„Die Krise hat gezeigt, wozu Deutschland in der Lage ist“

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Interview des Kanzlers mit der Bild am Sonntag „Die Krise hat gezeigt, wozu Deutschland in der Lage ist“

Im Interview mit der Bild am Sonntag erklärt Bundeskanzler Scholz, wie sich Deutschland international abstimmt, um der Ukraine zu helfen. Außerdem erläutert der Kanzler, wie viele Windräder Deutschland in den nächsten Jahren bauen wird. 

8 Min. Lesedauer

Bundeskanzler Scholz im Interview mit der Bild am Sonntag.

Bundeskanzler Scholz im Interview mit der Bild am Sonntag.

Foto: Bundesregierung/Steins

Herr Bundeskanzler, woran mangelt es in Deutschland?

Bundeskanzler Olaf Scholz: Deutschland ist ein Land mit einer großen wirtschaftlichen Leistungskraft und einem sehr gut funktionierenden Sozialstaat. Es mangelt uns aber  etwas an Tempo. Wir brauchen mehr Schwung bei Innovationen und für die Modernisierung unserer Industrie, damit wir 2045 klimaneutral wirtschaften können.

Vorher müssen Sie sich allerdings noch um den Mangel bei der Bundeswehr kümmern. Der Inspekteur des Heeres warnt, seine Truppe steht blank da. Hat er recht?

Seine Warnung ist knapp ein Jahr alt, seither ist viel passiert. Gleich nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine habe ich ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro auf den Weg gebracht, damit die Bundeswehr nach vielen Jahren des Sparens wieder ordentlich ausgestattet wird. Und wir werden nun dauerhaft zwei Prozent unserer Wirtschaftsleistung in unsere Streitkräfte investieren, denn die Sicherheitslage in Europa hat sich massiv verändert. Mir ist wichtig: Die Bundeswehr ist eine großartige Truppe, die für die Sicherheit unseres Landes sorgt. Wenn es darum geht, mögliche Angriffe auf Nato-Territorium in Europa abzuwehren, spielt die Bundeswehr mit ihrer konventionellen Kampfkraft eine wichtige Rolle.

Toll, dass Geld da ist. Aber es dauert doch ewig, bis die bestellten Panzer bei Truppe ankommen. Wie wollen Sie das beschleunigen?

Panzer lassen sich nicht wie ein Neuwagen einfach beim Händler bestellen, denn die Geräte stehen nirgendwo abholbereit herum. Der Staat muss sich mit der Industrie auf langfristige Lieferverträge verständigen, damit die Hersteller in eine dauerhafte Produktion investieren. Und beim Kauf von Waffensystemen geht es seltener um Sonderanfertigungen, sondern öfter um Systeme „von der Stange“ – das beschleunigt die Beschaffung.

Großbritanniens Ex-Premier Boris Johnson hat erzählt, dass Putin ihm persönlich am Telefon gedroht hätte. Hat Putin so etwas auch zu Ihnen gesagt?

Nein, Putin hat weder mir gedroht noch Deutschland. In unseren Telefonaten werden unsere sehr unterschiedlichen Standpunkte auf den Krieg in der Ukraine sehr klar. Ich mache Putin sehr deutlich, dass Russland die alleinige Verantwortung für den Krieg hat. Grundlos hat Russland sein Nachbarland überfallen, um sich Teile der Ukraine oder das ganze Land unter den Nagel zu reißen. Das können wir nicht einfach so hinnehmen, denn es verstößt fundamental gegen die europäische Friedensordnung.  Deshalb unterstützen wir die Ukraine finanziell und humanitär, und auch mit Waffen.

Putin behauptet, dass „wieder deutsche Panzer" Russland bedrohen würden. Steigt durch die Lieferung von Leopard-2-Panzern die  Gefahr für Deutschland?

Seine Worte stehen in einer Reihe abstruser historischer Vergleiche, die er nutzt, um seinen Angriff auf die Ukraine zu rechtfertigen. Dieser Krieg ist aber durch nichts zu rechtfertigen. Russland führt einen erbarmungslosen Krieg gegen die Ukraine. Gemeinsam mit unseren Verbündeten geben wir Kampfpanzer an die Ukraine ab, damit die sich verteidigen kann. Jede Waffenlieferung haben wir sorgfältig abgewogen, eng mit unseren Verbündeten koordiniert, allen voran mit Amerika. Dieses gemeinsame Vorgehen verhindert eine Eskalation des Krieges.

Ihnen wird bei den Waffenlieferungen an die Ukraine ein Mangel an Mut und ein Übermaß an Zaudern unterstellt. Wie sehr ärgert Sie das?

Die meisten Bürgerinnen und Bürger hoffen, dass ihr Bundeskanzler sich von solchen Kommentaren nicht beeindrucken lässt. Ich habe einen Amtseid geschworen, nehme ihn sehr ernst und kann ihnen versichern: Wir behalten die Nerven und werden auch in Zukunft alle Entscheidungen sehr sorgfältig abwägen. Alles andere wäre leichtsinnig und brandgefährlich.

