Pressekonferenz von Bundeskanzler Scholz und dem türkischen Präsidenten, Erdoğan am 14. März 2022 in Ankara

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P Erdoğan: Herr Bundeskanzler, geschätzte Delegationsmitglieder, werte Angehörige der Presse, ich darf Sie ganz herzlich begrüßen. Herr Olaf Scholz, Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland, Freund und Verbündeter der Türkei, stattet der Türkei seinen ersten offiziellen Besuch ab. Ich darf Sie und Ihre Delegation auch in Ihrer Anwesenheit, meine Damen und Herren, noch einmal willkommen heißen.

Die Dimension und die Intensität der deutsch-türkischen Beziehungen, die überaus dynamisch und stark sind, sind unvergleichlich. Wir sind bereit, mit dem Bundeskanzler den engen Dialog und die enge Zusammenarbeit fortzusetzen. Ob es um den wirtschaftlichen, den militärischen oder den kulturellen Bereich geht, in allen Bereichen haben wir heute die Möglichkeit gehabt, Gespräche zu führen. Nicht nur regionale Themen, sondern auch die die Welt betreffenden Themen wie das Thema der Ukraine und Russlands haben wir heute besprochen und erörtert.

Diese Gespräche über die Entwicklungen in dem Bereich der Ukraine und Russlands sind natürlich sehr wichtig. Als zwei NATO-Verbündete haben wir bestätigen können, dass wir gemeinsame Ansichten haben und gemeinsame Sorge tragen. Wir sind uns darin einig gewesen, dass, während auf der einen Seite notwendige Maßnahmen für die Sicherheit Europas ergriffen werden, auf der anderen Seite diplomatische Bemühungen für eine Lösung beschleunigt werden müssen. Als Türkei waren wir bei den Fortschritten bei dem Zusammenbringen der Parteien für eine Etablierung des Dialogs behilflich. Als Ergebnis unserer Anstrengungen sind die Außenminister der Ukraine und Russlands unter Teilnahme unseres Außenministers in Antalya zusammengekommen. Dass ein solches Treffen in einer Zeit, in der Krieg geführt wird, ausgerichtet werden kann, ist ein wichtiger Erfolg der Diplomatie. In Bezug auf einen dauerhaften Waffenstillstand werden wir unsere Bemühungen unermüdlich fortsetzen.

Werte Angehörige der Presse, bei unseren heutigen Gesprächen haben wir viele bilaterale und regionale Themen auf unserer Tagesordnung erörtern können. In diesen schwierigen Zeiten glauben wir daran, dass bestehende hochrangige Konsultationsmechanismen mit Deutschland belebt werden müssen. Es ist in unserem Interesse, diesbezüglich nun natürlich auch von deutscher Seite auf dieser hohen Ebene baldmöglichst auch den strategischen Mechanismus, sprich, den Konsultationsmechanismus zusammenzurufen.

Es ist im Interesse von uns G20-Ländern, dass wir unsere Wirtschaftspartnerschaft in der neuen globalen Ordnung noch weiter vorantreiben. Deutschland ist als Handelspartner der Türkei Nummer eins bei den Exporten und Nummer zwei bei den Importen. Unser bilateraler Handel betrug 2020 38 Milliarden Dollar und 2021 über 41 Milliarden Dollar. Ich habe Herrn Bundeskanzler auch gesagt, dass wir hoffen, dass wir bilateralen Handel auf einen Stand von 50 Milliarden Dollar anheben können. Ich glaube daran, dass die Intensivierung der Zusammenarbeit auch im Bereich der erneuerbaren Energien, der Bekämpfung des Klimawandels, des „Green Deal“, der künstlichen Intelligenz, der Digitalisierung dies weiter vereinfachen wird, auch entsprechend der Zielsetzung.

Eine wichtige Komponente unserer Beziehungen stellt auch die menschliche Dimension dar. Im Tourismus versuchen wir, in diesem Jahr die Zahlen der Vorpandemiezeit zu erreichen. Wie bekannt, ist Russland Nummer eins im Bereich des Tourismus, und Deutschland steht an zweiter Stelle. Das sind sehr wichtige Beziehungen, die wir haben. Wir wollen natürlich auch mit dieser Entschlossenheit weitermachen.

