Sehr geehrte Frau Rektorin Professor Králíčková,
verehrte Damen und Herren Prorektoren und Mitglieder der Fakultäten,
sehr geehrter Herr Minister Bek,
Exzellenzen,
liebe Studentinnen und Studenten,
meine Damen und Herren!
Herzlichen Dank für die freundliche Einladung! Es ist mir eine große Ehre, an diesem historischen Ort ‑ quasi unter den Augen des Gründers dieser altehrwürdigen Institution ‑ zu Ihnen über die Zukunft sprechen zu können, über unsere Zukunft, die sich für mich mit einem Wort verbindet: Europa.
Es gibt wohl keinen geeigneteren Ort dafür als die Stadt Prag, als diese Universität mit ihrem fast 700-jährigen Erbe. „Ad fontes“, zu den Quellen, so lautete der Ruf der großen Humanisten der europäischen Renaissance. Wer sich zu den Quellen Europas aufmacht, dessen Weg führt unweigerlich hierher, in diese Stadt, deren Erbe und Gestalt so europäisch sind wie die kaum einer anderen Stadt unseres Kontinents. Jedem amerikanischen oder chinesischen Touristen, der über die Karlsbrücke hinauf zum Hradschin läuft, ist das sofort klar. Deshalb sind sie ja hier, weil sie in dieser Stadt, zwischen ihren mittelalterlichen Burgen und Brücken, katholischen, protestantischen und jüdischen Gebetshäusern und Friedhöfen, gotischen Kathedralen und Art-Nouveau-Palais, Glashochhäusern und Fachwerkgässchen und im Sprachgewirr der Altstadt das finden, was Europa für sie so ausmacht: allergrößte Vielfalt auf engstem Raum.
Wenn Prag also Europa im Kleinen ist, dann ist die Karlsuniversität so etwas wie die Chronistin unserer an Licht und Schatten so reichen europäischen Geschichte. Ob ihr Gründer, Kaiser Karl IV., sich selbst als Europäer verstand, vermag ich nicht zu sagen. Seine Biografie legt das nahe: geboren mit dem alten böhmischen Vornamen „Václav“, ausgebildet in Bologna und Paris, Sohn eines Herrschers aus dem Hause Luxemburg und einer Habsburgerin, deutscher Kaiser, König von Böhmen und von Italien. Dass an „seiner“ Universität ganz selbstverständlich Böhmen, Polen, Bayern und Sachsen neben Studenten aus Frankreich, Italien und England ihr Studium generale absolvierten, erscheint da nur folgerichtig.
Aber weil diese Universität in Europa liegt, hat sie auch die Tiefpunkte europäischer Geschichte durchlitten: religiösen Eifer, die Teilung entlang sprachlicher und kultureller Grenzen, die ideologische Gleichschaltung während der Diktaturen des 20. Jahrhunderts. Deutsche schrieben das dunkelste Kapitel: die Schließung der Universität durch die nationalsozialistischen Besatzer, die Erschießung protestierender Studierender, die Verschleppung und Ermordung Tausender Universitätsangehöriger in deutschen Konzentrationslagern. Diese Verbrechen schmerzen und beschämen uns Deutsche bis heute. Das auszusprechen, auch deshalb bin ich hier, zumal wir oft vergessen, dass Unfreiheit, Leid und Diktatur für viele Bürgerinnen und Bürger Mitteleuropas mit der deutschen Besatzung und den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs nicht endeten.
Einer der zahlreichen großen Geister, die diese Universität hervorgebracht hat, hat uns daran bereits zu Zeiten des Kalten Kriegs erinnert. 1983 beschreibt Milan Kundera die „Tragödie Mitteleuropas“, nämlich wie Polen, Tschechen, Slowaken, Balten, Ungarn, Rumänen, Bulgaren und Jugoslawen nach dem Zweiten Weltkrieg „erwachten (…) und feststellten, dass sie sich im Osten befanden“, dass sie „von der Karte des Westens verschwunden“ waren. Auch mit diesem Erbe setzen wir uns auseinander ‑ gerade auch diejenigen von uns, die sich auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs befanden, nicht nur, weil dieses Erbe ein Teil der europäischen Geschichte und damit unserer gemeinsamen Geschichte als Europäerinnen und Europäer ist, sondern auch, weil die Erfahrung der Bürgerinnen und Bürger Mittel- und Osteuropas ‑ das Gefühl, hinter einem Eisernen Vorhang vergessen und aufgegeben worden zu sein ‑ bis heute nachwirkt, übrigens auch in den Debatten über unsere Zukunft, über Europa.
In diesen Tagen stellt sich erneut die Frage, wo künftig die Trennlinie verläuft zwischen diesem freien Europa und einer neoimperialen Autokratie. Von einer Zeitenwende habe ich nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar gesprochen. Putins Russland will mit Gewalt neue Grenzen ziehen ‑ etwas, das wir in Europa nie wieder erleben wollten. Der brutale Überfall auf die Ukraine ist somit auch ein Angriff auf die europäische Sicherheitsordnung. Dem stellen wir uns mit aller Entschlossenheit entgegen. Dafür brauchen wir eigene Stärke ‑ als Einzelstaaten, im Verbund mit unseren transatlantischen Partnern, aber eben auch als Europäische Union.
Geboren wurde dieses vereinte Europa als ein nach innen gerichtetes Friedensprojekt. Nie wieder Krieg zwischen seinen Mitgliedstaaten, so lautete das Ziel. Heute ist es an uns, dieses Friedensversprechen weiterzuentwickeln, indem wir die Europäische Union in die Lage versetzen, ihre Sicherheit, ihre Unabhängigkeit und ihre Stabilität auch gegenüber Herausforderungen von außen zu sichern. Das ist die neue Friedensaufgabe Europas, meine Damen und Herren. Das ist es, was wohl die meisten Bürgerinnen und Bürger von Europa erwarten, und zwar im Westen wie im Osten unseres Kontinents.
Es ist daher eine glückliche Fügung, dass in diesen Zeiten mit der Tschechischen Republik ein Land die EU-Ratspräsidentschaft innehat, das die Bedeutung dieser Aufgabe schon lange erkannt hat und Europa in die richtige Richtung leitet. Tschechien hat dafür die volle Unterstützung Deutschlands, und ich freue mich auf die gemeinsame Arbeit mit Ministerpräsident Fiala, um die richtigen europäischen Antworten auf die Zeitenwende zu geben.