Gibt es eine Absprache mit Selenskyj, dass Waffen aus dem Westen nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden und Russland damit nicht auf seinem Gebiet angegriffen wird?

Darüber besteht Konsens.

Die Ukraine will in die EU, am liebsten bis Ende 2024. Halten Sie das für realistisch?

Es war ein starkes Signal, dass wir Moldau und die Ukraine vergangenen Sommer zu Beitrittskandidaten gemacht haben. Jeder Kandidat muss die nötigen Kriterien erfüllen, um EU-Mitglied zu werden – da geht es um Fragen der Rechtsstaatlichkeit, von Demokratie, Achtung der Menschenrechte und der Bekämpfung von Korruption.

Es gibt keinen Kriegsbonus für die Ukraine?

Die Voraussetzungen zum Beitritt sind für alle gleich. 

Wie steht eigentlich Deutschland jetzt, ein Jahr nach Kriegsbeginn, da?

Unser Land ist deutlich besser durch diese schwierige Zeit gekommen als viele befürchtet haben. Ich erinnere mich an manches Horrorszenario, das zu lesen war: Von einem Wutwinter mit Massenprotesten, von kalten Wohnungen und frierenden Menschen in Deutschland, von einer Wirtschaftskrise ungeahnten Ausmaßes. Die gute Nachricht ist: All das ist nicht eingetreten. Die Bundesregierung hat sich mit viel Kraft entschlossen gegen die drohende Krise gestemmt – und sie abgewendet. Wir haben Hilfspakete mit einem Volumen von 300 Milliarden Euro geschnürt, damit Unternehmen, Bürgerinnen und Bürger mit den hohen Gas- und Strompreisen zurecht kommen könne, haben neue LNG-Terminals an den norddeutschen Küsten in Rekordzeit gebaut und neue Lieferverträge geschlossen, nachdem Russland seine Gaslieferungen eingestellt hatte. Die Krise hat gezeigt, wozu Deutschland in der Lage ist.

Geben Sie auch für den kommenden Winter Entwarnung?

Wenn nichts Unvorhergesehenes passiert, bin ich zuversichtlich, was den nächsten Winter betrifft. Wir werden jetzt aber den Schwung der vergangenen Monate nutzen, das Deutschland-Tempo, um beim Ausbau von Windkraft und Solarenergie richtig voranzukommen, damit wir weniger abhängig werden vom Import von fossilem Gas, Kohle oder Erdöl. 

In 2022 wurden kaum zusätzliche Windräder gebaut. Wie viele müssen denn in diesem Jahr geschafft werden, damit die Energiewende klappen kann?

Den Ausbau gehen wir generalstabsmäßig an: Gerade erstellen wir einen Fahrplan, was bis wann an neuen Anlagen gebaut sein muss, damit wir unsere Ziele für 2030 erreichen. Jeden Monat wird es dann ein Gespräch mit den Ländern geben, wie weit sie damit vorangekommen sind. Was nicht pünktlich geschafft wird, muss aufgeholt werden. Bis 2030 werden das im Schnitt 4 bis 5 Windräder an Land jeden Tag sein.  

Den Klimakleber reicht das alles nicht, sie wollen ab Montag Deutschland lahm legen. Wie viel Verständnis haben Sie für diese Art von Protest?

Sehr viele Bürgerinnen und Bürger schütteln den Kopf über solche Aktionen. Ich auch. Sie sind kontraproduktiv.

Bayer will sein Pharmageschäft in die USA und China verlagern, Linde hat den DAX verlassen, Biontech denkt darüber nach, mit der Krebssparte nach Großbritannien zu gehen. Der BDI warnt vor einer Deindustrialisierung Deutschlands. Ist das alles nur Panikmache?

So wie Sie es zusammenfassen, ja.

Aber?

Unsere Aufgabe für den Wirtschaftsstandort Deutschland ist klar: Mehr Tempo reinkriegen, Genehmigungen schneller machen. Das neue Deutschland-Tempo soll nicht nur für die Errichtung von LNG-Terminals gelten, sondern für alle Projekte. Und wir müssen die Digitalisierung und Datenverarbeitung voranbringen. Es kann doch nicht sein, dass deutsche Medizintechnikunternehmen die Daten der Krankenhäuser von Mexiko City nutzen, weil sie deutsche Daten nicht verwenden dürfen.

Wer sich dumm und duselig verdient, sind die Großkonzerne. Der Ölmulti Shell hat 2022 sagenhafte 40 Milliarden Dollar Gewinn gemacht. Auch für RWE, VW und BMW hat 2022 dicke Gewinne gebracht. Und was ist mit den Löhnen?

