vereidigung von bundespraesident professor dr.roman Herzog - gemeinsame sitzung von bundestag und bundesrat

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im reichstagsgebaeude in berlin traten am 1. juli
1994 der deutsche bundestag zu seiner 239. sitzung
und der bundesrat zu seiner 671. sitzung zusammen.
gemaess artikel 56 des grundgesetzes leistet der bundespraesident
bei seinem amtsantritt vor den versammelten mitgliedern
des bundestages und des bundesrates den vorgeschriebenen
eid.

ansprache des bundesratspraesidenten

der praesident des bundesrates, der praesident des
senats und buergermeister der freien hansestadt bremen,
klaus wedemeier, hielt folgende ansprache:

sehr geehrter herr bundespraesident,
frau praesidentin des deutschen bundestages,
meine sehr geehrten damen, meine herren,

auf den tag genau 45 jahre nach inkrafttreten des
grundgesetzes wurde zum zehnten mal das staatsoberhaupt
der bundesrepublik deutschland gewaehlt. mit der
heutigen eidesleistung wechselt zum sechsten mal
der inhaber des hoechsten amtes in unserem staat.
dieser vorgang steht fuer die erfolgsgeschichte unserer
jungen deutschen demokratie. er waere glueckvolle
routine, wuerde heute nicht der erste bundespraesident
seine amtszeit beginnen, der von den volksvertreterinnen
und volksvertretern aus brandenburg, mecklenburg-vorpommern,
sachsen, sachsen-anhalt, thueringen und dem ostteil
berlins mitgewaehlt wurde.