Die erste davon lautet: Wir nehmen Russlands Angriff auf den Frieden in Europa nicht hin. Wir sehen nicht einfach zu, wie Frauen, Männer und Kinder umgebracht, wie freie Länder von der Landkarte getilgt werden und hinter Mauern oder eisernen Vorhängen verschwinden. Wir wollen nicht zurück ins 19. oder 20. Jahrhundert, mit seinen Eroberungskriegen und seinen totalitären Exzessen.
Unser Europa ist in Frieden und Freiheit geeint, offen für alle europäischen Nationen, die unsere Werte teilen. Vor allem aber ist es die gelebte Absage an Imperialismus und Autokratie. Die Europäische Union funktioniert nicht durch Über- und Unterordnung, sondern durch die Anerkennung von Verschiedenheit, durch Augenhöhe zwischen ihren Mitgliedern, durch Pluralität und den Ausgleich unterschiedlicher Interessen.
Putin ist genau dieses vereinte Europa ein Dorn im Auge, weil es nicht in seine Weltsicht passt, in der sich kleinere Länder einer Handvoll europäischer Großmächte zu fügen haben. Umso wichtiger ist, dass wir unsere Idee von Europa gemeinsam verteidigen. Daher unterstützen wir die angegriffene Ukraine: wirtschaftlich, finanziell, politisch, humanitär und auch militärisch. Hier hat Deutschland in den letzten Monaten grundlegend umgesteuert. Wir werden diese Unterstützung aufrechterhalten, verlässlich und so lange wie nötig.
Das gilt für den Wiederaufbau des zerstörten Landes, der eine Kraftanstrengung für Generationen wird. Das erfordert internationale Abstimmung und eine kluge, belastbare Strategie. Darum wird es bei einer Expertenkonferenz gehen, zu der Kommissionspräsidentin von der Leyen und ich die Ukraine und ihre Partner aus aller Welt am 25. Oktober nach Berlin einladen.
In den nächsten Wochen und Monaten erhält die Ukraine von uns zudem neue, hochmoderne Waffen, Luftverteidigungs- und Radarsysteme etwa oder Aufklärungsdrohnen. Allein unser letztes Paket an Waffenlieferungen hat einen Wert von mehr als 600 Millionen Euro. Unser Ziel sind moderne ukrainische Streitkräfte, die ihr Land dauerhaft verteidigen können.
Dafür dürfen wir alle aber nicht nur das an Kiew liefern, worauf wir selbst gerade verzichten können. Auch hier brauchen wir mehr Planung und Koordination. Gemeinsam mit den Niederlanden haben wir deshalb eine Initiative gestartet, die auf eine dauerhafte und verlässliche Arbeitsteilung zwischen allen Partnern der Ukraine abzielt. Ich kann mir zum Beispiel vorstellen, dass Deutschland besondere Verantwortung beim Aufbau der ukrainischen Artillerie und Luftverteidigung übernimmt. Auf solch ein System der koordinierten Unterstützung sollten wir uns schnell verständigen und damit unser Bekenntnis zu einer freien, unabhängigen Ukraine auf Dauer untermauern, so, wie wir es beim Europäischen Rat im Juni getan haben, als wir geschlossen „Ja“ gesagt haben. Ja, die Ukraine, die Republik Moldau, perspektivisch auch Georgien und natürlich die sechs Staaten des westlichen Balkans gehören zu uns, zum freien, demokratischen Teil Europas. Ihr EU-Beitritt liegt in unserem Interesse.
Ich könnte das demografisch oder wirtschaftlich begründen oder, ganz im Sinne Milan Kunderas, kulturell, ethisch und moralisch. Alle diese Gründe tragen. Was aber heute klarer denn je hinzutritt, ist die geopolitische Dimension dieser Entscheidung. Realpolitik im 21. Jahrhundert heißt nicht, Werte hintanzustellen und Partner zu opfern zugunsten fauler Kompromisse. Realpolitik muss heißen, Freunde und Wertepartner einzubinden, sie zu unterstützen, um im globalen Wettbewerb durch Zusammenarbeit stärker zu sein.
So verstehe ich übrigens auch Emmanuel Macrons Vorschlag einer europäischen politischen Gemeinschaft. Natürlich haben wir den Europarat, die OSZE, die OECD, die Östliche Partnerschaft, den Europäischen Wirtschaftsraum und die NATO. All das sind wichtige Foren, in denen wir Europäer auch über die Grenzen der EU hinaus eng zusammenarbeiten. Was aber fehlt, ist ein regelmäßiger Austausch auf politischer Ebene, ein Forum, in dem wir Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU und unsere europäischen Partner ein- oder zweimal jährlich die zentralen Themen besprechen, die unseren Kontinent als Ganzes betreffen: Sicherheit, Energie, Klima oder Konnektivität.
Solch ein Zusammenschluss ‑ das ist mir ganz wichtig ‑ ist keine Alternative zur anstehenden EU-Erweiterung; denn wir stehen bei unseren Beitrittskandidaten im Wort ‑ bei den Ländern des Westlichen Balkans sogar schon seit fast 20 Jahren ‑, und diesen Worten müssen jetzt endlich Taten folgen.
Zu Recht haben viele in den vergangenen Jahren nach einer stärkeren, souveräneren, geopolitischen Europäischen Union gerufen, nach einer Union, die ihren Platz in der Geschichte und Geografie des Kontinents kennt und stark und geschlossen in der Welt handelt. Die historischen Entscheidungen der vergangenen Monate haben uns diesem Ziel nähergebracht. Mit bisher nie da gewesener Entschlossenheit und Geschwindigkeit haben wir einschneidende Sanktionen gegen Putins Russland verhängt. Ohne die früher üblichen Kontroversen haben wir Millionen Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine aufgenommen, die bei uns Schutz suchen. Gerade die Tschechische Republik und andere Staaten Mitteleuropas haben ihr weites Herz und große Solidarität bewiesen. Dafür gebührt Ihnen mein allergrößter Respekt.
Auch an anderer Stelle haben wir das Wort Solidarität neu mit Leben gefüllt. Wir arbeiten enger zusammen bei der Energieversorgung. Erst vor wenigen Wochen haben wir europäische Einsparziele beim Gasverbrauch beschlossen. Beides ist mit Blick auf den kommenden Winter essenziell, und gerade Deutschland ist für diese Solidarität sehr dankbar.
