Afrikas Wohl liegt in deutschem Interesse

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Im Wortlaut: Merkel Afrikas Wohl liegt in deutschem Interesse

Ziel ihrer Flüchtlingspolitik sei es, dass Menschen wieder Chancen in ihrer Heimat sehen, so Merkel im Interview. Die Stabilität in Europa hänge auch davon ab, Afrika Hoffnung zu geben. Die westliche Welt trage historische Verantwortung. Merkel erklärt, dass ihre Grundhaltung in der Flüchtlingspolitik konstant geblieben sei.

  • Interview mit Angela Merkel
  • Die Zeit
Zwei Afrikaner sitzen an einem Beet und pflanzen Setzlinge.

Deutsche Entwicklungshilfe gibt Menschen Perspektiven in ihrer Heimat.

Foto: Thomas Koehler/photothek.net

DIE ZEIT: Frau Bundeskanzlerin, das Land kommt uns extrem gereizt vor, manchmal wirkt die Stimmung regelrecht vergiftet. Wie erleben Sie das?

Angela Merkel: Ich erlebe zweierlei: viele Bürger, die wissen wollen, warum wir unsere Politik machen, und für Argumente offen sind. Wo immer ich auftrete, begegne ich aber auch einer Minderheit von Menschen, die nicht zuhören, sondern, vorsichtig gesprochen, ausschließlich ihre eigene Meinung kundtun' wollen. Das ist eben so. Es hält mich aber nicht davon ab, immer wieder zu versuchen, meine Politik zu erklären.

ZEIT: Aber Sie stellen auch fest, dass die Aggressionen im letzten Jahr dramatisch zugenommen haben?

Merkel: Ja, das ist unstrittig.

ZEIT: Die Aggressionen richten sich auch recht oft gegen Sie persönlich.

Merkel: Ja, klar - ich bin die Bundeskanzlerin, bei der am Ende alles zusammenkommt. Aber ich kenne das auch schon aus meiner Zeit als Umweltministerin in der Auseinandersetzung über die Kernenergie. Das halte ich gut aus.

ZEIT: Was heute geschieht, geht darüber doch weit hinaus!

Merkel: Wir sollten nicht immer glauben, dass heute alles ganz anders als früher sei. Allerdings sind die Auseinandersetzungen jetzt durch die sozialen Medien schärfer und auch umfassender, zumindest digital können sich viele daran beteiligen. Aber das ist eben auch Demokratie heutzutage.

ZEIT: Hat diese neue Gereiztheit nicht damit zu tun, dass tiefe Widersprüche in der Politik wahrgenommen werden, auch in Ihrer? Eine aktuelle Umfrage belegt, dass die Hälfte der Bürger denkt, Sie hätten Ihre Flüchtlingspolitik geändert. Die andere Hälfte denkt das Gegenteil. Haben Sie sie nun geändert oder nicht?

Merkel: Natürlich leben wir in einer anderen Zeit als im Spätsommer vergangenen Jahres, denn es wurden wichtige Maßnahmen in Gang gesetzt, auch von mir. Ich habe beispielsweise sehr früh darauf gesetzt, mit der Türkei zu sprechen, und schon im August 2015 darüber nachgedacht, wie wir das hinbekommen können. Politik ist immer auch Veränderung, in der Grundhaltung aber ist meine Politik konstant geblieben: Erstens gehen wir mit Menschen, die in Not sind, weil Krieg und Terrorismus hinter ihnen liegen, human um und helfen ihnen. Zweitens können wir nicht hinnehmen, dass illegale, also von Schleppern gesteuerte Migration Menschen in Lebensgefahr bringt oder den staatlichen Ordnungsanspruch schmälert. Drittens habe ich immer darauf geachtet, dass Europa auch in der Flüchtlingspolitik an dem Prinzip festhält, dass für unsere Bürger gemäß Schengen freier Personenverkehr herrscht. Neben der Europäischen Währungsunion und dem Binnenmarkt halte ich das für eine Grundfeste des europäischen Miteinanders. Das bringt uns dann automatisch zum Thema der europäischen Außengrenzen, die man sichern muss, und zu den Fluchtursachen, an denen wir arbeiten müssen. Und schließlich bin ich nach wie vor der Überzeugung, dass diejenigen, die Schutz bekommen, schneller integriert werden müssen. Diejenigen, die nicht schutzbedürftig sind, müssen zurückkehren, notfalls im Wege der Abschiebung.

ZEIT: ... das weiß man ja schon sehr, sehr lange ...

