Rede von Bundeskanzlerin Merkel bei der Verleihung des Henry A. Kissinger Preises am 21. Januar 2020 in Berlin

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Lieber Henry Kissinger,
lieber John Kerry,
lieber Gerhard Casper,
meine Damen und Herren,

es ist natürlich eine große Ehre, aus den Händen der American Academy diesen Preis zu bekommen, der ja erst einmal Ausdruck der außenpolitischen Kraft seines Namensgebers, Henry Kissinger, ist. Wenn man sich einmal überlegt, seit wie vielen Jahrzehnten er Außenpolitik entweder aktiv oder durch unglaublich prägnante Einschätzungen prägt, dann wird deutlich, dass es eine wirklich große Ehre für mich und ein sehr bewegendes Ereignis ist, diesen Preis in seiner Anwesenheit zu bekommen.

Es ist eine Tatsache, dass das, was man in den Vereinigten Staaten von Amerika „bipartisan“ nennt – dass Gespräche unter Menschen möglich sind, die früher vielleicht gegeneinander demonstriert, dann aber erkannt haben, dass es sehr viel Gemeinsames gibt –, auch etwas ist, das die American Academy auszeichnet. Vielleicht ist ja eines der Dinge, die wir heute am allermeisten brauchen, der Erhalt der Gesprächsfähigkeit.

Jemand hat heute aus Davos geschrieben, dass dort die einen sind, die an den Klimawandel glauben, und die anderen, die nicht daran glauben. Aber das Allerschlimmste ist, dass alle über ihre jeweiligen Meinungen reden, aber überhaupt nicht mehr miteinander reden. Früher hatten wir eine Welt des Kalten Krieges, in der wenig, aber immerhin noch miteinander geredet wurde. Heute mache ich mir manchmal Sorgen darüber, dass bei sehr viel mehr Freiheit auf der Welt die Fähigkeit, miteinander ins Gespräch zu kommen, nicht gewachsen ist. Deshalb bin ich eben so dankbar dafür, dass John Kerry hier die Laudatio gehalten hat. Wir haben gemeinsame politische Abschnitte miteinander durchschritten und in einem guten Miteinander auch manches geschafft. Bei manchem gibt es wieder Rückfälle; das ist das Leben. Ich habe schon in der DDR von Lenin gelernt: Zwei Schritte vorwärts, einen zurück – wenn es gut läuft; es kann auch mal umgekehrt sein. Aber wir alle betten uns in den Lauf der Geschichte ein.

Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich Henry Kissinger das erste Mal begegnet bin. Aber Folgendes, finde ich, ist so typisch für ihn: Er war – und ist es bis heute – einfach immer neugierig.

Wir sind in Deutschland in einem ganz spannenden Jahr. Wir bewegen uns nämlich zwischen dem 30. Jahrestag des Mauerfalls am 9. November des vorigen Jahres und dem 30. Jahrestag der Wiederherstellung der Deutschen Einheit am 3. Oktober dieses Jahres. Und plötzlich kommen ganz viele Dinge wieder hoch – bei Menschen, die diese Einigungsphase durchlebt haben, insbesondere in den neuen Bundesländern, in der ehemaligen DDR. Und wir fangen wieder an zu fragen: Haben wir genug miteinander gesprochen, haben wir uns genug ausgetauscht, verstehen wir genug von dem jeweiligen Leben? Und ich sage: Ich hätte es gut gefunden, wenn sich mehr so verhalten hätten wie Henry Kissinger zu Beginn meiner politischen Arbeit als Frauen- und Jugendministerin in der ersten gemeinsamen Regierung unter Helmut Kohl im wiedervereinigten Deutschland, wenn sich also mehr dafür interessiert hätten, wie ich mich denn so fühle in dieser gesamtdeutschen Regierung – sie war ziemlich westdeutsch geprägt; das darf man sagen. Und es gibt Leute in Deutschland, die sagen, ich hätte die Transformation immer noch nicht geschafft. Aber die allermeisten meinen, glaube ich, dass ich auch als Ostdeutsche eine gute Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland sein darf, auch wenn man politisch unterschiedlicher Meinung ist.