ihre zweite amtsperiode, verehrter herr dr. von
weizsaecker, begann kurz vor dem bedeutsamsten und
zugleich bewegendsten teil der deutschen nachkriegsgeschichte.
der fall der mauer hier in berlin, der stadt, der
sie als regierender buergermeister selbst einige
jahre an vorderster stelle gedient haben, bedeutete
nicht nur das ende der ddr, sondern auch der bundesrepublik,
wie sie bis dahin bestand. seit dem 3.
oktober 1990 waren sie auch praesident der deutschen
in den neuen laendern. diesen gliedern unseres bundesstaates
und ihren buergerinnen und buergern haben sie fortan
einen grossteil ihrer kraft und ihrer zeit gewidmet.
von anfang an haben sie die grossartigen chancen
der deutschen einheit herausgestellt und haben damit
mut gemacht. sie haben aber auch die in der vergangenheit
wurzelnden und die in der gegenwart entstehenden
probleme bei der vollendung der deutschen einheit
offen angesprochen und damit einen wichtigen beitrag
zur notwendigen nuechternen analyse unserer situation
geleistet.
zum verhaeltnis aller deutschen zueinander haben
sie in ihrer dankesrede zur verleihung des heine-preises
1991 einen wichtigen satz gesagt, den ich hier zitieren
moechte:
versoehnung unter menschen kann ohne wahrheit nicht
gelingen. wahrheit ohne aussicht auf versoehnung
aber ist unmenschlich.
meine damen und herren, das amt des bundespraesidenten
ist mit eng begrenzten kompetenzen ausgestattet. eine
praesidialdiktatur, wie sie am ende der weimarer republik
entstanden war, sollte nach dem willen der muetter
und vaeter unseres grundgesetzes im ansatz ausgeschlossen
werden. die mitwirkung der laender sollte gestaerkt
werden. mit der verteilung der gewichte auf die
verfassungsorgane ist die bundesrepublik bisher
gut gefahren.
der foederalismus, der durch die vielfalt und vielgestaltigkeit
seiner glieder, durch die wahrnehmung unterschiedlicher
wirtschaftlicher funktionen und durch unterschiedliche
landsmannschaftliche traditionen lebendig ist, vermittelt
nicht nur wir-gefuehl und stiftet identitaet. er sorgt
zugleich dafuer, dass die fuer ein gemeinwesen notwendige
erfahrung von zusammengehoerigkeit ausserhalb deutschlands
nicht als bedrohung empfunden wird. ein vielgestaltiger
foederalismus und sein beitrag zur verteilung staatlicher
macht ist ein garant dafuer, dass das vereinte deutschland
der zukunft nicht das deutschland der vergangenheit
sein wird. er ist damit ein massgeblicher beitrag
zur vertrauensbildung bei unseren europaeischen nachbarn,
mit denen wir zu einer union zusammenwachsen wollen.
ein demokratisches staatswesen mit einem so vielgestaltigen
verfassungsaufbau und institutionengefuege braucht
eine symbolische klammer. als solche hat das amt
des bundespraesidenten von anfang an gewirkt. ihm
wurde gewicht verliehen durch die persoenlichkeiten,
die es ausgefuellt haben, jede auf ihre charakteristische
weise, jede zum wohle unseres volkes und unseres
staates.
die wirkungsvollste aufgabe des bundespraesidenten
wird in der verfassung nicht erwaehnt: die oeffentliche
rede. richard von weizsaecker ist ein mann des wortes.
er hat die faehigkeit bewiesen, auf den punkt zu
bringen, was sache ist. er hat damit im inneren
die oeffentliche diskussion immer wieder auf ein
hoeheres niveau gehoben und ihr klarheit und richtung
gegeben. nach aussen hat er dadurch das ansehen deutschlands
gemehrt. der einfluss des wortes auf historische
prozesse ist schwer zu bestimmen. dennoch bin ich
sicher: die in zwanzig sprachen uebersetzte rede
zum 8. mai 1985 in der sie, verehrter herr von weizsaecker,
die bedingungslose kapitulation
nazi-deutschlands auch aus deutscher sicht
als "tag der befreiung" und als "ende eines irrweges
deutscher geschichte" bezeichnet haben, war ein
schlussstein im fundament des vertrauens, das europa
und die welt der bundesrepublik entgegenbrachten
und das die deutsche vereinigung in frieden und
freiheit zuliess.
dieses vertrauen darf nicht erschuettert werden.
aus fremdenhass und menschenverachtung hervorgehende
morde, brandanschlaege, ueberfaelle und hetzattacken
sind jedoch erst in zweiter linie unter dem gesichtspunkt
ihrer aussenpolitischen wirkung zu bewerten. die
humanitaet und unser rechtsstaat stehen auf dem spiel.
das ist der kern der bedrohung, die von gewalttaten
gegen auslaendische und auch juedische mitbuergerinnen
und mitbuerger ausgeht. neben dem unfasslichen leid,
das sie ueber die betroffenen und ihre angehoerigen
bringen.
schon gustav heinemann hat darauf hingewiesen, dass
es in art. 1 satz 1 des grundgesetzes nicht heisst:
"die wuerde des deutschen", sondern: "die wuerde des
menschen ist unantastbar. sie zu achten und zu schuetzen
ist verpflichtung aller staatlichen gewalt." der
rechtsstaat ist unteilbar. er hat allen menschen
in seinem geltungsbereich ohne ansehen der person,
ihrer sozialen position, ihrer herkunft,
staats- oder religionszugehoerigkeit gleichermassen schutz
zu gewaehren. er hat ebenfalls ohne unterschied jeden
menschen, der die rechtlich fixierten regeln unseres
zusammenlebens missachtet, zu verfolgen und zu bestrafen.
die gesetze reichen aus, sie muessen nur konsequent
angewendet werden.
herr dr. von weizsaecker, sie haben ihre persoenliche
autoritaet auch mit kritischen aeusserungen in die
waagschale geworfen. ihre anmerkungen zu einem problemfeld,
das der damalige praesident des bundesrates, der
bayerische ministerpraesident franz josef strauss,
anlaesslich ihrer eidesleistung als bundespraesident
vor genau zehn jahren bereits mit dem begriff
"politikverdrossenheit" benannt hatte, waren durchaus
umstritten. in einer ihrer reden sprachen sie einmal von der
"heilsamkeit des streits". in diesem sinne ist es
fuer die demokratie foerderlich, wenn auch der oberste
repraesentant des staates ein in der bevoelkerung
weit verbreitetes unbehagen aufgreift und formuliert.
schliesslich sind die politischen systeme des sowjetischen
machtbereichs nicht zuletzt auch an der irrealitaet
ihrer politischen kommunikation gescheitert, an
der ritualisierten leugnung der fuer alle greifbaren
probleme. der mutige eingriff des bundespraesidenten
in die oeffentliche diskussion um gefaehrdungen und
fehlentwicklungen unserer parteiendemokratie hat
allein schon der verdrossenheit entgegengewirkt
und hat den streit nach einer anfaenglichen verstaerkung
ganz wesentlich in eine heilsame richtung befoerdert.
sehr geehrter herr dr. von weizsaecker, sie haben
die bundesrepublik deutschland nach aussen wie innen
mit klugheit und wuerde repraesentiert. sie haben
mit leidenschaft und augenmass zugleich die rolle
eines gerechten mittlers zwischen den organen unseres
staates wahrgenommen. sie haben integrierend auf
unsere gesellschaft gewirkt, und sie haben massgeblichen
anteil an den fortdauernd noetigen bemuehungen gehabt,
die buergerinnen und buerger der neuen laender in unserer
nun gemeinsamen bundesrepublik heimisch werden zu
lassen. dafuer spreche ich ihnen den dank des bundesrates
und der deutschen laender aus.
in diesen dank schliesse ich sie, sehr verehrte frau
von weizsaecker, mit ein. sie haben das wirken ihres
mannes auf zurueckhaltende, aber um so wirksamere
weise unterstuetzt. besonders herzlich danke ich
ihnen fuer ihr soziales engagement. es hat unserer
oft unbarmherzigen gesellschaft mitmenschlichkeit
gegeben.