Wir betrachten die drei Millionen zählende türkische Gemeinde als eine gemeinsame Bereicherung, die unsere Länder noch näher zusammenbringt. Im Oktober vergangenen Jahres haben wir den 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen der Türkei und Deutschland begangen. Dieser Jahrestag war ein guter Anlass, um den Beitrag der Türken, die zum Aufschwung Deutschlands, zu Multikulturalität und zum Werden eines Landes in Wohlstand beigetragen haben, noch einmal zu würdigen. Uğur Şahin und Özlem Türeci haben diesbezüglich natürlich auch für die Türkei eine sehr wichtige Stelle eingenommen und sind für uns ein Stolz gewesen. Ich darf ihnen noch einmal zu ihrem Erfolg in diesem Bereich gratulieren. Von daher werden wir die Türken in Europa, die Europatürken, in jeder Hinsicht und in allen Bereichen weiterhin unterstützen.

Werte Angehörige der Presse, wir finden es wichtig, in regionalen Themen mit Deutschland eng zusammenzuarbeiten. Die letzten Entwicklungen in unserer Region haben die Schlüsselrolle der Türkei bestätigt, allen voran im Bereich der Sicherheit und der Energie.

Unzweifelhaft ist Deutschland eines der führenden Länder in der EU. Ich glaube daran, dass die konstruktive Haltung und Unterstützung unserer deutschen Freunde bei Fortschritten in den Türkei-EU-Beziehungen weitergehen werden.

Wenn es um Ausbildung und Studium geht, ist die Türkisch-Deutsche Universität in Istanbul natürlich ein sehr wichtiges Sprungbrett für uns. Das habe ich auch mit Herrn Bundeskanzler besprochen. Ich habe von daher das Angebot gemacht, die Einrichtung einer theologischen Fakultät an dieser Universität, aber gleichzeitig auch eines Standbeins, eines Pendants in einem Bundesland in Deutschland zu ermöglichen. Das steht auch im Gründungsvertrag dieser Universität. Wenn wir diesen Schritt tun, die Errichtung eines deutschen Standbeins dieser Universität, dann wird es auch im Bereich der Theologie die Möglichkeit geben, diesbezügliche Bedarfe zu decken. In dem Zusammenhang hat Herr Bundeskanzler auch zugesagt, dies zu bewerten und entsprechende Schritte zu unternehmen. Ich habe zwei meiner Kollegen beauftragt. Herr İbrahim Kalın wird weitermachen und mit ihm zusammen Herr Çağatay Kılıç, unser Abgeordneter. Zusammen mit Herrn Kalın wird er diese Arbeit vorantreiben. Gleichzeitig hat Herr Bundeskanzler auch zugesagt, zwei Beauftragte zu benennen, die vielleicht während des Essens vorgestellt werden.

Vielen Dank.

BK Scholz: Schönen Dank für die Gelegenheit, hier zu sein. Ich freue mich, dass ich das erste Mal als Bundeskanzler in der Türkei sein kann, und ich bin Ihnen sehr dankbar dafür, dass wir diesen freundlichen Austausch miteinander hatten. Sie haben gemerkt, dass wir sehr lange zu zweit miteinander gesprochen haben. Das ist ein Zeichen dafür, dass es viel zu bereden gibt, aber auch dafür, dass es Sinn macht und dass wir das sehr kooperativ miteinander tun können.

Wir treffen uns in einer Zeit, in der Krieg in Europa herrscht. Das hat sich wahrscheinlich keiner von uns vorstellen mögen, obwohl man die Gefahren auch in den letzten Jahren immer wieder hat sehen können. Der russische Überfall auf die Ukraine geht unvermindert weiter. Furchtbare Bilder und Nachrichten über sehr schlimmes Leid erreichen uns aus dem Osten unseres Kontinents. Wir alle ‑ dabei geht es uns beiden nicht anders als vielen Bürgerinnen und Bürgern unserer Länder ‑ hängen vor den Fernsehapparaten, schauen uns die Bilder an und machen uns Sorgen um die Menschen, die ihr Leben verlieren, die Familien, die auseinandergerissen werden, und die Zerstörungen, die in der Ukraine stattfinden.