Merkel: Ich habe 2005 das Amt der Migrationsbeauftragten ins Kanzleramt geholt, weil damals klar war, dass die Aufgabe der Integration in den vergangenen Jahrzehnten nicht optimal gelöst wurde. Jetzt können wir zeigen, ob wir wirklich etwas gelernt haben. Theoretisch haben wir auch immer gewusst, dass diejenigen ohne dauerhaftes Bleiberecht schneller und konsequenter in ihre Heimat zurückgeführt werden müssen. Nur praktisch umgesetzt wurde das nicht gut.

ZEIT: Sind Sie inzwischen froh, dass die Balkanroute geschlossen wurde?

Merkel: Ich habe kürzlich in Wien wie schon viele Male zuvor gesagt, die Schließung der Balkanroute habe dazu beigetragen, dass in Deutschland weniger Flüchtlinge ankamen. Dass aber nachhaltig weniger Flüchtlinge nach Europa kommen, das hat vor allem das EU-Türkei-Abkommen ermöglicht. Wenn Sie mich also fragen, ob die Schließung der Balkanroute das Problem gelöst hat, sage ich klar Nein. Sie hat in den Wochen, bevor das EU-Türkei-Abkommen in Kraft trat, zwar dazu geführt, dass weniger Flüchtlinge in Deutschland ankamen - aber dafür 45 000 in Griechenland.

ZEIT: Noch mal: Ist die Schließung heute Teil Ihrer Flüchtlingspolitik, oder widerspricht sie ihr?

Merkel: Sie ist nicht von mir initiiert worden, sie hat stattgefunden und ist eine Tatsache.

ZEIT: Aber Sie haben sie kritisiert damals.

Merkel: Ja, das habe ich. Die Frage ist doch: Betrachte ich das Ganze von der deutsch-österreichischen Grenze aus, oder betrachte ich das Ganze aus der europäischen und aus einer über Europa hinausreichenden Perspektive? Diejenigen, die vor allem auf die deutsch-österreichische Grenze schauen, haben gefragt: Warum kann Frau Merkel nicht zur Kenntnis nehmen, dass weniger Flüchtlinge kommen? Ich habe das sehr wohl zur Kenntnis genommen und zugleich kritisiert, dass Griechenland nicht Teil dieses Beschlusses war und dass dort binnen weniger Wochen 45 000 Menschen gestrandet sind. Umgerechnet auf die deutsche Einwohnerzahl wären das 360 000 gewesen, also fast doppelt so viele, wie wir im schwierigsten Monat November hatten. Das zeigt: Nur das EU-Türkei-Abkommen bringt eine nachhaltige Lösung.

ZEIT: Sie haben kürzlich von Fehlern gesprochen, davon, dass Sie gern die Zeit um Jahre zurückdrehen würden. Haben Sie eigentlich auch Fehler nach dem 4. September 2015 gemacht oder nur davor?

Merkel: Natürlich kann man fragen, ob es so viele Wochen dauern musste, bis die Probleme im Griff waren, aber wenn ich zurückschaue, was wir in zwölf Monaten auf die Beine gestellt haben, ist das beachtlich. Bund, Länder, Kommunen und natürlich Hunderttausende von Bürgern haben unglaublich viel gearbeitet und eine Menge erreicht. Wenn ich von Fehlern spreche, dann meine ich damit das ganze System der europäischen Flüchtlings- und' Migrationspolitik, also wie sich Europa zu Flüchtlingen und Migranten über viele Jahre verhalten hatte. Für die Unzulänglichkeiten der sogenannten Dublin-Regelung ist auch Deutschland mitverantwortlich.' Denn wir haben uns vor Jahren dagegen gewehrt, dass der Schutz der Außengrenzen europäisiert wurde. Und wir haben damals auch die Verteilungsquoten nicht gewollt, die wir uns heute für alle Mitgliedsstaaten wünschen.

ZEIT: Was ist denn in Zukunft das strategische Ziel Ihrer Flüchtlingspolitik, nachdem nun die Phase des Improvisierens vorüber sein soll?

Merkel: Das Ziel ist erstens, den kriminellen Schleppernetzwerken die Geschäftsgrundlage zu entziehen. Zweitens, an die Menschen zu denken, die zu uns fliehen, vor allem an die aus Bürgerkriegsgebieten wie Syrien und dem Irak. Da hat Europa eine humanitäre Verantwortung, aber auch ein klares Interesse, weil wir Syriens Nachbarn sind. Eine strategisch hochwichtige Frage kommt dazu: Wie gehen wir in Zukunft mit unserem afrikanischen Nachbarkontinent um? Denn von dort fliehen Menschen nicht nur vor Krieg. Da geht es auch um wirtschaftliche Motive, was daran erkennbar ist, dass nur sehr wenige Menschen aus Afrika als Flüchtlinge anerkannt werden. Wie also kommen wir in eine vernünftige Balance mit dem afrikanischen Kontinent? So, dass Menschen für sich in ihrer Heimat wieder Chancen sehen und nicht glauben, dass ihr einziges Heil darin liegt, nach Europa zu fliehen.