Sie alle wissen, mit welcher Entschlossenheit Deutschland dabei ist, seine Abhängigkeit von russischen Energielieferungen zu verringern. Wir bauen alternative Kapazitäten zur Einfuhr von Flüssiggas oder Erdöl auf, und wir tun dies solidarisch, indem wir auch den Bedarf von Binnenländern wie der Tschechischen Republik mit bedenken. Das habe ich Ministerpräsident Fiala bei seinem Besuch im Mai in Berlin zugesagt, und diese Solidarität werden wir sicher auch bei unserem Treffen heute noch einmal bekräftigen.
Denn der Druck zur Veränderung auf uns Europäerinnen und Europäer wird wachsen, auch unabhängig von Russlands Krieg und seinen Folgen. In einer Welt mit acht ‑ künftig wohl mit zehn ‑ Milliarden Menschen ist jeder einzelne unserer europäischen Nationalstaaten für sich genommen viel zu klein, um allein seine Interessen und Werte durchzusetzen. Umso wichtiger ist es für uns, eine geschlossen handelnde Europäische Union zu schaffen.
Umso wichtiger sind starke Partner, allen voran die Vereinigten Staaten. Dass heute mit Präsident Biden ein überzeugter Transatlantiker im Weißen Haus sitzt, ist ein Glück für uns alle. Welch unverzichtbaren Wert die transatlantische Partnerschaft hat, das haben wir in den vergangenen Monaten erlebt. Die NATO steht heute geschlossener denn je da, politische Entscheidungen treffen wir im transatlantischen Schulterschluss. Doch bei allem, was gerade Präsident Biden für unsere Partnerschaft getan hat, wissen wir zugleich, dass sich der Blick Washingtons stärker auch auf den Wettbewerb mit China und auf den asiatisch-pazifischen Raum richtet. Das wird für künftige amerikanische Regierungen ebenso gelten, vielleicht sogar noch mehr.
In einer multipolaren Welt, und das ist die Welt des 21. Jahrhunderts, reicht es daher nicht, nur bestehende Partnerschaften zu pflegen, so wertvoll sie sind. Wir werden in neue Partnerschaften investieren ‑ in Asien, Afrika und Lateinamerika. Politische und wirtschaftliche Diversifizierung, das ist übrigens auch ein Teil der Antwort auf die Frage, wie wir mit der Weltmacht China umgehen und den Dreiklang vom „Partner, Wettbewerber und Rivalen“ einlösen.
Der andere Teil dieser Antwort lautet: Wir müssen das Gewicht des geeinten Europas noch viel stärker zur Geltung bringen. Zusammen haben wir allerbeste Chancen, das 21. Jahrhundert in unserem, im europäischen Sinn mitzuprägen und zu gestalten ‑ als Europäische Union aus 27, 30 oder 36 Staaten mit dann mehr als 500 Millionen freien und gleichberechtigten Bürgerinnen und Bürgern, mit dem größten Binnenmarkt der Welt, mit führenden Forschungseinrichtungen, Innovationen und innovativen Unternehmen, mit stabilen Demokratien, mit einer sozialen Versorgung und einer öffentlichen Infrastruktur, die auf der Welt ihresgleichen suchen. Das ist der Anspruch, den ich mit einem geopolitischen Europa verbinde.
Die Erfahrung der vergangenen Monate zeigt doch: Blockaden lassen sich überwinden. Europäische Regeln lassen sich ändern ‑ wenn nötig, auch im Eiltempo. Selbst die europäischen Verträge sind nicht in Stein gemeißelt. Wenn wir gemeinsam zu dem Schluss kommen, dass die Verträge angepasst werden müssen, damit Europa vorankommt, dann sollten wir das tun.
Abstrakte Diskussionen darüber führen uns aber nicht weiter. Wichtig ist vielmehr, dass wir uns angucken, was geändert werden muss, und dann konkret entscheiden, wie wir das angehen. „Form follows function“: Dieser Anspruch moderner Architektur gehört als Grundsatz dringend auch in die europäische Politik.
Dass Deutschland dazu Vorschläge liefern und sich dafür auch selbst bewegen muss, liegt für mich auf der Hand. Auch deshalb bin ich also hier, in der Hauptstadt der EU-Ratspräsidentschaft, um Ihnen und unseren Freunden in Europa einige meiner Ideen zur Zukunft unserer Union vorzustellen. Ideen sind das, wohlgemerkt, Angebote, Denkanstöße ‑ keine fertigen deutschen Lösungen.
Deutschlands Verantwortung für Europa liegt für mich darin, dass wir zusammen mit unseren Nachbarn Lösungen erarbeiten und dann gemeinsam entscheiden. Ich will keine EU der exklusiven Clubs oder Direktorien, sondern eine EU gleichberechtigter Mitglieder.
Ich füge ganz ausdrücklich hinzu: Dass die EU weiter in Richtung Osten wächst, ist für uns alle ein Gewinn. Deutschland als Land in der Mitte des Kontinents wird alles dafür tun, Ost und West, Nord und Süd in Europa zusammenzuführen.
In diesem Sinne bitte ich Sie auch die folgenden vier Überlegungen zu verstehen.
Erstens: Ich setze mich ein für die Erweiterung der Europäischen Union um die Staaten des Westbalkans, um die Ukraine, um Moldau und perspektivisch auch um Georgien.
Eine Europäische Union mit 30 oder 36 Staaten aber wird anders aussehen als unsere heutige Union. Das liegt auf der Hand. Europas Mitte bewegt sich ostwärts, könnte man angelehnt an den Historiker Karl Schlögel sagen. In dieser erweiterten Union werden die Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten zunehmen, was die politischen Interessen, die Wirtschaftskraft oder die Sozialsysteme angeht. Die Ukraine ist nicht Luxemburg, und Portugal blickt anders auf die Herausforderungen der Welt als Nordmazedonien.
Zuallererst sind die Kandidatenländer gefordert, die Kriterien für den Beitritt zu erfüllen. Dabei werden wir sie bestmöglich unterstützen. Doch auch die EU selbst müssen wir fit machen für diese große Erweiterung. Das wird Zeit brauchen, und deshalb müssen wir jetzt damit anfangen. Auch bei bisherigen Erweiterungsrunden sind Reformen in den Beitrittsländern übrigens Hand in Hand gegangen mit institutionellen Reformen innerhalb der Europäischen Union. So wird es auch dieses Mal sein.
Wir können dieser Debatte nicht aus dem Weg gehen ‑ jedenfalls dann nicht, wenn wir es ernst meinen mit der Beitrittsperspektive. Und wir müssen unsere Beitrittsversprechen ernst meinen. Denn nur so erreichen wir Stabilität auf unserem Kontinent. Also lassen Sie uns über Reformen reden.