Wir beide, Präsident Erdoğan und ich, sind uns völlig einig in der Verurteilung des gewaltsamen militärischen Vorgehens Russlands in der Ukraine. Wir sind uns auch darin völlig einig, dass es so schnell wie möglich einen Waffenstillstand geben muss. Denn das ist jetzt wichtig, damit nicht weiteres Menschenleben gefährdet wird. Es muss sichere Korridore für Zivilisten geben, damit sie sich unbeschadet aus den gefährdeten Orten herausbegeben können. Auch das muss sofort geschehen. Aber wir sollten uns immer wieder klarmachen, dass mit jedem Tag, mit jeder Bombe Russland mehr aus dem Kreis der Weltgemeinschaft entfernt, die wir miteinander bilden.

Deswegen unser gemeinsamer klarer Appell an den russischen Präsidenten: Halten Sie inne! Für diesen Konflikt kann es nur eine diplomatische Lösung geben.

Vor diesem Hintergrund sind die intensiven Gespräche zwischen der Ukraine und Russland natürlich sehr wichtig. Wir beide haben uns darüber ausgetauscht, was wir aus unseren Gespräche mit Präsident Selensky, aber auch mit Präsident Putin wissen. Ich selbst habe viele Gespräche mit dem russischen Präsidenten geführt, auch gemeinsam mit dem französischen Präsidenten. Ich habe mich immer wieder intensiv mit Präsident Selensky beraten. Es ist ganz wichtig, dass wir alles dafür tun, dass solche Gespräche nicht abreißen, sondern fortgesetzt werden. Aber wir müssen dafür Sorge tragen, dass auch bald Ergebnisse erzielt werden, die einen Waffenstillstand ermöglichen.

Ich begrüße auch die Bemühungen unserer türkischen Verbündeten, die zu einer diplomatischen Lösung beitragen wollen. Es ist gut, dass es hier Gespräche zwischen dem russischen und dem ukrainischen Außenminister gegeben hat. Das hilft. Alles hilft, was jetzt Gespräche möglich macht. Das ist wichtig und verdienstvoll.

Wir leisten alle gemeinsam tatkräftige Hilfe für die Hunderttausenden und Millionen, die auf der Flucht sind. Wir wissen, dass in Polen schon mehr als 1,7 Millionen Flüchtlinge angekommen sind, dass es in Ländern wie Deutschland auch schon weit über 100 000 sind. Auch in der Türkei sind viele Flüchtlinge angekommen. Türkische Staatsbürger konnten aus der Ukraine herausgebracht werden, aber auch viele Ukrainerinnen und Ukrainer und viele Angehörige von Drittstaaten halten sich hier auf. Wir sind jetzt alle gemeinsam mit der Aufgabe versehen, dafür zu sorgen, dass sich die Dinge dort anders entwickeln können.

Wir wollen mit finanzieller Hilfe, mit humanitärer Hilfe, mit all dem, was wir ‑ die Türkei, aber auch Deutschland ‑ an Waffenhilfe geleistet haben, dafür Sorge tragen, dass sich die Ukraine selbst verteidigen kann.

Ich will an dieser Stelle ausdrücklich erwähnen, dass die Schließung der Bosporus-Durchfahrt für Kriegsschiffe der Krieg führenden Parteien durch die Türkei im Rahmen der Anwendung der Montreux-Konvention ein ganz wichtiger Beitrag zur Deeskalation der aktuellen Krise ist. Dafür danke ich ausdrücklich. Jetzt geht es, wie gesagt darum, dass schnell ein Waffenstillstand vereinbart wird und dass es eine Möglichkeit gibt, aus diesem Krieg herauszukommen.

Es ist richtig, gemeinsam festzuhalten, dass die territoriale Integrität und die Souveränität außer Frage stehen und dass die Verletzung des Souveränitätsrechts der Ukraine eine außerordentliche Verletzung des europäischen Rechts und des Friedens in Europa ist. Natürlich hat das Konsequenzen. Deshalb ist es wichtig, dass wir in der NATO zusammenarbeiten. Wir haben uns sehr sorgfältig über die veränderte Sicherheitssituation besprochen.