meine damen und herren, heute fuehren wir nicht nur
den neuen bundespraesidenten in sein amt ein. mit
dem heutigen tag geht auch erstmals seit der unterzeichnung
des vertrages ueber die europaeische union im februar
1992 in maastricht die ratspraesidentschaft an die
bundesrepublik ueber, bevor sie in einem halben jahr
von frankreich uebernommen wird, von dem land, mit
dem uns nach historischer feindschaft heute eine
tiefe freundschaft verbindet.
sie, verehrter herr bundespraesident professor herzog,
waren praesident eines verfassungsorgans, das mit
seiner entscheidung vom oktober letzten jahres den
weg in die europaeische union freigegeben hat und
das mehrfach durch seine urteile den foederalismus
gestaerkt und die eigenstaendigkeit und eigenverantwortlichkeit
der laender betont hat. dabei hat das bundesverfassungsgericht
zugleich nach dem buendischen prinzip des einstehens
fuereinander die bundesstaatliche solidargemeinschaft
eingefordert. dies ist ein starkes moment der zukunftssicherung
fuer alle glieder des foederalismus, insbesondere
auch fuer die neuen laender.
herr bundespraesident, sie sind ein ueberzeugter europaeer
und ein ueberzeugter foederalist zugleich. beide ueberzeugungen
sind in der tat heute die zwei seiten ein und derselben
medaille. der grund dafuer liegt im ziel, ein europa
der regionen zu schaffen, und im prinzip der subsidiaritaet.
regionale und lokale gebietskoerperschaften sollen
gestaerkt, die nationale vielfalt geschuetzt werden.
die union der voelker europas kann nur bestand und
erfolg haben, wenn sie wie unser bundesstaat das
prinzip der einheit in der vielfalt und der vielfalt
in der einheit beherzigt. nur dann koennen die buergerinnen
und buerger europas so aktiv mitwirken, dass die europaeische
union zu ihrem herzensanliegen wird. deshalb muss
politik jeweils auf der ebene gestaltet werden,
wo groesstmoegliche wirksamkeit bei groesstmoeglicher
buergernaehe erzielt werden kann. darauf zu achten
ist vornehme aufgabe der laender - innerhalb der
bundesrepublik ueber den bundesrat, der kraft verfassung
das recht und die pflicht erhalten hat, in angelegenheiten
der europaeischen union mitzuwirken, und auf europaeischer
ebene durch den ausschuss der regionen, der in der
politischen praxis seine volle bedeutung noch entfalten
muss. die deutschen laender sind sich dabei ihrer
unterstuetzung, herr bundespraesident, gewiss.
die menschen in unserem land erhoffen sich von ihnen,
dass sie als anwalt des bundesstaates, des rechtsstaates
und des sozialstaates wirken. dieses dritte tragende
prinzip unserer verfassung, seine beachtung und
seine weitgehende verwirklichung bilden die basis
fuer sozialen und damit auch inneren frieden und
garantieren so auch friedfertigkeit nach aussen.
denn wo die hoffnungen auf ein leben ohne existenznoete
zerbrechen, wo die angst vor sozialem abstieg zunimmt,
wo das leben vieler durch alltaegliche demuetigungen
beschwert wird, da wachsen hass und aggression, da
waechst unrecht.