Im Rat der EU, auf der Ebene der Ministerinnen und Minister, ist schnelles und pragmatisches Handeln gefragt. Das muss auch in Zukunft gesichert sein. Dort, wo heute Einstimmigkeit erforderlich ist, wächst aber mit jedem weiteren Mitgliedstaat auch das Risiko, dass ein einzelnes Land mit seinem Veto alle anderen am Vorankommen hindert. Wer anderes glaubt, der verleugnet die europäische Realität.
Ich habe deshalb vorgeschlagen, in der gemeinsamen Außenpolitik, aber auch in anderen Bereichen wie der Steuerpolitik, schrittweise zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen ‑ wohl wissend, dass dies auch Auswirkungen für Deutschland hätte. Wir müssen uns darüber im Klaren sein: Ein Festhalten am Prinzip der Einstimmigkeit funktioniert nur, solange der Handlungsdruck gering ist. Spätestens angesichts der Zeitenwende aber ist das nicht mehr der Fall.
Die Alternative zu Mehrheitsentscheidungen wäre im Übrigen nicht das Festhalten am Status quo, sondern ein Vorangehen in immer unterschiedlicheren Gruppen, ein Dschungel verschiedener Regeln und schwer handhabbarer Opt-ins und Opt-outs. Das wäre keine differenzierte Integration, sondern es wäre ein unübersichtlicher Wildwuchs und eine Einladung an alle, die gegen ein geeintes geopolitisches Europa wetten und uns gegeneinander ausspielen wollen. Das möchte ich nicht!
Mein Werben für Mehrheitsentscheidungen ist gelegentlich kritisiert worden, und ich kann die Sorgen gerade der kleineren Mitgliedstaaten gut nachvollziehen. Auch in Zukunft muss jedes Land mit seinen Anliegen Gehör finden ‑ alles andere wäre ein Verrat an der europäischen Idee. Und weil ich diese Sorgen sehr ernst nehme, sage ich: Lassen Sie uns gemeinsam nach Kompromissen suchen! Ich könnte mir zum Beispiel vorstellen, zunächst in den Bereichen mit Mehrheitsentscheidungen zu beginnen, in denen es ganz besonders darauf ankommt, dass wir mit einer Stimme sprechen ‑ in der Sanktionspolitik zum Beispiel, oder in Fragen der Menschenrechte. Außerdem werbe ich für den Mut zur konstruktiven Enthaltung. Hier sehe ich uns Deutsche und alle anderen in der Pflicht, die von Mehrheitsentscheidungen überzeugt sind. Wenn möglichst viele dieser Idee folgen, kommen wir einem weltpolitikfähigen, geopolitischen Europa deutlich näher.
Auch das Europäische Parlament wird an Reformen nicht vorbeikommen. In den Verträgen ist aus gutem Grund eine Höchstzahl von 751 Abgeordneten vorgesehen. Diese Zahl aber werden wir überschreiten, wenn neue Länder beitreten ‑ zumindest dann, wenn wir das Parlament einfach um die Sitze erweitern, die den neuen Mitgliedsländern nach den bisherigen Regeln zustünden. Wenn wir das Europäische Parlament nicht aufblähen wollen, dann brauchen wir also eine neue Balance, was seine Zusammensetzung angeht, und zwar unter Beachtung auch des demokratischen Prinzips, wonach jede Wählerstimme in etwa das gleiche Gewicht haben sollte.
Um die richtige Balance zwischen Repräsentanz und Funktionsfähigkeit geht es schließlich auch bei der Europäischen Kommission. Eine Kommission mit 30 oder 36 Kommissaren stößt an die Grenzen ihrer Arbeitsfähigkeit. Wenn wir zudem daran festhalten, dass jede Kommissarin und jeder Kommissar einen eigenen Politikbereich verantwortet, dann führt das ‑ um an einen weiteren großen Sohn dieser Stadt zu erinnern ‑ zu kafkaesken Verhältnissen.
Ich weiß zugleich, wie viel Wert alle Mitgliedstaaten darauf legen, mit „ihrem“ Kommissar oder „ihrer“ Kommissarin in Brüssel vertreten zu sein. Das ist auch wichtig, denn es zeigt: In Brüssel sitzen alle mit am Tisch. Alle entscheiden gemeinsam. Deshalb will ich an dem Grundsatz „Eine Kommissarin oder ein Kommissar pro Land“ nicht rütteln. Aber was spricht dagegen, dass zwei Kommissionsmitglieder gemeinsam für eine Generaldirektion zuständig sind? Das funktioniert nicht nur in Entscheidungsgremien von Unternehmen weltweit Tag für Tag. Auch in den Regierungen einiger Mitgliedstaaten gibt es solche Lösungen, sowohl in der Vertretung nach außen als auch bei der internen Zuständigkeitsverteilung.
Suchen wir also nach solchen Kompromissen ‑ für ein funktionierendes Europa!
Der zweite Gedanke, den ich mit Ihnen teilen möchte, hängt mit einem Begriff zusammen, über den wir in den vergangenen Jahren oft diskutiert haben: europäische Souveränität.
Mir geht es dabei nicht um Semantik. Im Kern bedeutet europäische Souveränität doch, dass wir auf allen Feldern eigenständiger werden, dass wir mehr Verantwortung übernehmen für unsere eigene Sicherheit, dass wir noch enger zusammenarbeiten und zusammenstehen, um unsere Werte und Interessen weltweit durchzusetzen.
Nicht nur Russlands Angriff auf die europäische Friedensordnung zwingt uns dazu. Ich habe die Abhängigkeiten schon erwähnt, in die wir uns begeben haben. Die russischen Energieimporte sind ein besonders augenfälliges Beispiel dafür, aber keineswegs das einzige. Nehmen wir etwa die Engpässe bei der Lieferung von Halbleitern: Solch einseitige Abhängigkeiten müssen wir schnellstmöglich beenden!
Europa verdankt seinen Wohlstand dem Handel. Dieses Feld dürfen wir nicht anderen überlassen. Deshalb brauchen wir auch weitere, nachhaltige Freihandelsabkommen und eine ambitionierte Handelsagenda.