ZEIT: Ist das Ziel Ihrer Flüchtlingspolitik, möglichst wenig Flüchtlinge in Deutschland zu haben?

Merkel: Mein Ziel ist es, nicht tatenlos zuzusehen, wenn Menschen unter unwürdigsten Bedingungen oder gar wie im Irak und in Syrien in höchster Lebensgefahr leben müssen. Das führt dann im Ergebnis auch dazu, dass die illegale Migration eingedämmt wird und viel weniger Flüchtlinge zu uns kommen. Wir sind weder dann am allerbesten, wenn möglichst viele kommen, noch dann, wenn wir unsere Aufgabe ausschließlich darauf reduzieren, niemanden mehr aufzunehmen. Es geht vielmehr darum, einen angemessenen Ausgleich zu finden. Es ist definitiv nicht für jeden das Beste, nach Europa zu kommen. Es kann aber für manche gut sein, wenn auch Europa seine Verantwortung übernimmt.

ZEIT: Früher hat ein Ring stabiler Diktaturen in Nordafrika und in der Levante den Europäern die Flüchtlinge gewissermaßen vom Hals gehalten.

Merkel: Richtig.

ZEIT: Wie unterscheidet sich eigentlich der alte Ring der Diktaturen von dem, was Sie jetzt vorhaben: ein Ring von Verträgen mit Ländern nach dem Vorbild des Türkei-Abkommens, die uns die Flüchtlinge vom Hals halten?

Merkel: Es unterscheidet sich dadurch, dass Deutschland sich im positiven Sinne einmischt, was mit den Flüchtlingen dort passiert. Unsere Vereinbarungen sind nicht darauf ausgerichtet, einfach nur einem Regierungschef zu sagen: Halt uns die mal weg. Vielmehr ist unabdingbar für eine solche ' Vereinbarung, dass die Flüchtlinge im Partnerstaat ein leidlich menschenwürdiges Leben haben.

ZEIT: Warum sollen die Deutschen sich plötzlich so viel mehr für Araber und Afrikaner interessieren?

Merkel: Weil das Problem heute auch vor unserer Tür steht. Deutschland musste sich dieser Frage früher nie so stellen, Italien dagegen schon, ebenso Spanien. Wir waren die meiste Zeit schlicht zufrieden, dass keine Flüchtlinge kamen. Als aber in den neunziger Jahren sehr viele Flüchtlinge aus dem westlichen Balkan nach Deutschland kamen, haben wir sie auch vernünftig behandelt, viele später aber auch zurückgeschickt, als der Balkan stabilisiert werden konnte.

ZEIT: Wie kann man Länder in Afrika und Arabien stabilisieren, ohne damit zugleich die Diktaturen, die dort meistens herrschen, zu stabilisieren?

Merkel: Es sind keineswegs alles Diktaturen. Länder wie Ghana und Nigeria waren lange Jahre geradezu Vorbilder für eine positive Entwicklung. Übrigens sind die Migranten aus Afrika nicht notwendigerweise die Ärmsten ihrer Länder. Aus Niger etwa, einem Transitland für Flüchtlinge, kommen fast keine Menschen zu uns, weil der Kampf um das tägliche Leben dort so hart ist, dass nur wenige sich eine Flucht oder auch nur den Gedanken daran leisten können. Klar ist aber auch, dass wir es nicht überall schaffen werden, unsere Vorstellungen von Demokratie gleich zu hundert Prozent durchzusetzen, das wird ein länger andauernder Prozess sein.

ZEIT: Man könnte auch sagen, die Regierungen dort sollen sich gefälligst selbst Gedanken darüber machen, warum so viele Leute fliehen. Die haben auch eine Verantwortung dafür, das zu verhindern. Was geht es uns an?

