Rede von Bundespräsident Johannes Rau

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Majestäten,
meine Herren Präsidenten,
Königliche Hoheiten,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren,

mit großer Freude bin ich der Einladung gefolgt, heute an der Eröffnung der nordischen Botschaften in der alten und neuen Hauptstadt Berlin teilzunehmen. Es handelt sich um eine nordisch-deutsche Premiere von historischem Rang, mit trotzdem fast familiärem Charakter: Die Staatsoberhäupter Dänemarks, Finnlands, Islands, Norwegens und Schwedens und der deutsche Bundespräsident treffen sich zur Einweihungsfeier in Berlin – besser kann das entspannte und enge Verhältnis unserer Länder miteinander in einem gewandelten Europa gar nicht zum Ausdruck kommen.

Die Einweihung dieses vorzüglich gelungenen, gemeinsamen Botschaftsprojektes stellt nicht nur für die fünf beteiligten Länder, sondern auch für Berlin ein herausragendes Ereignis dar. In Berlin sind der Stand der Wiedervereinigung und die Folgen des Wegfalls der bipolaren Welt am deutlichsten spürbar. Hier wachsen Ost und West auch kulturell zusammen. Berlin kann erneut, wie vor hundert Jahren, zum Laboratorium der Moderne werden. Neue Ideen können hier aufeinander treffen und erprobt werden. Ihre Botschaften verdeutlichen das in doppelter Hinsicht: durch die moderne Architektur und durch das Konzept einer gemeinsamen Botschaftsanlage für fünf souveräne Staaten, die gleichzeitig Mitglieder einer regionalen Organisation sind.

Die nordischen Staaten sind die einzige Ländergruppe, die sich entschlossen hat, im Rahmen des Umzugs ihrer Botschaften von Bonn nach Berlin ein gemeinsames Projekt zu verwirklichen. Im zusammenwachsenden Europa des 21. Jahrhunderts gehen sie damit als Vorbild voran. Schon beim Betreten dieser Anlage spürt man nordische Qualität: eine Architektur, die Modernität mit Einbettung in die Natur verbindet, Funktionalität mit Ästhetik und organisatorische Perfektion mit menschlicher Dimension. Ihr gemeinsamer Botschaftskomplex schafft die organisatorischen Voraussetzungen für eine noch engere Zusammenarbeit und verstärkt das gemeinsame Auftreten nach außen. Dennoch bewahrt jedes Land seinen eigenen engeren Bereich und damit seine Individualität und seine Besonderheiten. So entsprechen die Nordischen Botschaften auch dem Bild, dass wir am häufigsten mit den Skandinaviern verbinden : Überzeugte Individualisten mit starkem Zusammengehörigkeitsgefühl. Tatsächlich hat die nordische Zusammenarbeit eine besondere Qualität. Sie ist, mehr als viele andere Formen regionaler Kooperation, in den Herzen der Menschen verwurzelt.

Ein gemeinsames kulturelles Erbe und übereinstimmende gesellschaftspolitische Grundüberzeugungen haben ein Zusammengehörigkeitsgefühl entstehen lassen, das bei aller ausgeprägter Individualität Bestand hat.

Im Verhältnis zu unseren nördlichen Nachbarn bedeutet der Umzug der Bundesregierung von Bonn nach Berlin, dass wir einander geographisch näherrücken – das geht zeitlich einher mit einer weiteren kulturellen, wirtschaftlichen und politischen Annäherung, ohne allerdings dafür ursächlich zu sein. Diese gegenseitige Annäherung hat vor allem im Bereich der Kultur eine lange Tradition und ist eng mit der Stadt Berlin verbunden. Berlin als große Metropole im Zentrum Europas bildete schon immer einen besonderen Anziehungspunkt für Künstler, Geschäftsleute und andere Besucher aus den nordischen Ländern. Ihre Einflüsse fasste der deutsche Schriftsteller Hermann Sudermann 1892 mit den Worten zusammen: "Vom Norden her kommt uns das Licht." Die gegenseitige kulturelle Beeinflussung ist allerdings keine Sache der Vergangenheit. Sie ist zur Zeit dynamischer denn je. Die engen kulturellen Verbindungen zwischen unseren Ländern werden durch die große, in mehreren Hauptstädten gezeigte Ausstellung "Wahlverwandtschaften" eindrucksvoll belegt. Wie für deutsche Kinder die Märchen von Andersen und die wundervollen Geschichten von Astrid Lindgren zur Standardlektüre gehören, gilt Entsprechendes für die Lesewünsche der Älteren: keine Bestsellerliste der vergangenen Jahre, auf der nicht Namen wie Peter Hoeg, Jostein Gaarder, Henning Mankell, Erik Fosnes-Hansen oder Marianne Fredrikson die Beliebtheit skandinavischer Autoren und die Qualität ihrer Werke verdeutlichten. Bedeutende Filmproduktionen aus den letzten Jahren haben uns die Menschen und Landschaften der nordischen Länder und auch Grönlands und der Färöerinseln näher gebracht und in ihren Bann gezogen – vorneweg die deutschen Verfilmungen der Romane des isländischen Literatur-Nobelpreisträgers Halldor Laxness. Ingmar Bergmann erfuhr in den 60er und 70er Jahren Weltruhm; heute locken junge dänische und finnische Regisseure deutsches Publikum in Scharen an die Kinokassen. Auch im modernen Wirtschafts- und Sozialleben gibt es ein enges Zusammenwirken. Deutschland ist als Markt in unmittelbarer Nachbarschaft der nordischen Länder für diese von besonderer Bedeutung. Konsumenten in Deutschland schätzen die Produkte, seien es Fahrzeuge, Elektronik, Möbel und vieles andere nicht zuletzt wegen des typisch skandinavischen Flairs.

Das politische Näherrücken zwischen unseren Ländern und Völkern findet seinen sichtbarsten Ausdruck – neben den exzellenten bilateralen Beziehungen – in der multilateralen Zusammenarbeit: auf regionaler Ebene in der Ostseeregion, auf europäischer Ebene in unserer Mitverantwortung für Europas Zukunft in Frieden, Freiheit und Demokratie und auf globaler Ebene in unserer Zusammenarbeit in vielen Initiativen der Vereinten Nationen. Den Diplomaten, die in diesen neuen Gebäuden zukünftig ihren Dienst verrichten, und an deren Familien gewandt möchte ich zum Abschluss sagen: Ich weiß, dass sich die meisten von Ihnen in Bonn sehr wohl gefühlt haben. Ich kann das als ehemaliger Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen sogar sehr gut nachempfinden. Ich bin jedoch sicher, dass Sie sich bald über den verlorenen Blick auf den Rhein und das Siebengebirge hinwegtrösten werden. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich auch in Berlin, dieser aktiven Metropole von pulsierendem Leben, und im weiteren Umfeld dieser Stadt gut eingewöhnen und wohl fühlen werden.

Ihnen, Majestäten, meine Herren Präsidenten, danke ich für die Einladung zu diesem nordischen Ereignis und für Ihre persönliche Präsenz hier in Berlin. Ich hoffe, dass Sie und die Bürger Ihrer Länder diesen schönen und einzigartigen Botschaftskomplex als hilfreichen Hafen zum Wohle der nordisch-deutschen Zusammenarbeit ausgiebig nutzen.