Ich habe darüber informiert, dass NATO-Staaten ihre konkrete Präsenz entlang der Ostgrenze der NATO, im Baltikum, in der Slowakei ‑ was Deutschland betrifft, mit dem Air Policing über Rumänien ‑ verstärken. Die Türkei leistet in dieser Situation ebenfalls einen Beitrag Wir werden das auch in Zukunft tun.

Wir haben nicht überhört, was wir verstehen müssen, dass nämlich der gewaltsame Bruch des Rechts, den Russland hier vornimmt, bedeutet, dass wir selbst sicher und stark genug sein müssen. Deshalb ist es so wichtig, dafür zu sorgen, dass unsere Verteidigung gut funktioniert. Sie wissen, dass sich Deutschland entschlossen hat, einen zusätzlichen Fonds von 100 Milliarden Euro aufzulegen, um die Bündnis- und Verteidigungsfähigkeit unseres Landes zu stärken und dafür zu sorgen, dass wir in der Lage sind, die Sicherheit zu garantieren, die wir gemeinsam garantiert wissen wollen.

Wir haben uns auch über wirtschaftliche Kooperation unterhalten. In der Tat ist hierbei viel möglich. Die gute Entwicklung der wirtschaftlichen Beziehungen hat der Präsident bereits erläutert. Aus meiner Sicht geht noch mehr. Deshalb haben wir schon vereinbart, dass wir konkrete Gesprächsformate etablieren, in denen wir diese Weiterentwicklung möglich machen wollen. Das ist im beiderseitigen Interesse.

Eine wichtige Rolle nicht nur zwischen Deutschland und der Türkei, sondern auch zwischen der Europäischen Union und der Türkei spielt die Energiekooperation. Sie wissen, dass sich Deutschland das ehrgeizige Ziel gesetzt hat, in einer sehr kurzen Frist von nicht ganz 25 Jahren aus der Nutzung fossiler Ressourcen auszusteigen. Das bedeutet, dass wir die Stromerzeugung aus erneuerbaren Quellen ‑ Windkraft auf hoher See und an Land sowie Sonnenenergie ‑ ausbauen, unser Stromnetz stärken und dass wir Wasserstoff importieren werden. Das ist eine Aufgabe, bei der wir dauerhaft mit anderen kooperieren müssen. Wasserstoff kann man zwar national herstellen; aber man braucht, wenn man ein so großes Industrieland wie Deutschland ist, auch Importe. Insoweit sind künftig viele, die auch bisher schon ‑ auch als Importeure ‑ mit Energie zu tun hatten, gefragt. Dabei geht es um erneuerbare Ressourcen. Auch diesbezüglich wünschen wir uns eine gute Zusammenarbeit.

Gleichzeitig brauchen wir eine Diversifizierung der Energieversorgungsinfrastruktur in Europa, was die Gas-, Öl- und Kohleversorgung aus anderen Quellen als Russland betrifft, damit wir nicht in einer Situation der Abhängigkeit verbleiben, sondern uns Stück für Stück die notwendige Souveränität für eigene Entscheidungen schaffen, ganz gleich, wie sich die geopolitischen Verhältnisse entwickeln. Hierbei bestehen Möglichkeiten der Zusammenarbeit zwischen der Türkei und Europa genauso wie zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa und Möglichkeiten zum Beispiel durch die Errichtung von LNG-Terminals an den europäischen Küsten für den weltweiten Import, was Gas und die anderen fossilen Ressourcen betrifft. Das muss jetzt schnell geschehen, damit wir schnell diversifizieren. Langfristig besteht das Ziel, das ich beschrieben habe.

Für uns geht es jetzt darum, dass wir als demokratische westliche Staaten zusammenarbeiten. Unsere Kooperation in der NATO ist dafür eine wichtige Grundlage. Ich glaube, dass in diesen Tagen die transatlantischen Beziehungen noch einmal neu und stark an Gewicht gewonnen haben. Es ist gut, dass Nordamerika und das westliche Europa, die Europäische Union, die Staaten einschließlich der Türkei, die in der NATO versammelt sind, eng kooperieren und gemeinsam wissen, dass sie ihre Sicherheit und das, was ihnen wichtig ist, wenn es um Rechtsstaatlichkeit, um Demokratie und um Menschenrechte geht, verteidigen müssen.