Merkel: Es geht uns an, die Menschen kommen ja nach Europa. Ich glaube nicht daran, dass wir dieses Problem durch maximales Ignorieren, durch Distanz und Abschottung wieder verschwinden lassen können. Ich bin Realistin, und das ist eine Realität. Es stellt sich also die Frage: Was sind unsere Interessen, welche Werte leiten uns, und was bedeutet das für unseren Umgang mit afrikanischen Ländern? Wenn man Ihrer Logik folgte, könnte man auch fragen, warum wir überhaupt Entwicklungshilfe leisten, und sagen, die Armut ist doch deren Sache. Wir engagieren uns aber in der Entwicklungszusammenarbeit, weil wir denken, dass es in unserer Verantwortung und in unserem Interesse liegt, dazu beizutragen, dass Menschen auch in anderen Teilen der Welt menschenwürdig leben. In der Zeit der deutschen Teilung hat die Bundesregierung sich auch immer wieder für Visa und Reisepässe und Weihnachtsregelungen eingesetzt, ohne zu wissen, ob die Diktatur in der DDR zu unseren Lebzeiten in sich zusammenbricht. Ich weiß, dass dieser Vergleich natürlich hinkt ...

ZEIT: ... weil die Ostdeutschen sehr viel eindeutiger zu uns gehörten ...

Merkel: Ganz genau, , wir sind eine Nation, und die Teilung war viel fassbarer, weil sie mitten durch unsere Familien ging. Die Lehre aus der Globalisierung ist aber doch, dass wir in gewisser Weise alle miteinander verbunden sind. Mit der Globalisierung werden die Menschen immer mobiler, sogar über die Kontinente hinweg. Also müssen wir uns kümmern.

ZEIT: Würden Sie sagen, Globalisierung heißt, dass uns ein Senegalese so nah ist wie ein Ossi?

Merkel: Nein. Sie sprechen im Übrigen mit einer Ostdeutschen, aber davon abgesehen: Wir werden natürlich nicht zu jedem Menschen auf der Welt eine so intensive Beziehung aufbauen, wie sie etwa in einer zwischen Ost- und Westdeutschland geteilten Familie bestand. Aber ich bin überzeugt, dass unsere Sicherheit, unser Leben in Frieden und unsere nachhaltige Entwicklung mit der Lebenssituation von Menschen, die weit weg von uns wohnen, zusammenhängen. Wir alle spüren das. Deshalb schließen wir internationale Klimaabkommen, deshalb gibt es weltweite Entwicklungsziele wie die Agenda' 2030. Ich nenne Ihnen ein Beispiel. In der Tschadsee-Region gibt es gewaltige Wasserprobleme und auch infolgedessen politische Instabilität. Das bedeutet nicht, dass jeder, der dort in Bedrängnis gerät, als Flüchtling nach Europa kommen kann. Aber es muss uns doch interessieren, ob dort elf Millionen Menschen noch eine Lebensgrundlage haben oder nicht. Wenn der Tschadsee immer weiter schrumpft, hilft das am Ende nur Boko Haram und anderen Terroristen in der Region. Und so kommt das Thema dann wieder bei uns an. Mir geht es um vorbeugende und vorausschauende Politik.

ZEIT: Sie sagen, die ganz Armen kommen gar nicht, weil ihnen dazu die Mittel fehlen, sondern eher die, die schon etwas haben. Wieso sollten dann auf Dauer weniger kommen, wenn es mehr Menschen dort besser geht?

Merkel: Das führt direkt zu der Aufgabe, das Schlepperwesen effektiv zu bekämpfen. Wir können uns doch nicht davon abhängig machen, wie viele Menschen Schlepper bezahlen können, und uns völlig in die Hand mafiöser Strukturen begeben. Deshalb müssen wir versuchen, zumindest eine Entwicklungsperspektive, eine Entwicklungshoffnung vor Ort zu schaffen. Wir wissen, dass die allermeisten Menschen in der Nähe ihrer Familie bleiben wollen, in ihren gewohnten Strukturen, dort, wo man die eigene Sprache spricht. Ich sehe es als unsere Aufgabe, Menschen ein Leben in ihrer Heimat zu ermöglichen. Genauso ist es natürlich unsere Aufgabe, den Kampf anderer Staaten gegen das Schleppertum zu unterstützen.

ZEIT: Dafür sorgen zu wollen, dass es den Menschen in Afrika so gut geht, dass sie nicht hierher wollen, scheint uns eine gewaltige Aufgabe zu sein.

