- Bulletin 08-98
- 29. Januar 1998
Die Präsidentin des Deutschen Bundestages, Prof. Dr. Rita Süssmuth,
hielt in der Gedenkstunde des Deutschen Bundestages in Bonn am
27. Januar 1998 folgende Ansprache:
Herr Bundespräsident, Herr Bundeskanzler,
Herr Präsident des Bundesrates,
Frau Präsidentin des Bundesverfassungsgerichtes,
meine Damen und Herren Mitglieder der Bundesregierung,
meine Damen und Herren Ministerpräsidenten,
Exzellenzen,
liebe Kolleginnen und Kollegen des Deutschen Bundestages,
darunter auch die ehemaligen Bundestagspräsidenten und -vizepräsidenten,
sehr geehrter Herr Professor Bauer, der Sie gleich die
Gedenkrede halten werden,
verehrte Gäste,
liebe Schülerinnen und Schüler und Vertreter der Jugend,
wir gedenken heute im Deutschen Bundestag der Opfer des Nationalsozialismus.
Wir tun dies am 27. Januar, dem Tag
der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers
Auschwitz vor 53 Jahren. Sie, Herr Bundespräsident, haben diesen Tag im Jahre
1996 auf Vorschlag des Parlaments und der Regierung zum Gedenktag erhoben.
Darum haben wir Parlamentarier uns zusammen mit Ihnen, der Bundesregierung,
Vertretern des Bundesrates und des Bundesverfassungsgerichtes heute im
Deutschen Bundestag versammelt. Dieses öffentliche Gedenken erfolgt zu Recht
am zentralen Ort unserer Demokratie, im Parlament.
Wir haben mit einem Streichtrio von Gideon Klein begonnen, das uns inmitten
des Gedenkens deutlich macht: Das ist Kultur, die ausgerottet werden sollte,
Musik, die nicht mehr erklingen sollte, geschrieben in Theresienstadt,
vollendet wenige Tage vor der Deportation nach Auschwitz, erstmalig erklungen
1993. Es hat uns Kraft, Not, dunkle Töne, aber auch Dynamik gezeigt.
Dies ist Teil der Erinnerung an die Schrecken des Nationalsozialismus und
Teil der nicht endenden Frage: Wo liegen die Wurzeln von Diktatur und Terror,
wo liegen die Triebfedern für Entrechtung und Verfolgung von Menschen? Welche
Haltungen und Einstellungen bereiteten der totalitären Nazidiktatur den Weg?
Unser Gedenken im Parlament ist zugleich Teil des Innehaltens, des Nachdenkens
über unser Land. Deshalb ist es an diesem Tag des Erinnerns auch unsere
Aufgabe, uns immer wieder neu der ethischen und demokratischen Grundlagen
unserer Gesellschaft und ihrer Bindungen für uns alle zu vergewissern.
So unverzichtbar dieses öffentliche Erinnern im Parlament ist: Es kann nicht
das Gedenken in unserem Land und das jedes einzelnen ersetzen. Denn es
betrifft alle und macht nur Sinn, wenn es auch individuell begangen wird.
Diese Stunde im Deutschen Bundestag will Teil des Gedenkens in allen Teilen
unseres Landes sein, in den Städten und Gemeinden, in Schulen, in den
Bildungseinrichtungen der Kirchen und der Gewerkschaften, in Verbänden und
Vereinen.
Gedenken, das nicht von den Menschen getragen wird, erstarrt sehr rasch zum
bloßen Ritual. Die Einführung eines
Gedenktages ist das eine, die lebendige Ausgestaltung das andere. Diese
bleibt immer wieder aufs neue zu leisten. Es geht uns bei unserer
Veranstaltung hier im Parlament deshalb nicht nur um das Zuhören, sondern auch
um den Dialog, um die aktive Auseinandersetzung gerade mit der jungen
Generation, die heute hier vertreten ist. Deswegen ist die dreitägige
Begegnung zwischen Jugendlichen aus Deutschland, Frankreich, der Tschechischen
Republik, Polen und Österreich ein zentraler Teil unserer parlamentarischen
Veranstaltung. Ich danke den Jugendlichen für ihr konzentriertes Zuhören, für
ihre drängenden Fragen, für ihr nachhaltiges Engagement und ihre kritische
Auseinandersetzung mit unserer gemeinsamen Geschichte in Ost- und
Westdeutschland, in Ost- und Westeuropa. Sie haben die Verpflichtung zur
Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Zukunft trotz der Abgründe dieses
Jahrhunderts angenommen. Die Jugendlichen wollen diese Aufgabe mit Leben
gestalten, weil die Gefahren und Gefährdungen, die durch Radikalismus,
Extremismus, Menschenverachtung und nationale Hybris entstehen, mit dem Ende
des Nationalsozialismus nicht für immer beseitigt wurden, sondern trotz allen
Neuanfangs wie eine glimmende Glut immer neu aufglühen. Es bedarf der
Wachsamkeit hier und überall.