Selbstverständlich bedeutet das auch, dass wir unsere regionalen Fragestellungen vorantreiben müssen, dass wir auch insoweit die Kooperation verbessern müssen. Ich bin sehr froh über die Gespräche, die Sie mit dem israelischen Staatspräsidenten Herzog und aktuell mit dem griechischen Regierungschef Mitsotakis geführt haben. Das sind gute Zeichen für das, was wir in Europa und in unserer Zusammenarbeit weiterentwickeln müssen.

Die EU und die Türkei arbeiten zusammen. Es gibt Dinge, die wir uns für die Zukunft vorgenommen haben. Dazu gehören die hochrangigen Dialoge. Wir wollen uns auch für die Weiterentwicklung der Zollunion einsetzen und hoffen, dass bald greifbare Fortschritte verhandelt werden können.

Es geht auch um unsere unveränderte Zusammenarbeit bei der Migration und bei der Aufgabe, Menschen, die flüchten, Schutz zu bieten. Diese Kooperationsbeziehung ist wichtig. Am Beispiel der Ukraine sehen wir aktuell, dass die Themen immer wieder neu auftreten. Sie sind nicht ein für allemal erledigt. Vielmehr wird es, solange die Welt so gewalttätig ist, wie wir sie kennen, auch Menschen geben, die fliehen, die sich ein neues Zuhause suchen, die sich in Sicherheit bringen. Daher haben wir aus humanitären Gründen eine Verpflichtung, der wir folgen müssen.

Wir haben gute bilaterale Beziehungen, und wir brauchen auch gute bilaterale Beziehungen. Das ist ganz besonders wichtig, weil es in Deutschland viele Bürgerinnen und Bürger gibt, die einen türkischen Hintergrund haben, weil entweder sie selbst oder ihre Eltern oder Großeltern aus der Türkei nach Deutschland eingewandert sind. Unsere deutschen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger mit diesem Hintergrund sind heute ein ganz lebendiger Teil unserer Bürgerschaft. Ich freue mich, dass es auch in der Bundesregierung und im Bundestag viele türkischstämmige Männer und Frauen gibt, die jetzt als Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland, als Deutsche, die politischen Geschicke unseres Landes tatkräftig mitgestalten.

Wir sind, wie gesagt, auch wirtschaftlich eng miteinander verbunden. Gleiches gilt für unsere bilateralen Beziehungen, und wir wollen, wie wir beide schon ausgeführt haben, auch diese weiter verbessern.

Natürlich gibt es ‑ das gehört zu den Dingen, die gesagt werden müssen, dazu ‑ auch Differenzen, Belastungen, und wir haben unterschiedliche Ansichten, wenn es etwa um Fragen der Menschenrechte und der Rechtsstaatlichkeit oder um die Perspektiven deutscher Staatsangehöriger in der Türkei, die mit Hausarrest, Ausreisesperren belegt sind oder sich gar in Haft befinden, geht. Hier hat es in letzter Zeit etwas Bewegung gegeben. Wir hoffen, dass es für viele Fälle eine baldige Lösung geben wird. Auch darüber haben wir gesprochen.

Wir wollen unsere bilateralen Beziehungen nach Kräften ausbauen und die gewaltigen Potenziale unserer Zusammenarbeit voll ausschöpfen. Dafür steht meine Regierung. Nach dem Gespräch, das wir miteinander geführt haben, glaube ich, wir beide stehen dafür, das miteinander zu schaffen.

Lieber Herr Staatspräsident, nochmals herzlichen Dank für den Empfang heute, für das gute, ausführliche und wirklich konstruktive Gespräch. Ich freue mich ausdrücklich sehr über die weitere Zusammenarbeit.

P Erdoğan: Vielen Dank, Herr Bundeskanzler, für diese aufrichtigen, ehrlichen Worte und Bewertungen. Für beide Länder sind das sehr wichtige Bewertungen.

Unser Gespräch ist tatsächlich in einer sehr herzlichen Atmosphäre verlaufen. In einer vorbereitenden Phase werden unsere Kolleginnen und Kollegen daran arbeiten, dass wir die Möglichkeit haben, im Rahmen hochrangiger Gespräche zusammenzukommen.