Merkel: Das ist wahr, doch es hat sich einfach etwas Grundlegendes geändert. Vor zwanzig Jahren waren die Menschen dort in der Regel noch ärmer. Aber sie konnten nicht so gut sehen, wie wir leben, sie konnten nicht vergleichen. Und sie konnten nicht so leicht weg. Die Digitalisierung macht einen großen Unterschied. Heute kann sich nahezu jeder überall über jeden Ort der Welt informieren. Wenn man sieht, wie es anderswo zugeht, wachsen auch die Wünsche. Dann kommen Familien auf die Idee, wenigstens einen Angehörigen dorthin zu schicken, wo man ein gewisses Einkommen erreichen kann, das dann vielleicht der ganzen Familie ein besseres Auskommen gibt. So wie die Menschen in der Welt über uns immer besser Bescheid wissen, so müssen wir uns umgekehrt mehr mit ihnen beschäftigen. Wir müssen viel mehr über Afrika und die arabische Welt lernen. Stabilität in unseren Ländern hängt auch davon ab, dass wir dort Hoffnung geben. Andererseits müssen wir auch darüber aufklären, dass der scheinbar so schnelle und einfache Weg in ein besseres Leben mitnichten zwangsläufig zu ebendiesem besseren Leben führt. Wir müssen Menschen helfen, wenn sie vor Krieg und Verfolgung fliehen, und noch mehr müssen wir ihnen dabei helfen, in oder nahe ihrer Heimat bleiben zu können.

ZEIT: Würden Sie sagen, dass der Westen auch deshalb helfen muss, weil er Mitschuld trägt an der Lage Afrikas?

Merkel: Schuldfragen sind ein unendliches, aber wenig produktives Thema. Das leitet mich nicht. Wir könnten jetzt ewig darüber sprechen - von der Sklaverei, die Amerikaner und andere zu verantworten haben, bis zu den Fehlern des europäischen Kolonialismus. Eines ist vollkommen klar: Die ganze westliche Welt hat Afrika in früheren Epochen Entwicklungschancen geraubt, und zwar über Jahrhunderte. Wenn Sie sich Grenzziehungen in Afrika anschauen, müssen Sie zugeben, dass das in vielen Fällen zumindest eine schwere Last für die heutige Entwicklung ist. Grenzen wurden nach den Interessen der Europäer oder aufgrund von Rohstoffvorkommen gezogen und nicht nach dem Kriterium, ob Völker und Stämme zusammenleben und ob sich daraus homogene Staaten entwickeln können. Natürlich erwächst daraus eine Verantwortung für uns. Das entbindet jedoch keinen afrikanischen Politiker von der Pflicht, gute, saubere und transparente Politik für seine Bevölkerung zu machen. Die afrikanischen Zivilgesellschaften werden immer selbstbewusster und fordern das zunehmend ein.

ZEIT: Nun sind Sie in erster Linie dem deutschen Volk verpflichtet und nicht den afrikanischen Völkern ...

Merkel: Exakt. Mein Amtseid bezieht sich auf das Wohl Deutschlands, und das heißt dann auch, dass das Wohl Deutschlands allein mit der Konzentration auf Deutschland selbst dauerhaft nicht zu erreichen wäre. Das ist ja auch klar. Wenn ich als deutsche Bundeskanzlerin dafür sorgen will, dass es uns Deutschen gut geht, dass die Europäische Union zusammenhält, muss ich mich auch darum kümmern, dass es in Europas Nachbarschaft so zugeht, dass Menschen dort Heimat auch als Heimat empfinden können. Konkret heißt das in unserer Zeit, dass wir uns in neuer Weise mit Afrika befassen müssen. So ist das im 21. Jahrhundert.

ZEIT: Kurzum: mehr in Afrika investieren, mehr darüber wissen, die Nachbarschaft annehmen, die Schuld anerkennen. Wenn Willy Brandt all das gesagt hätte, was Sie sagen, wäre die halbe Republik zu Tränen gerührt gewesen. Bei ihm ging es um Mitgefühl. Geht es bei Ihnen auch um Mitleid?

Merkel: Ich handele nicht aus Mitleid, sondern aus meinen eigenen, aus unseren gemeinsamen Werten und Interessen heraus - auch den Werten und Interessen Europas übrigens. Wenn wir unser Menschenbild ernst nehmen, kann der Anspruch, dass die Würde des Menschen unantastbar sein soll, nicht an den deutschen Staatsgrenzen enden - und auch nicht an den europäischen Außengrenzen. Nun können wir natürlich nicht die ganze Welt von einem Tag auf den anderen zum Besseren wenden. Aber wenn wir deutsche Interessen verfolgen wollen, müssen wir realistischerweise sagen, dass auch das Wohl Afrikas im deutschen Interesse liegt.

Die Fragen stellten Tina Hildebrandt und Bernd Ulrich von

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