Wenn wir über die Versorgung mit Rohstoffen oder seltenen Erden reden, dann denken wir vor allem an die Herkunftsländer weit weg von Europa. Eines wird dabei aber oft übersehen: Ein Großteil des Lithiums, Kobalts, Magnesiums oder Nickels, auf das unsere Betriebe so dringend angewiesen sind, ist längst hier bei uns in Europa. In jedem Handy, in jeder Autobatterie stecken wertvolle Rohstoffe. Wenn wir also über wirtschaftliche Souveränität reden, dann sollten wir auch darüber reden, dieses Potenzial noch viel stärker zu nutzen. Die Technologien dafür sind heute schon da. Was wir brauchen, sind gemeinsame Standards für den Einstieg in eine echte europäische Kreislaufwirtschaft ‑ ich nenne es: ein strategisches Update unseres Binnenmarkts.
Wirtschaftliche Unabhängigkeit heißt nicht Autarkie. Das kann nicht das Ziel Europas sein, das immer von offenen Märkten und Handel profitiert hat und weiterhin profitiert. Aber auch wir brauchen einen „game plan“, so etwas wie eine Strategie „Made in Europe 2030“.
Für mich heißt das: Dort, wo Europa verglichen mit dem Silicon Valley, Shenzhen, Singapur oder Tokio zurückliegt, wollen wir uns an die Spitze zurückkämpfen.
Bei den für unsere Industrie so wichtigen Chips und Halbleitern sind wir dank einer echten europäischen Kraftanstrengung schon vorangekommen. Erst vor Kurzem hat zum Beispiel Intel Milliardeninvestitionen in Frankreich, Polen, Deutschland, Irland, Italien und Spanien angekündigt ‑ ein Riesenschritt hin zu einer neuen Generation von „Microchips Made in Europe“. Und das ist erst der Anfang: Mit Unternehmen wie Infineon, Bosch, NXP oder GlobalFoundries arbeiten wir an Projekten, die Europa technologisch an die Weltspitze führen.
Denn unser Anspruch wird sich nicht darauf beschränken, in Europa nur Dinge herzustellen, die auch anderswo produziert werden können. Ich möchte ein Europa, das Vorreiter ist bei wichtigen Schlüsseltechnologien.
Nehmen wir die Mobilität der Zukunft. Daten werden dabei die entscheidende Rolle spielen ‑ für das autonome Fahren, bei der Vernetzung unterschiedlicher Transportmittel oder bei der intelligenten Steuerung von Verkehrsströmen. Deshalb brauchen wir so schnell wie möglich einen einheitlichen, grenzüberschreitenden europäischen Raum für Mobilitätsdaten. Mit dem Mobility Data Space haben wir in Deutschland einen Anfang gemacht. Verknüpfen wir ihn mit ganz Europa! Er ist offen für alle, die etwas bewegen wollen. So können wir weltweit zum Vorreiter werden.
Wenn wir über Digitalisierung sprechen, müssen wir groß denken ‑ und auch den Weltraum einbeziehen, denn Souveränität hängt im Digitalzeitalter von Fähigkeiten im Weltraum ab. Ein unabhängiger Zugang zum All, moderne Satelliten und Megakonstellationen ‑: das ist nicht nur für unsere Sicherheit entscheidend, sondern auch für den Umweltschutz, die Landwirtschaft und nicht zuletzt für die Digitalisierung, Stichwort: europaweites Breitband-Internet.
Kommerzielle Akteure und Startups spielen dabei eine immer größere Rolle ‑ das erleben wir in den USA. Für eine starke, wettbewerbsfähige europäische Raumfahrt müssen auch wir deshalb neben den etablierten Playern auch solche innovativen Unternehmen fördern. Denn nur so haben wir eine Chance, dass das nächste Unternehmen wie SpaceX aus Europa kommt.
Nicht zuletzt birgt auch unser großes Ziel, als Europäische Union bis 2050 klimaneutral zu werden, eine riesige Chance: nämlich auf diesem für die Zukunft der Menschheit entscheidenden Feld „first mover“ zu sein. Und zwar indem wir hier, bei uns in Europa, die Technologien entwickeln und zur Marktreife führen, die weltweit gebraucht und eingesetzt werden.
Ich denke im Bereich Strom an den Aufbau der Netz- und Speicherinfrastruktur für einen echten Energiebinnenmarkt, der Europa mit Wasserkraft aus dem Norden, Wind von den Küsten und Sonnenenergie aus dem Süden versorgt ‑ verlässlich, im Sommer wie im Winter.
Ich denke an ein europäisches Wasserstoff-Netz, das Erzeuger und Verbraucher verbindet und einen europäischen Elektrolyse-Boom auslöst. Denn nur mit Wasserstoff wird die Industrie klimaneutral.
Ich denke an ein möglichst engmaschiges Netz an Elektro-Ladesäulen in jedem unserer Länder ‑ für Elektroautos, aber auch für LKWs.
Und ich denke an Investitionen in neue klimaneutrale Kraftstoffe für den Flugverkehr und in die dafür nötige Infrastruktur, zum Beispiel an den Flughäfen ‑ damit das Ziel klimaneutraler Luftfahrt kein Traum bleibt, sondern Wirklichkeit wird, und zwar ausgehend von Europa.
Diese ökologische und digitale Transformation unserer Wirtschaft wird erhebliche private Investitionen erfordern. Die Basis dafür sind ein starker und liquider EU-Kapitalmarkt und ein stabiles Finanzsystem. Die Kapitalmarkt- und die Bankenunion sind deshalb zentral für unseren zukünftigen Wohlstand.
Meine Damen und Herren, das alles sind Schritte hin zu europäischer Souveränität.
Lassen Sie mich noch einen weiteren Punkt herausgreifen, weil er beim Thema Souveränität und mit Blick auf den Krieg im Osten Europas eine entscheidende Rolle spielt: Wir brauchen in Europa ein besseres Zusammenspiel unserer Verteidigungsanstrengungen.
Verglichen mit den USA gibt es in der EU ein Vielfaches an unterschiedlichen Waffensystemen. Das ist ineffizient, denn so müssen unsere Soldatinnen und Soldaten an vielen verschiedenen Systemen trainieren, und auch die Wartung und Instandsetzung ist teurer und aufwändiger.
Auf das zurückliegende unkoordinierte Schrumpfen europäischer Armeen und Verteidigungsbudgets sollte jetzt ein koordinierter Aufwuchs europäischer Fähigkeiten erfolgen. Neben gemeinsamer Herstellung und Beschaffung ist dafür nötig, dass unsere Unternehmen bei Rüstungsprojekten noch viel enger zusammenarbeiten. Das macht eine noch viel engere Abstimmung auf europäischer Ebene unumgänglich. Deshalb ist es höchste Zeit, dass sich nicht nur die Landwirtschafts- und Umweltministerinnen und -minister eigenständig in Brüssel treffen. In diesen Zeiten brauchen wir einen eigenständigen Rat der Verteidigungsministerinnen und Verteidigungsminister.