Eine Resolution der diesjährigen Teilnehmer zeigt, wie stark der Wunsch der
Jugendlichen nach Dialog über das Geschehene, nach mehr Jugendbegegnung und
der Förderung von Jugendwerken ist. Das ist der Wunsch, den sie ganz
nachdrücklich an uns herangetragen haben.
Ja, sie sagen, dieses Erinnern tut weh. Es löst Entsetzen aus und läßt
zugleich verstummen und aufschreien. Sich den bedrückendsten Wahrheiten
unserer Geschichte zu stellen ist aber unverzichtbar. Dazu verpflichten uns
die Opfer, ihre Angehörigen und Nachkommen. Aber es ist auch für uns selbst
notwendig, für den unauflöslichen Zusammenhang von Erinnerungs- und
Zukunftsfähigkeit. Auschwitz liegt zwar Jahrzehnte zurück, aber es überdauert,
weil die Ungeheuerlichkeiten des Verbrechens unvergleichbar und unausgleichbar
sind und weil die Folgen der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft bis in
unsere Tage fortdauern.
Es sind gerade junge Menschen, die uns die Zuversicht geben, daß das Erinnern
nicht dem Vergessen anheimfällt. Sie wollen wissen, was war. Das Fragen hört
nicht auf; sie fragen weiter. Es werden nicht nur die alten, sondern auch neue
Fragen gestellt. Neue Dokumente lassen ein immer differenzierteres Bild
entstehen, konfrontieren uns aber auch mit neuen Tatsachen des Unrechts. Wir
erfahren mehr über die Alltäglichkeit des Mitläufertums auf der einen und die
vielfältigen Formen des Widerstandes und der Hilfe auf der anderen Seite. Wir
lernen aus dem Alltag der Diktatur, aus den Folgen der Gleichgültigkeit und
des Wegsehens gegenüber den Mitmenschen für unsere demokratische Gesellschaft,
daß Zivilcourage und aktive Teilhabe an der politischen Gestaltung für eine
Gesellschaft notwendig sind, in der die Würde des Menschen zu achten zum
gelebten Alltag gehört.
Erinnerung ist anstrengend, aber sie befreit auch. Sie gibt uns Kraft, die
Zukunft zu bestehen. Ein Volk, das innehält, das sich bewußt seiner
Vergangenheit stellt, beugt nationalem Wahn und Selbstüberschätzung vor. Aus
der Auseinandersetzung mit den eigenen Irrwegen wächst die Kraft zum Neuanfang
und zur Neugestaltung. Die Entschlossenheit, uns immer wieder zu erinnern und
daraus die Konsequenzen für Aufbau
und feste Verankerung demokratischer Strukturen und Lebensformen zu
ziehen, sowie die konsequente Ausrichtung auf Europa haben uns geholfen, in
fünf Jahrzehnten nach dem Kriegsende Schritt für Schritt wieder Vertrauen zu
gewinnen und Verantwortung in Europa und in der Welt zu übernehmen.
Viele haben uns dabei geholfen. Das zeigt unsere feste Verwurzelung im
europäischen Einigungsprozeß. Das zeigt die Neugestaltung unserer Beziehungen
zu den Vereinigten Staaten von Amerika, zu Frankreich, Polen und allen anderen
europäischen Nachbarländern in West und Ost. Und daß es gelungen ist, Brücken
der Verständigung zu Israel zu schlagen, das in diesem Jahr auf fünfzig Jahre
staatlicher Existenz zurückschaut, und einen Neuanfang zu finden, zeugt
gleichermaßen von der uns verpflichtenden wie der gestaltenden Kraft der
Erinnerung.
