begutachtung nicht ausgeschlossen werden kann.
  • Das Wahlrecht bei psychosomatischen Reha-Einrichtungen wird sehr häufig übergangen, die Patienten werden nicht nach ihren Ortswünschen befragt.
  • Gerade komplex traumatisierte Menschen haben das Vertrauen in gesellschaftliche Strukturen verloren und ziehen sich deshalb zurück und resignieren. Niedrigschwellige aufsuchende psychosoziale Dienste müssen ausgebaut und verstärkt werden.
  • Ein psychotherapeutische Behandlung darf kein Ausschlussgrund für eine Verbeamtung oder für den Abschluss einer Berufsunfähigkeitsversicherung sein.
  • Es liessen sich sicher noch viele weitere Schwachstellen finden, die ich in der Kürze der zur Verfügung stehenden Zeit nicht angemessen sammeln und formulieren kann.

Was ich hier mit dem Beispiel der komplexen Traumatisierung dargestellt habe, lässt sich auf andere komplexe psychische Erkrankungen übertragen. Zugegeben, die Materie ist komplex, das Leid der Betroffenen ist jedoch sehr real. Es besteht klarer Handlungsbedarf.

Ich habe versucht, aus der Praxis die Situation in Deutschland, einem Staat mit gut funktionierendem Gesundheits- und Sozialsystem, einige Systemlücken aufzuzeigen, für die Probleme zu sensibilisieren. Ich möchte anregen, daß, mit dem Wissen um die deutschen Strukturen, vermehrt auf die Befindlichkeit psychische erkrankter Menschen zu achten. Besonders auch auf die Befindlichkeit von Frauen und Mädchen in Kriegsgebieten, in denen gezielte Vergewaltigungen Mittel der Kriegsführung wurden. Ich möchte auch auf zahllose Folteropfer hinweisen, deren Schicksal den oben Beschriebenen in Nichts nachsteht. Vergewaltigten Frauen stehen in Krisengebieten keine institutionellen Hilfsmöglichkeiten zur Verfügung, sie gelten oft als entwürdigt, beschmutzt, nicht mehr heiratsfähig. Sie sind in  ganz besonderer Weise von sozialer Abwertung und Isolation betroffen.

Ich bitte Sie sehr, in der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie, künftig vermehrt auch die Belange chronisch psychisch kranker Menschen in Ihren Fokus bzgl. SDG 3 - Gesundheit mit aufzunehmen.