Um die Zusammenarbeit unserer Streitkräfte ganz praktisch zu verbessern, haben wir einige Instrumente bereits an der Hand. Neben der Europäischen Verteidigungsagentur und dem Verteidigungsfonds denke ich vor allem an eine Kooperation, wie sie in der Organisation zum Management von gemeinsamen Rüstungsvorhaben schon praktiziert wird. So wie wir mit den freien Grenzen im Schengenraum seinerzeit mit sieben Staaten angefangen haben, so kann diese Organisation zum Nukleus werden für ein Europa der gemeinsamen Verteidigung und Rüstung.
Dafür werden wir alle unsere nationalen Vorbehalte und Regularien überprüfen müssen, etwa was die Nutzung und den Export gemeinsam hergestellter Systeme angeht. Aber das muss möglich sein ‑ im Interesse unserer Sicherheit und unserer Souveränität, die eben auch von europäischen Rüstungsfähigkeiten abhängt.
Die NATO bleibt der Garant unserer Sicherheit. Richtig ist aber eben auch: Jede Verbesserung, jede Vereinheitlichung europäischer Verteidigungsstrukturen im EU-Rahmen stärkt die NATO.
Wir sollten Lehren ziehen aus den Geschehnissen in Afghanistan im vorigen Sommer. Künftig muss die EU in der Lage sein, schnell und effektiv zu reagieren. Gemeinsam mit anderen EU-Partnern wird Deutschland deshalb dafür sorgen, dass die geplante schnelle Eingreiftruppe der EU 2025 einsatzfähig ist, und dann auch deren Kern stellen. Dafür braucht es eine klare Führungsstruktur. Wir müssen daher die ständige EU-Kommandozentrale und mittelfristig ein echtes EU-Hauptquartier mit allem ausstatten, was dafür finanziell, personell und technisch gebraucht wird. Deutschland wird sich dieser Verantwortung stellen, wenn wir im Jahr 2025 die schnelle Eingreiftruppe führen.
Schließlich müssen wir unsere politischen Entscheidungsprozesse gerade in Krisenzeiten beweglicher machen. Für mich heißt das, die dafür vorhandenen Spielräume in den EU-Verträgen voll auszuschöpfen. Ja, das bedeutet ausdrücklich auch, noch viel stärker die Möglichkeit zu nutzen, Einsätze einer Gruppe von Mitgliedstaaten anzuvertrauen, die dazu bereit ist, sozusagen einer Koalition der Entschlossenen. Das ist EU-Arbeitsteilung im besten Sinne.
Schon beschlossen ist, dass Deutschland Litauen mit einer schnell einsatzbereiten Brigade und die NATO mit weiteren Kräften in hoher Einsatzbereitschaft unterstützen wird. Die Slowakei unterstützen wir unter anderem bei der Luftverteidigung. Die Tschechische Republik und andere Länder kompensieren wir für die Abgabe sowjetischer Panzer an die Ukraine mit Panzern deutscher Bauart. Zugleich haben wir vereinbart, dass unserer Streitkräfte noch viel enger kooperieren. Auch die 100 Milliarden Euro, mit denen wir in Deutschland in den kommenden Jahren die Bundeswehr modernisieren, stärken die europäische und transatlantische Sicherheit.
Erheblichen Nachholbedarf haben wir in Europa bei der Verteidigung gegen Bedrohungen aus der Luft und aus dem Weltraum. Daher werden wir in Deutschland in den kommenden Jahren ganz erheblich in unsere Luftverteidigung investieren. Alle diese Fähigkeiten werden im NATO-Rahmen einsetzbar sein. Zugleich wird Deutschland diese zukünftige Luftverteidigung von Beginn an so ausgestalten, dass sich auch unsere europäischen Nachbarn daran beteiligen können, wenn es gewünscht wird, etwa Polen, Balten, Niederländer, Tschechen, Slowaken oder unsere skandinavischen Partner. Ein gemeinsam aufgebautes Luftverteidigungssystem in Europa wäre nicht nur kostengünstiger und effizienter, als wenn jeder von uns seine eigene teure und hochkomplexe Luftverteidigung aufbaut; es wäre ein Sicherheitsgewinn für ganz Europa und ein hervorragendes Beispiel dafür, was wir meinen, wenn wir von der Stärkung der europäischen Säule der NATO sprechen.
Auch der dritte große Handlungsauftrag, den ich für Europa sehe, folgt aus der Zeitenwende, und er und geht zugleich weit darüber hinaus. Putins Russland definiert sich auf absehbare Zeit in Gegnerschaft zur Europäischen Union. Jede Uneinigkeit zwischen uns, jede Schwäche wird Putin ausnutzen. Andere Autokraten ahmen das nach. Denken Sie nur daran, wie der belarussische Diktator Lukaschenko im vergangenen Jahr versucht hat, uns mit dem Leid Tausender Geflüchteter und Migranten aus dem Nahen Osten politisch unter Druck zu setzen. Auch China und andere nutzen die offenen Flanken, die wir Europäer bieten, wenn wir uneinig sind.
Was daraus für Europa folgt, lässt sich vielleicht so zusammenfassen: Wir müssen die Reihen schließen, alte Konflikte überwinden und neue Lösungen finden. ‑ Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, doch dahinter verbirgt sich viel Arbeit. Nehmen wir nur die zwei Felder, die in den vergangenen Jahren wohl die größten Spannungen zwischen den Mitgliedsstaaten hervorgerufen haben, die Migrations- und die Finanzpolitik.
Dass wir in der Migrationspolitik vorankommen können, haben wir nach dem russischen Angriff auf die Ukraine bewiesen. Erstmals hat die EU die Richtlinie über temporären Schutz aktiviert. Hinter diesem sperrigen Begriff verbirgt sich für Millionen von Ukrainerinnen und Ukrainer ein Stück Normalität fern der Heimat, eine schnelle, sichere Aufenthaltserlaubnis, die Möglichkeit zu arbeiten, die Schule oder eine Universität wie diese hier zu besuchen.