Seit dem Umbruch und dem Wandel in Europa ist der Weg zur Wiederbelebung und
Vertiefung unserer Beziehungen zu den Nachbarn in Mittel- und Osteuropa sowie
im Südosten Europas geöffnet. Auch hier kommt es darauf an, daß wir uns
gemeinsam mit unseren Nachbarn unserer eigenen und zusammenhängenden
Vergangenheit und ihren Verpflichtungen für die Zukunft stellen. Opfer des
Nationalsozialismus und infolge der Naziverbrechen zum Opfer gewordene
Vertriebene brauchen Zeit und guten Willen zu Gesprächen, zur Verständigung
und zum Miteinander. Das zeigt uns das Beispiel der deutsch-tschechischen
Beziehungen.
Es ist gelungen, über die bisherige Regelung hinaus eine neue Vereinbarung
für notleidende Überlebende der Nazigewaltherrschaft in Osteuropa, die bisher
keine Entschädigung erhalten haben, zu treffen. Der im Dezember 1997
errichtete Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds und das Deutsch-
Tschechische Gesprächsforum können ihre Arbeit aufnehmen und werden dazu
beitragen, vertrauensvolle Beziehungen zur Tschechischen Republik im Geiste
guter Nachbarschaft und Partnerschaft zu verstetigen und zu vertiefen und
damit zum Zusammenwachsen Europas beizutragen. Nach der gestrigen Entscheidung
kann der Zukunftsfonds jetzt seine Arbeit aufnehmen.
Aus dem Rückblick auf unsere Geschichte in diesem Jahrhundert wissen wir:
Erworbene und erkämpfte Freiheit geht verloren, wenn sie nicht bewußt gelebt
wird. Das ist eine der zentralen Erfahrungen dieses Jahrhunderts, in dem
Nationalsozialismus, Kommunismus, Rassismus, Antisemitismus und andere Extreme
ihre tiefen Spuren hinterlassen haben. Auf der Gemeinsamkeit von
demokratischen Werten und freiheitlichen Gestaltungszielen können wir heute
ein neues Europa bauen, das auf Frieden, partnerschaftliche Zusammenarbeit und
Verständigung gründet. Dieses Europa verträgt weder Vormachtdenken noch
nationale Selbstüberschätzung und Gewalt. Für uns Deutsche kann es dabei nur
eine Aufgabe geben: Mitwirken am Ausbau der europäischen Tradition freiheitlicher
Demokratie und funktionierender Rechtsstaatlichkeit,
die uns zu guten Nachbarn und Partnern macht. Sie sollen das
21. Jahrhundert, die politische Identität unseres Kontinents und die
Verantwortung Europas in der Welt prägen.
Mein besonderer Dank gilt Ihnen, Herr Professor Bauer, dafür, daß Sie heute
bei uns sind und zu uns sprechen. Aus Jerusalem haben Sie den Weg zu uns nach
Bonn, nach Deutschland, gefunden. Sie haben viele Jahre an der Hebräischen
Universität in Jerusalem gelehrt. Heute sind Sie Direktor des Internationalen
Forschungsinstituts für Holocaust-Studien am Yad Vashem.
Als geborener Tscheche, nach Palästina geflohen, aber immer verbunden
geblieben mit Europa, haben Sie mit Ihren Forschungsarbeiten zu einer
differenzierten Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen
Gewaltherrschaft beigetragen. Zugleich haben Sie damit einen Beitrag zur
Verständigung zwischen Ihrem und unserem Volk geleistet, haben Sie
Brücken über tiefe Abgründe geschlagen, die uns bewußt bleiben müssen, wenn
wir uns um Verstehen und Verständigung bemühen. Ihnen ist das Gespräch mit der
jungen Generation wichtig, um die aus der Geschichte gewonnenen Erfahrungen
weiterzugeben.
Herr Professor Bauer, ich darf Sie nun herzlich bitten, zu uns zu sprechen.