Wir werden jetzt jeweils zwei Fragen von den Journalisten beiderseits, zunächst von unseren Gästen aus Deutschland, entgegennehmen. - Bitte sehr, die Presse aus Deutschland. - Ja, das erste Wort hat die deutsche Presse.

Frage: Herr Präsident Erdoğan, Sie haben von engerer militärischer Kooperation gesprochen, der Bundeskanzler hat davon gesprochen, dass NATO-Partner zusammenstehen müssen. Was bedeutet das für Sie in dieser Situation? Wie lange noch werden Sie weiter Rüstungsgüter aus Russland beziehen? Haben Sie insoweit Wünsche an den Bundeskanzler geäußert, und werden Sie sich westlichen Sanktionen anschließen?

Herr Bundeskanzler Scholz, was ist Ihnen in dieser Lage eigentlich lieber - dass sich die Türkei Sanktionen anschließt oder dass sie neutral bleibt, offener bleibt in Richtung Moskau, um womöglich für künftige Gespräche zwischen dem russischen und dem ukrainischen Präsidenten infrage zu kommen und eventuell als Mediator zu agieren?

P Erdoğan: Vielleicht zu Ihrer Information: Wenn wir „militärisch“ sagen, dann betrifft das natürlich die Zusammenarbeit innerhalb der NATO. Was ist das für eine Zusammenarbeit? Das ist eine militärische Solidarität, die sich im Rahmen dieser Allianz darstellt. Von schweren Waffen bis hin zu Flugzeugen gibt es ja in der NATO die Möglichkeit, diese zu nutzen. Wir sind zusammen mit Deutschland in der NATO, zwei wichtige Verbündete, zwei wichtige Partner. Folglich ist es ja auch möglich, dass wir das gemeinsame aufgreifen und bewerten, insbesondere in dieser Phase. Als zwei NATO-Ländern stellt sich uns dann natürlich auch die Frage: Was können wir gemeinsam tun? Welche Bedarfe haben wir, die wir decken können? - Das haben wir natürlich bewertet und besprochen.

Bezüglich Waffen aus Russland, zu diesem Punkt oder dieser Frage, die Sie ja gestellt haben: Bis heute sind das Waffen, die wir gekauft haben, und natürlich ist es mit Blick auf die Zukunft vielleicht noch zu früh dafür, etwas dazu zu sagen, was das bringen wird. Das heißt, man muss sehen, was die Konditionen bzw. Voraussetzungen mit sich bringen. Ich habe es schon einmal in einer Pressekonferenz gesagt: Mit Herrn Selensky, aber auch mit Herrn Putin werden wir unsere Freundschaft weiterhin bewahren, und das müssen wir tun.

In Bezug auf die Sanktionen: Was im Rahmen der Regeln der Vereinten Nationen erforderlich ist, haben wir bislang getan. Das, was die NATO-Verbündeten trotz Russlands (Vorgehen) gegenüber der Ukraine bislang nicht gemacht haben, haben wir gemacht. Wir haben unsere Unterstützung gezeigt, auch unsere humanitäre Unterstützung, die wir leisten. Mehr als 50 Lkws voll humanitärer Hilfe haben wir in die Ukraine geschickt und werden das auch weiterhin tun.

BK Scholz: Vielen Dank. – Es ist jetzt meine Sache, für Deutschland zu sprechen. Trotzdem glaube ich, dass ich sagen kann: Die Türkei hat sich klar gegen diesen Krieg gegen die Ukraine ausgesprochen und hat auch die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine verteidigt. Sie liefert ja sogar Waffen und nicht nur humanitäre Hilfe. Insofern, glaube ich, muss das immer mit im Blick sein, wenn wir über die Frage diskutieren, was jetzt gemacht wird.

Ich glaube, dass es richtig ist, dass sich die Europäische Union, Deutschland, die USA und viele andere Freunde dazu entschlossen haben, sehr scharfe und präzise Sanktionen auf den Weg zu bringen. Sie tragen dazu bei, dass sich die Situation dramatisch anders darstellt, als Russland es wahrscheinlich erwartet hat. Die wirtschaftlichen Konsequenzen dieser Sanktionen sind sehr weitgehend, und sie sind überall im Alltag Russlands zu spüren. Die wirtschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten Russlands sind unmittelbar bedroht.