Nun haben sich die Dinge in den letzten 30 Jahren sehr gewandelt. Damals gab es ja ein gemeinsames transatlantisches Verständnis, dass die Deutsche Einheit nur deshalb stattfinden konnte – und ich bin zutiefst überzeugt davon, dass Freiheit und Demokratie in ganz Europa nur deshalb siegen konnten –, weil es viele standhafte Menschen gab, die gesagt hatten: Wir werden nicht um des lieben Friedens willen irgendein Appeasement machen, sondern werden für Freiheit, Demokratie und Frieden eintreten. Dazu zählten Konrad Adenauer als erster Bundeskanzler, Helmut Kohl, der noch kurz vor dem Fall der Mauer Erich Honecker empfangen hat, und vor allem auch die Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, insbesondere George Bush senior. – Ich habe mich natürlich auch über das Grußwort von George Bush junior heute gefreut. – Wir waren nicht immer einer Meinung. Als es zum Beispiel um Fragen zur NATO, Ukraine und zu Georgien ging, hatten wir harte Kämpfe. Nichtsdestotrotz haben wir auch da sehr eng zusammengearbeitet.

Damals schien es, als sei die Welt auf dem Pfad zu mehr Freiheit, zu mehr Demokratie, zu mehr Menschenrechten. Davon waren wir alle erfüllt; und das hat auch die transatlantische Partnerschaft in den ersten Jahren nach dem Kalten Krieg sehr belebt. Dann aber kamen große Herausforderungen, weil sich die Welt als Ganzes doch nicht so verhalten hat, wie man es sich vielleicht erhofft hatte und wie es manche in Büchern schon als Ende der Geschichte voreilig beschrieben hatten.

Mit Blick auf den westlichen Balkan musste sich Deutschland entscheiden, in mehr Verantwortung zu gehen. Das haben wir damals in der Opposition gefordert, dem war dann auch die rot-grüne Regierung unter Bundeskanzler Schröder gefolgt. Später kam es zum Irak-Konflikt, der Europa und die NATO gespalten hat. Und wenn man ehrlich ist, dann stellt man fest, dass Deutschland seitdem sehr viel mehr Verantwortung übernommen hat.

Wir haben gemeinsam in der transatlantischen Partnerschaft auch festgestellt, dass bei weitem nicht alle auf der Welt unsere Werte teilen, sondern es sehr, sehr viele gibt, die ganz andere Vorstellungen haben. Dass das die Gefahr in sich birgt, dass sich jeder wieder zurückzieht und sagt „Jetzt muss ich mich erst mal um mich selber kümmern, weil sich die Welt nicht so gut und so leicht verbessern lässt, wie wir uns das gedacht haben“, darf uns jetzt nicht verschrecken. Aber ich glaube schon, dass wir 75 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufpassen müssen, dass wir vieles von dem, das mühselig aufgebaut wurde, aber sich vielleicht nicht so schnell zum Ideal entwickelt hat, wie wir dachten – nämlich all die multilateralen Institutionen –, nicht zerschlagen, sondern hüten und pflegen, weil uns bis jetzt noch nichts Besseres eingefallen ist.

Natürlich ist es für Menschen, die aus der Zeit des Kalten Krieges kommen, auch eine unglaubliche Herausforderung, dass plötzlich eine politische Ordnung, die dem kommunistischen System sehr viel näher steht als einem demokratischen System – und ich meine, Henry Kissinger war der Erste, der ein großes Buch über China geschrieben hat –, dass ein solches Land plötzlich ökonomisch so erfolgreich ist. Im Kalten Krieg war klar: Wer diktatorisch oder kommunistisch, sozialistisch – wie auch immer man es nennen will – regiert wird, wird über kurz oder lang ökonomisch nicht erfolgreich sein.