Auch künftig werden Menschen nach Europa kommen, sei es, um Schutz vor Krieg und Verfolgung zu suchen, sei es auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Europa bleibt für Millionen auf der ganzen Welt ein Sehnsuchtsort. Das ist einerseits ein großartiger Beweis für die Attraktivität unseres Kontinents, andererseits ist es zugleich eine Realität, mit der wir Europäerinnen und Europäer umgehen müssen. Das bedeutet, Migration vorausschauend zu gestalten, statt immer nur ad hoc auf Krisen zu reagieren. Das bedeutet auch, irreguläre Migration zu verringern und zugleich legale Migration zu ermöglichen, denn wir brauchen Zuwanderung. Wir erleben derzeit doch an unseren Flughäfen, in unseren Krankenhäusern und in vielen Betrieben, dass uns an allen Ecken und Enden qualifizierte Arbeitskräfte fehlen.
Einige Punkte scheinen mir zentral.
Erstens. Wir brauchen mehr verbindliche Partnerschaften mit Herkunfts- und Transitstaaten, und zwar auf Augenhöhe. Wenn wir Arbeitskräften mehr legale Wege nach Europa bieten, muss im Gegenzug die Bereitschaft in den Herkunftsstaaten steigen, eigenen Staatsangehöriger ohne Aufenthaltsrecht die Rückkehr zu ermöglichen.
Zweitens. Zu einer funktionierenden Migrationspolitik gehört ein Außengrenzschutz, der wirksam ist und unseren rechtstaatlichen Standards gerecht wird. Der Schengen-Raum, das grenzenlose Reisen, Leben und Arbeiten, steht und fällt mit diesem Schutz. Schengen ist eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union, und wir sollten sie schützen und ausbauen. Dazu gehört es auch, bestehende Lücken zu schließen. Kroatien, Rumänien und Bulgarien erfüllen alle technischen Anforderungen für die Vollmitgliedschaft. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sie Vollmitglieder werden.
Drittens. Europa braucht ein Asylsystem, das solidarisch und krisenfest ist. Es ist unsere Pflicht, Menschen, die schutzbedürftig sind, ein sicheres Zuhause zu bieten. Unter französischer Ratspräsidentschaft haben wir uns in den letzten Monaten auf einen schrittweisen Ansatz geeinigt. Jetzt sollte sich auch das Europäische Parlament darauf einlassen. Die tschechische Ratspräsidentschaft kann bei den Verhandlungen mit dem Parlament auf unsere volle Unterstützung zählen.
Schließlich sollten wir denjenigen, die sich als Schutzberechtigte legal in der EU aufhalten, früher als bisher die Möglichkeit geben, eine Arbeit in einem anderen Mitgliedstaat aufzunehmen, um ihre Fähigkeiten dort einzubringen, wo sie gebraucht werden. Weil wir nicht naiv sind, müssen wir zugleich Missbrauch verhindern, etwa dann, wenn gar kein Wille zum Arbeiten besteht. Wenn wir das hinbekommen, dann führt Freizügigkeit auch nicht zur Überlastung der Sozialsysteme. Dann sichern wir auf Dauer die Akzeptanz dieser großen europäischen Freiheit.
Meine Damen und Herren, das Feld, das uns Europäer neben dem der Migration in den vergangenen Jahren am meisten entzweite, war das der Fiskalpolitik. Das in der Coronakrise beschlossene historische Aufbauprogramm markiert jedoch einen Wendepunkt. Erstmals haben wir zusammen eine europäische Antwort gegeben und die nationalen Investitions- und Reformprogramme mit Mitteln der EU unterstützt. Wir haben uns darauf geeinigt, gemeinsam zu investieren, um unsere Volkswirtschaften zu stärken. Das hilft uns übrigens auch in der gegenwärtigen Krise.
Ideologie ist Pragmatismus gewichen. Davon sollten wir uns leiten lassen, wenn es um die Frage geht, wie wir unsere gemeinsamen Regeln auch über die Coronakrise hinaus weiterentwickeln. Klar ist: Ein gemeinsamer Währungsraum braucht gemeinsame Regeln, die eingehalten und überprüft werden können. Das schafft Vertrauen und ermöglicht Solidarität in der Not.
Nun haben die Krisen der vergangenen Jahre die Schuldenstände in allen Mitgliedstaaten steigen lassen. Deshalb brauchen wir eine Verständigung darüber, wie wir diese hohen Schuldenstände abbauen. Diese Übereinkunft muss verbindlich sein, Wachstum ermöglichen und politisch vermittelbar sein. Zugleich muss sie allen EU-Staaten ermöglichen, die Transformation unserer Volkswirtschaften durch Investitionen zu meistern.
Anfang des Monats haben wir als deutsche Regierung unsere Vorstellungen zur Weiterentwicklung der europäischen Schuldenregeln vorgelegt. Sie folgen dieser Logik. Wir möchten darüber offen mit allen unseren europäischen Partnern sprechen, unvoreingenommen, ohne Belehrungen, ohne Schuldzuweisungen. Wir wollen gemeinsam diskutieren, wie ein nachhaltiges Regelwerk nach der Zeitenwende aussehen kann. Es geht dabei um etwas ganz Fundamentales. Es geht darum, den Bürgerinnen und Bürgern die Gewissheit zu geben, dass unsere Währung sicher und irreversibel ist, dass sie sich auf ihren Staat und auf die Europäische Union auch in Krisenzeiten verlassen können.
Eines der besten Beispiele, wie uns das in den vergangenen Jahren gelungen ist, ist das europäische SURE-Programm. Während der Coronakrise haben wir es eingeführt, um Kurzarbeit abzusichern. Über 30 Millionen Bürgerinnen und Bürger haben EU-weit davon profitiert, immerhin jede siebte Arbeitnehmerin, jeder siebte Arbeitnehmer, die sonst womöglich auf der Straße gestanden hätten. Nebenbei ist es uns durch diesen Anreiz auf europäischer Ebene gelungen, quasi flächendeckend in Europa das Erfolgsmodell der Kurzarbeit einzuführen. Ein robusterer Arbeitsmarkt und gesündere Unternehmen in ganz Europa sind das Ergebnis. So stelle ich mir pragmatische Lösungen in Europa vor, auch in der Zukunft.
Zeitenwende, das muss für die europäische Politik heißen, Brücken zu bauen statt Gräben aufzureißen. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten eine EU, die liefert. Das Ergebnis der Zukunftskonferenz zeigt das ganz klar. Die Bürgerinnen und Bürger erwarten von der EU ganz handfeste Dinge, zum Beispiel mehr Tempo beim Klimaschutz, gesunde Lebensmittel, nachhaltige Lieferketten oder eben den besseren Schutz von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Kurzum: Sie erwarten die „Solidarität der Tat“, von der schon in der Schuman-Erklärung aus dem Jahr 1950 die Rede war. Es ist an uns, diese Solidarität der Tat immer wieder neu zu begründen und an die Herausforderungen der jeweiligen Zeit anzupassen.