Das alles machen wir natürlich, um das zu erreichen, worum es jetzt zuallererst geht, nämlich erst einen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges und dann eine Vereinbarung, die aus Perspektive der Ukraine auch tatsächlich gezeichnet und unterzeichnet werden kann. Das dürfen wir nicht vergessen: Wir sind nicht diejenigen, die stellvertretend für die Ukraine verhandeln. Wenn wir mit Putin sprechen, dann tun wir das immer  ‑das gilt für mich, für den französischen Präsidenten, ich habe den türkischen Präsidenten gleichermaßen so verstanden, und das gilt für den israelischen Regierungschef, mit dem ich sehr ausführlich gesprochen habe, sowie für viele andere ‑, um der Ukraine zu helfen. Aber sie muss über ihre eigene Zukunft und darüber, was zu vereinbaren richtig und falsch ist, selbst entscheiden. Das kann niemand stellvertretend tun. Das wäre völlig falsch und nicht in Ordnung. Es geht um die Ukraine, ihr Land, ihre Perspektiven.

Was aber klar ist, ist, dass ein Gerücht endgültig beseitigt gehört: Die Ukraine ist eine Nation. Sie steht zusammen, und zwar egal, welche Sprache die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine sprechen. Sie wollen ihr Land verteidigen, und das tun sie jeden Tag.

Frage: Lieber Herr Scholz, Ihrer Vorgängerin wurde ja gelegentlich vorgeworfen, dass sie aufgrund des Flüchtlingsabkommens beim Thema der Menschenrechte in der Türkei beide Augen verschlossen habe. Wie wollen Sie das in Zukunft machen? Wollen Sie da die Zügel härter anziehen oder dann vielleicht sogar bei Waffenexporten öfter einmal grünes Licht geben?

Jetzt eine Frage, die an beide gerichtet ist: Der türkische Staat will der Voice of America und der Deutschen Welle eine Lizenz aufzwingen. Die Sender befürchten, dass das zu Zensur führt. Wie sehen Sie das, Herr Scholz, und was sagen Sie dazu, Herr Präsident Erdoğan?

BK Scholz: Schönen Dank für diese Frage. – Zunächst einmal tun Sie meiner Vorgängerin völlig Unrecht. Sie hat bei Menschenrechtsfragen niemals die Augen zugedrückt. Eine solche Bewertung kann ich nicht akzeptieren, und da muss ich Frau Bundeskanzlerin Merkel in Schutz nehmen. Das ist nicht wahr.

Was wir als Europäische Union gemacht haben, und dafür hat sich Deutschland sehr eingesetzt, ist, mit der Türkei ein Abkommen über die Kooperation in der Frage der Fluchtmigration zu schließen, die sich nach den furchtbaren Kriegen gestellt hat, die woanders stattgefunden haben und durch die viele Menschen in die Türkei gekommen sind. Das dürfen wir an dieser Stelle nie beiseitelassen und sollten wir auch immer gemeinsam wissen. Sehr viele Millionen Flüchtlinge sind in der Türkei und haben dort eine Perspektive gefunden, zumindest eine Bleibe. Das Abkommen, dass wir miteinander abgeschlossen haben, hat auch damit zu tun, dass wir der türkischen Republik die Möglichkeit geben, dieser großen Herausforderung auch gerecht zu werden, Schulzugang zu ermöglichen, Wohnungen zu ermöglichen, Arbeitsplatzperspektiven zu ermöglichen. Das wird in diesen Fragen ganz konkret bewertet. Deshalb geht es bei diesem Abkommen um etwas, das Flüchtlingen nutzen soll. Das ist die Perspektive dahinter. So habe ich das immer gesehen, so hat es auch meine Vorgängerin immer gesehen, und so sah es auch die Europäische Union, als sie diese Verträge abgeschlossen hat. Sie sind wichtig und sind ein Fall der Kooperation.