Es bleibt die Verantwortung von Arbeitgebern, dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gut durch diese Zeit kommen. Deshalb haben wir die Möglichkeit geschaffen, dass jede Firma ihren Beschäftigten jetzt eine Sonderzahlung von bis zu 3000 Euro geben kann, die steuerfrei und abgabenfrei ist. Viele Unternehmen haben davon Gebrauch gemacht. Ich kann die Wirtschaft nur ermuntern, dass weitere diesen Beispielen folgen.

Die Kinderarmut ist 2022 auf über 20 Prozent gestiegen. Ein Rekord. Ist das Ihr größtes Versäumnis im ersten Regierungsjahr?

Nein – gerade für die mittleren und unteren Einkommen haben wir viel getan. Klar ist aber, dass wir uns nicht abfinden wollen damit, dass in einem so reichen Land wie Deutschland Kinder in Armut leben. Deshalb erarbeiten wir gerade das Konzept einer Kindergrundsicherung. Sie wird dafür sorgen, dass alle Hilfen automatisch bei den Kindern ankommen – ohne viele Extra-Anträge der Eltern. Und wir bauen die Ganztagsbetreuung aus, damit Eltern arbeiten gehen können.

In der Realität reduzieren Kitas gerade überall in Deutschland ihre Öffnungszeiten, weil Erzieher fehlen.

Der Beruf der Erzieherin, des Erziehers muss attraktiver werden, damit mehr junge Leute diesen Beruf ergreifen – und ihm auch dauerhaft treu bleiben. Das gleiche gilt für Lehrerinnen und Lehrer, wo es ebenfalls einen großen Mangel gibt. Das bedeutet auch: Die Universitäten müssen ihre Kapazitäten schnell ausweiten.

Aber es fehlen doch überall Mitarbeiter. Woher wollen Sie die Fachkräfte nehmen?

Bis 2030 brauchen wir 6 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Dafür brauchen wir ein ganzes Bündel von Maßnahmen: Wir brauchen attraktivere Arbeitsbedingungen für Eltern mit kleinen Kindern, damit wir die Erwerbstätigkeit von Müttern und Vätern steigern. Beim Übergang von Schule in die Ausbildung müssen wir mehr Unterstützung organisieren. Und wer mit Mitte 50 seinen Job verliert, bekommt durch Qualifizierung die Chance, einen ähnlich gut bezahlten Job zu finden. All das allein wird aber nicht ausreichen, wir brauchen auch Fachkräfte aus dem nicht-europäischen Ausland. Dafür schaffen wir das modernste Zuwanderungsrecht. Noch in diesem Jahr werden wir die nötigen Gesetze beschließen. Ich bin zuversichtlich, dass die Zahl der Erwerbstätigen in Deutschland steigen wird und die Zuwachsraten unserer Wirtschaft auch.

Bei mehr Zuwanderung – müssen wir dann nicht auch über konsequentere Abschiebungen reden?

Wenn Deutschland Menschen Schutz garantiert, die verfolgt werden, müssen diejenigen, die diesen Schutz nicht beanspruchen können, wieder zurück in ihre Heimat gehen. Die Voraussetzung dafür ist, dass die Heimatländer ihre Landsleute auch wieder zurücknehmen, daran hapert es noch oft. Diese große Aufgabe müssen wir jetzt entschlossen lösen. Im Gegenzug eröffnen wir legale Wege, damit Fachkräfte aus diesen Ländern zu uns kommen können.

Das erzählt die Bundesregierung schon lange.

Wir reden nicht nur, sondern handeln: Seit dieser Woche gibt es einen eigenen Migrationsbeauftragten der Bundesregierung, Joachim Stamp. Seine Aufgabe ist es, solche Abkommen mit den Herkunftsländern aushandeln. 

Krieg, Inflation, Energie – Sie klingen trotz der Krisen sehr optimistisch.

Die Lage ist im Moment nicht einfach, und ich verstehe, dass sich viele Sorgen machen. Ich bin aber auch überzeugt, dass unser Land eine gute Zukunft vor sich hat. Das vergangene Jahr hat bewiesen, wozu wir fähig sind. Und wir wissen sehr genau, was jetzt zu tun ist: Ausbau von Windkraft und Solarenergie, Umbau der Industrie auf Klimaneutralität, und mehr sozialer Zusammenhalt. All das gehen wir jetzt an. Ich bin überzeugt: Deutschland geht gestärkt aus der Krise hervor.

Im Dezember sind Sie 25 Jahre mit Ihrer Frau Britta Ernst verheiratet. Was bedeutet Ihnen das?

Die Liebe zu meiner Frau ist das Wichtigste in meinem Leben. Ich freue mich sehr auf unsere Silberhochzeit.

Feiern Sie?

Ja, allerdings erst ein paar Tage später, weil der Bundesparteitag der SPD ausgerechnet auf unseren Hochzeitstag fällt.