In den Gründungsjahrzehnten des vereinten Europas hieß das vor allem, durch immer engere wirtschaftliche Verschränkung Krieg zwischen den Mitgliedern unmöglich zu machen. Dass dies gelungen ist, bleibt das historische Verdienst unserer Union. Inzwischen ist aus dem Friedensprojekt aber auch ein europaweites Freiheits- und Gerechtigkeitsprojekt geworden. Das wiederum verdanken wir vor allem den Ländern, die erst später zu unserer Gemeinschaft hinzugestoßen sind, den Spaniern, Griechen und Portugiesen, die sich nach Jahrzehnten der Diktatur einem Europa der Freiheit und Demokratie zuwandten, und dann den Bürgerinnen und Bürgern Mittel- und Osteuropas, die mit ihrem Kampf für Freiheit, Menschenrechte und Gerechtigkeit den Kalten Krieg überwunden haben. Darunter waren auch viele mutige Studentinnen und Studenten dieser Universität, die an einem dunklen Novemberabend im Jahre 1989 so laut nach Freiheit riefen, dass daraus eine Revolution wurde. Diese Samtene Revolution war ein Glücksfall für Europa.
Frieden und Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Menschenwürde, diese Werte der Europäischen Union sind unser gemeinsam erworbenes Erbe. Gerade jetzt angesichts der erneuten Bedrohung von Freiheit, Pluralismus und Demokratie, die wir im Osten unseres Kontinents erleben, spüren wir diese Verbindung doch ganz besonders stark.
„Staaten erhalten sich durch die Ideale, aus denen sie entstanden sind.“ Einer der berühmtesten Professoren dieser Universität hat diesen Satz gesagt, Tomáš Masaryk, der spätere Präsident der Tschechoslowakei. Dieser Satz gilt für Staaten; er gilt aber auch für die Wertegemeinschaft EU. Weil Werte konstitutiv für deren Fortbestand sind, betrifft es auch uns alle, wenn diese Werte verletzt werden, außerhalb Europas und noch mehr in unserem Innern. Das ist der vierte Gedanke, den ich heute mit Ihnen teilen möchte.
Deshalb macht es uns Sorgen, wenn mitten in Europa von illiberaler Demokratie geredet wird, als wäre das nicht ein Widerspruch in sich. Deshalb können wir es nicht hinnehmen, wenn rechtsstaatliche Prinzipien verletzt und demokratische Kontrolle zurückgebaut wird. Um auch das ganz klar zu sagen: Für Rassismus und Antisemitismus darf es in Europa keine Toleranz geben. Deshalb unterstützen wir die Kommission in ihrem Einsatz für die Rechtsstaatlichkeit. Auch das Europäische Parlament verfolgt das Thema mit großer Aufmerksamkeit. Dafür bin ich sehr dankbar.
Wir sollten nicht davor zurückscheuen, alle vorhandenen Möglichkeiten zu nutzen, um Defizite abzustellen. Umfragen zeigen, dass sich überall, übrigens auch in Ungarn und Polen, eine große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sogar ein stärkeres Engagement der EU für Freiheit und Demokratie in ihren Ländern wünscht. Zu diesen Möglichkeiten gehört das Rechtsstaatlichkeitsverfahren nach Artikel 7. Auch hier müssen wir von den Blockademöglichkeiten wegkommen. Sinnvoll scheint mir auch, Zahlungen konsequent an die Einhaltung rechtsstaatlicher Standards zu knüpfen, wie wir das mit dem Finanzrahmen 2021 bis 2027 und dem Wiederaufbaufonds in der Coronakrise getan haben ‑ und wir sollten der Kommission einen neuen Weg eröffnen, Vertragsverletzungsverfahren auch dann einzuleiten, wenn gegen das verstoßen wird, was uns im Kern zusammenhält, gegen unsere Grundwerte, die wir alle im EU-Vertrag festgeschrieben haben: Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte.
Zugleich wünsche ich mir, dass wir um Rechtsstaatlichkeit nicht vor Gericht streiten müssen, weil wir neben allen Verfahren und Sanktionen vor allem brauchen, dass ein offener Dialog auf politischer Ebene über Defizite geführt wird, die es ja in allen Ländern gibt. Der Rechtsstaatlichkeitsbericht der Kommission mit seinen länderspezifischen Empfehlungen schafft dafür eine gute Grundlage. Die Umsetzung dieser Empfehlungen werden wir politisch eng begleiten und unsere eigenen Hausaufgaben machen. Denn die Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundwert, der unsere Union einen sollte. Gerade in diesen Zeiten, da die Autokratie unsere Demokratien herausfordert, ist das wichtiger denn je.
Meine Damen und Herren, ich habe bereits die mutigen Studentinnen und Studenten dieser Universität erwähnt, die am Abend des 17. November 1989 die Samtene Revolution in Gang setzten. Auf dem Universitätscampus an der Albertovstraße, dort wo ihr Protest begann, erinnert heute eine kleine, bronzene Plakette daran. Zwei Sätze stehen darauf, und ich hoffe, dass ich sie einigermaßen richtig ausspreche: Kdy ‑ když ne teď? Kdo ‑ když ne my? ‑ Auf Deutsch: Wann, wenn nicht jetzt? Wer, wenn nicht wir? ‑ Hier, von Prag aus, will ich diese beiden Sätze heute allen Europäerinnen und Europäern zurufen, denen, die bereits in unserer Union leben, und denjenigen, die hoffentlich bald zu uns stoßen. Ich will sie den politisch Verantwortlichen zurufen, meinen Kolleginnen und Kollegen, mit denen wir tagtäglich in Brüssel, Straßburg oder in unseren Hauptstädten um Lösungen ringen. Es geht um unsere Zukunft, die Europa heißt. Dieses Europa ist heute gefordert wie nie.
Wann, wenn nicht jetzt, da Russland die Grenze zwischen Freiheit und Autokratie zu verschieben sucht, legen wir die Grundsteine für eine erweiterte Union der Freiheit, der Sicherheit und der Demokratie? Wann, wenn nicht jetzt, schaffen wir ein souveränes Europa, das sich in einer multipolaren Welt behaupten kann? Wann, wenn nicht jetzt, überwinden wir die Differenzen, die uns seit Jahren lähmen und spalten? Wer, wenn nicht wir, könnte Europas Werte schützen und verteidigen, im Innern wie nach außen?
Europa ist unsere Zukunft, und diese Zukunft liegt in unseren Händen.
Vielen Dank.