dem einhalt zu gebieten und vorzubeugen ist angesichts
von fast vier millionen arbeitslosen, ueber acht
millionen armen und hunderttausenden von obdachlosen
in unserem land die vordringlichste aufgabe deutscher
politik auf allen ebenen.
herr bundespraesident, sie haben in ihrer unverkrampften
diktion bereits angekuendigt, wie sehr sie sich um
die neuen laender kuemmern wollen. wir koennen sie
dazu nur ermuntern. die menschen dort brauchen sie,
ihre faehigkeit zum zuhoeren, ihre neigung zur sorgfaeltigen
und nuechternen analyse und ihre begabung zu mitreissendem
optimismus. unser ganzes land braucht diese tugenden,
damit es wirklich zusammenwachsen kann.
sie, herr bundespraesident, haben juengst gesagt,
die unterstuetzung der menschen in den neuen bundeslaendern
durch uns westdeutsche sei ein ganz normales gebot
menschlichen zusammenlebens. wir haben es auch heute
wieder gehoert. dafuer muesse man nicht den begriff
der nation bemuehen, der begriff des volkes reiche
dafuer aus. dies ist ein wichtiges signal nach innen
wie nach aussen. und es stimmt mich zuversichtlich,
dass sie unser land mit der gebotenen selbstverstaendlichkeit,
zurueckhaltung und gelassenheit repraesentieren werden.
im namen des bundesrates, dem sie selbst viele jahre
angehoerten, wuensche ich ihnen und ihrer verehrten
frau fuer die vor ihnen liegenden grossen aufgaben
gesundheit, kraft und glueck.
bei seiner verabschiedung vor nunmehr 35 jahren
sagte der erste bundespraesident theodor heuss, ein staat
koenne zerbrechen oder zerbrochen werden. ein volk aber wolle
weiterleben, es beduerfe der herberge.
herr bundespraesident, wir alle hoffen und sind guter
zuversicht, dass sie einen prozess mitgestalten werden,
in dem unserem vereinten land und seinen menschen
das europaeische haus zur herberge wird.

die praesidentin des deutschen bundestages, prof.
dr. rita suessmuth, schloss die sitzung mit den folgenden
worten:

damit kommen wir an das ende unserer sitzung.
ich danke noch einmal dem scheidenden bundespraesidenten
und seiner ehefrau marianne.
ich wuensche unserem neuen bundespraesidenten recht
viel erfolg, glueck bei seiner arbeit und alle guten
wuensche fuer sie, frau herzog, und schliesse ein,
dass wir gut vorankommen, dass sie jetzt aber erst
einmal ein paar tage urlaub haben - wenig genug
wird es sein.
mit den besten wuenschen fuer sie und fuer deutschland
schliesse ich die gemeinsame sitzung des deutschen
bundestages und des bundesrates. die sitzung ist
geschlossen.