Wenn Sie mir diese Bemerkung erlauben: Wir haben aus meiner Sicht ohnehin die Aufgabe, dass wir uns nicht immer nur dann um Flüchtlinge kümmern, wenn sie in unseren Ländern angekommen sind, sondern dass wir unsere Verantwortung auch erkennen, wenn es woanders auf der Welt große Fluchtmigrationsprobleme gibt, und zwar nicht nur wie hier unmittelbar in unserer Nachbarschaft, sondern zum Beispiel auch irgendwo in Afrika. Da können wir nicht einfach zusehen und sagen „Das interessiert uns nicht, solange niemand bei uns an die Tür klopft“, sondern da müssen wir unsere Verantwortung auch wahrnehmen. In diesem Sinne brauchen wir solche Abkommen, wie wir sie eben als EU mit der Türkei geschlossen haben.

Ansonsten ist klar, und ich habe das bereits angesprochen: Wir unterstützen die Deutsche Welle. Ich habe auch im Gespräch mit dem Präsidenten ihre freie und ungehinderte Möglichkeit der Berichterstattung erwähnt. Das zu gewährleisten, ist unser Ziel.

P Erdoğan: Jetzt die Fragen von der türkischen Seite!

Frage: Herr Scholz, bei Ihrer Rede sprachen Sie nach dem Angriff Russlands auf die Ukraine eben von einer neuen Situation im Rahmen der NATO. Deutschland hat ja in der Zeit insbesondere im Bereich bestimmter militärischer Materialien, die sozusagen nicht an die Türkei verkauft werden ‑ ‑ ‑ Es gibt sozusagen ein verdecktes Embargo. Werden Sie Schritte unternehmen, damit diese Embargos aufgehoben werden?

BK Scholz: Schönen Dank für die Frage. – Wir arbeiten innerhalb der NATO alle eng miteinander zusammen. Dafür habe ich ein paar Beispiele aufgeführt. Auch der türkische Präsident hat das eben gemacht. Diese Zusammenarbeit wird ja wichtiger. Ich habe schon geschildert, dass wir zum Beispiel unsere Aufgaben im Rahmen der Enhanced Forward Presence an der NATO-Ostflanke verstärkt wahrnehmen, und ich habe Ihnen auch berichtet, dass Deutschland seine eigene Verteidigungsfähigkeit, die ohnehin hoch ist, noch einmal weiter stärken wird. Wir sollten nicht vergessen: Es geht ja ohnehin um eine Verteidigungsmöglichkeit einer Bundeswehr, für die wir im Haushalt für die NATO 50 Milliarden Euro aufwenden, was ein großer Betrag ist. Das wird jetzt noch einmal durch die Möglichkeiten verstärkt, die wir mit unserem Sondervermögen schaffen wollen.

Es gibt kein Embargo. Es gibt eine restriktive Rüstungskontrollpolitik, die Deutschland seit vielen, vielen Jahren hat. Die führt ‑ egal, wer gerade regiert hat ‑ natürlich dazu, dass wir alle Einzelfälle betrachten, und das tun wir auch immer wieder neu. Aber das ist ja im Grunde durch Gesetz festgelegt. Insofern ist das der Rahmen, in dem wir uns bewegen.

P Erdoğan: Bitte die zweite Frage von türkischer Seite!

Frage: Ich habe auch eine Frage an Herrn Bundeskanzler Scholz. In Ihrer Rede sprachen Sie zusammen mit der humanitären Hilfe auch militärische Hilfe gegenüber der Ukraine an. Aber der deutsche Botschafter hat diesbezüglich sozusagen gesagt, dass eine militärische Hilfe abgelehnt worden wäre. Es gab eine ähnliche Erklärung, nämlich dass Deutschland diese Waffenhilfe über die NATO sozusagen verhindert habe. Was sagen Sie dazu?

BK Scholz: Viele NATO-Partner und eben auch Deutschland haben jetzt Hilfe geleistet, nicht nur in humanitärer und finanzieller Hinsicht, sondern eben auch im Hinblick auf die Selbstverteidigungsfähigkeit der Ukraine. Ich will es gerne noch einmal sagen: Die finanzielle Unterstützung Deutschlands für die Ukraine in den Jahren seit 2014 ist der größte zivile Finanzierungsbeitrag, den ein einzelnes Land geleistet hat. Wir fühlen uns dem auch weiter verpflichtet und werden das sowohl im Rahmen der Europäischen Union als auch bilateral weiter machen. Viele haben jetzt auch mit Selbstverteidigungswaffen geholfen, zum Beispiel Panzerabwehrwaffen und ähnlichen Systemen, Deutschland auch.