Mit China haben wir im Augenblick eine andere Herausforderung. China baut auf einer langen Tradition auf und sagt: Wir waren in den letzten 2.000 Jahren 200 Jahre weg und nicht führend; jetzt kommen wir wieder dahin zurück, was wir früher immer waren. Und das verschreckt jetzt sehr viele. Und natürlich müssen wir auf Fairness aufbauen. Natürlich müssen wir Multilateralismus so gestalten, dass die Regeln für alle gelten; klar. Aber ich plädiere dafür, dass wir nicht in eine neue Bipolarität verfallen, sondern versuchen, mit dem, was wir an Ergebnissen, an Erfahrungen im Multilateralismus haben, auch ein Land wie China einzubeziehen und zumindest gleichwertig zu behandeln.

Henry Kissinger hat etwas gesagt, das mich auch sehr umtreibt. Wenn es die transatlantische Partnerschaft nicht gäbe, wenn es die gemeinsamen Werte, die wir heute in der Europäischen Union und den Vereinigten Staaten von Amerika teilen – auch wenn das manchmal auf den ersten Blick vielleicht kribbliger aussieht, als es ist –, nicht gäbe, würde sich die Frage stellen: Werden wir dann ein Teil Eurasiens? Nachdem der Papst einmal gesagt hat, Europa sei sozusagen die Halbinsel vor Asien, habe ich mir die Landkarte neu angeguckt. Wir müssen uns als Europäer genau überlegen, wie wir uns in einer multilateralen Welt positionieren wollen. Unser Interesse an guten transatlantischen Beziehungen ist meiner Meinung nach größer als vielleicht im Augenblick das Interesse der Vereinigten Staaten von Amerika, da sie neben der atlantischen auch eine pazifische Küste haben und damit die große Herausforderung, China sozusagen vor der Haustür zu haben. Das bedeutet natürlich, dass wir definieren müssen, wie wir und dass wir die transatlantischen Beziehungen pflegen wollen. Ich darf für mich sagen, dass ich das möchte; und ich sage das auch für die ganze Bundesregierung.

Eine letzte Bemerkung: Wenn wir uns in dieser multilateralen Welt verstehen wollen, dann müssen wir uns auch unsere jeweiligen territorialen, geografischen Herausforderungen anschauen. Ich sage manchmal scherzhaft: Die Vereinigten Staaten von Amerika haben es im Grunde leicht; sie haben im Norden eine Grenze zu Kanada – zu einem demokratischen Land –, sie haben links und rechts zwei riesige Ozeane und nur eine Südgrenze, an der zum Beispiel auch das Flüchtlingsproblem eine Riesenrolle spielt. Es ist auch interessant, uns darüber zu unterhalten: Wie können wir das am besten in den Griff bekommen? Dass ich kein Freund von Mauern bin, versteht sich auch vor dem Hintergrund meiner Biografie von selbst.

Ich glaube, wir müssen immer auch eine Balance des Zusammenlebens und eine Entwicklungschance auch für unsere Nachbarn finden. Wenn Sie sich vor Augen führen, was wir Europäer vor der Haustür haben, dann sieht die Sache ziemlich herausfordernd aus. Da haben wir Russland, dahinter kommt gleich China; China und Russland rücken zusammen. Wir haben als Außengrenze der Europäischen Union eine Mittelmeergrenze zu Afrika. Und wenn ich auch die NATO-Grenze erwähne: Die Türkei grenzt an den Irak sowie an Syrien. Wir grenzen also an Regionen mit dramatischen Konflikten. Das beunruhigt uns natürlich. Wir müssen uns überlegen, wie wir mit diesen Herausforderungen klarkommen. Und dabei, wie ich nach wie vor glaube, kann ein gutes transatlantisches Verhältnis nur in unserem ureigenen Interesse sein. Deshalb werde ich mich, wo auch immer, noch eine Weile als Bundeskanzlerin auch weiter für gute, intensive, wertegebundene transatlantische Beziehungen einsetzen. Und diese Auszeichnung heute ermutigt mich in dieser Arbeit. Herzlichen Dank.