Rede von Bundespräsident Roman Herzog

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Meine Damen und Herren,

Goethe war ganz gewiß selbstbewußt genug, sich zu wünschen, daß zu seinem 250. Geburtstag ein Herzog eine Rede halten könnte; aber er hätte wohl eher an einen Herzog von Weimar gedacht als an ein gemeinsames Staatsoberhaupt aller Deutschen.

Überhaupt hat sich Goethe vieles vorstellen können, seine Phantasie war bekanntlich fast grenzenlos. Trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob er sich ein geeintes Deutschland hat vorstellen können. Deutschland, wie er es verstand, war eine "Kulturnation", nicht nur in dem Sinne, wie man diesen Begriff heute meist versteht, nämlich in Anlehnung an das Wort der Madame de Stael, die Deutschen seien eine Nation der Dichter und Denker, sondern auch in anderer Hinsicht: Da Deutschland in kleine Staaten, Höfe und Fürstentümer zersplittert war, gab es als einigendes Band keine gemeinsame Staatlichkeit, sondern eben allein die gemeinsame Kultur.

Heute, obwohl wir die staatliche Einheit wiedererlangt haben, ist dieses kulturelle Band nicht überflüssig geworden. Wir brauchen es, um als Nation wirklich zusammenzuwachsen, und wir brauchen es nicht weniger als früher.

Es ist für mich keine Frage, daß sich Johann Wolfgang von Goethe, vor allem seitdem er eben so hieß, also das Adelsprädikat führte, als Repräsentant dieser deutschen Kultur verstand. Im Grunde hat er sein ganzes Leben lang selbst darauf hingearbeitet.

Und die Bundesrepublik Deutschland hat das mit einer großen Geste anerkannt. Anders als etwa Großbritannien, Frankreich oder die Vereinigten Staaten haben wir die Vertretung unserer Kultur im Ausland mit einem Namen verbunden, eben mit dem Namen Goethes.

Doch nicht nur in der Benennung unserer auswärtigen Kulturarbeit mit seinem Namen, sondern im Bewußtsein der Menschen überhaupt in Deutschland wie in aller Welt, sind die Begriffe deutsche Kultur und Goethe unmittelbar miteinander verwachsen. Auch wer nichts oder nur sehr weniges aus seinem Werk kennt, weiß doch wenigstens, daß Goethe irgendwie "unser Goethe" ist. Er war es, dem - nach Lessing und gemeinsam mit Schiller - zum erstenmal in Deutschland ein großes Dichterdenkmal gesetzt worden ist - bis dahin bekamen nur Schlachten- oder Staatslenker Denkmale. Und wie selbstverständlich ist die Nummer eins der Reclamschen Universalbibliothek seit dem ersten Erscheinen Goethes Faust.

Goethe und die Deutschen - ich möchte nicht wissen, wie viele Bücher über dieses Thema schon geschrieben worden sind! Zunächst einmal bleibt festzuhalten, daß die Wirkung Goethes auf das geistige Leben Deutschlands enorm gewesen ist. Er hat einen Typus des Intellektuellen wie des Künstlers geprägt, dem viele zu folgen versucht haben, dem aber nur er selbst gerecht geworden ist. Er hat den literarischen Kunstformen in allen Bereichen neue Möglichkeiten erschlossen, der Lyrik, dem Drama, dem Roman. Er steht für das seltene Zusammentreffen von Geist und Macht in einer Person. Er steht für das ungewöhnlich kundige Interesse an allen Erkenntnissen und Problemen der Naturwissenschaft, der Staatskunst, der Technik, des Rechts und der menschlichen Beziehungen. Und er steht für eine neue, höchst originelle Beschäftigung mit dem Orient und dem Islam. Sein umfassendes Wissen und vor allem seine umfassende Neugier, seine Kreativität und Gestaltungskraft haben keinen Nachfolger dieser Art mehr gefunden.

Für das neunzehnte Jahrhundert vor allem war Goethe eine ideale Identifikationsfigur. Die Ausstrahlung von Person und Werk, das Bild des universal gebildeten Humanisten wurde zum Vorbild. Und dazu kam noch: Die Verehrung für ihn nahm die politische Einheit Deutschlands sozusagen vorweg, eben indem sein Werk stellvertretend für die kulturelle Einheit stand.

Allerdings - auch das ist richtig: Diese Idealisierung zum "Olympier" hat bis in die jüngste Vergangenheit den klaren und nüchternen Blick auf Leben und Werk Goethes oft eher verstellt. Auch im Hinblick auf ihn haben gerade neuere Forschungen die alte, in seinem Fall aber besonders ernüchternde Erkenntnis bestätigt, daß es den idealen Menschen nicht gibt, wie sehr er selbst oder andere ihn auch dazu stilisieren.

Fragwürdig ist manches, was über sein Leben nun deutlicher in den Blick gerät. Es soll - beispielsweise - Goethe gewesen sein, Mitglied des Geheimen Consiliums des Herzogs Carl-August, der für die Vollstreckung der Todesstrafe an einer verzweifelten und von allen verlassenen Kindsmörderin plädierte - derselbe Goethe, der sich in seinem Faust, besonders in der Urfassung, so einfühlsam in das Schicksal einer solchen Frau versetzt hat. Und es soll Goethe gewesen sein, der Studenten und Professoren der Universität Jena bespitzeln ließ und zur Entlassung Fichtes beitrug. Der Gedanke an Demokratie flößte ihm Furcht ein, und durch negative Urteile trug er mit dazu bei, Schriftsteller-Kollegen in Verzweiflung und Untergang zu treiben.

Ich weiß natürlich auch, daß diese Vorwürfe unter Fachleuten heftig bestritten sind. Aber das interessiert mich wenig; denn ich brauche weder einen ideal guten noch einen bösen Goethe, und fehlerlose Menschen sind mir stets verdächtig.

Wir könnten daraus eine ganz allgemeine Erkenntnis gewinnen: Heldenverehrung - sowohl, positiv als auch negativ - empfiehlt sich auch im kulturellen Leben nicht.

Wenn wir uns heute mit Goethe beschäftigen, dann müssen wir wahrscheinlich zuerst fragen: Was bedeuten Klassiker in unseren bewegten Zeiten? Und: Was bedeutet Goethe, der deutsche Klassiker schlechthin, in einer Zeit, die sich so radikal dem Neuen verschrieben hat wie die unsere, der Innovation, dem Aufeinanderfolgen der jeweils neuesten Theorien und Modelle, dem ständigen Wechsel der Moden?

Vor vielen Jahren hat Wolfgang Hildesheimer einem kleinen Buch über Johann Sebastian Bach den Titel gegeben: Der ferne Bach. Wenn wir ehrlich sind, müßten wir auch den Feierlichkeiten zum 250. Geburtstag Goethes die Überschrift geben: Der ferne Goethe.

Fern ist uns seine Welt: die Welt des zersplitterten Deutschland, der absolutistischen Fürstenhöfe, der vorindustriellen Wirtschaft, der direkten, aber zumindest langsamen Kommunikation, der langen Briefe und der kurzen billets d'amour, eine Welt der Trennung zwischen Adel und Bürgertum, der innigen Dichterfreundschaften, der Postkutschen, insgesamt also eine Welt, die überschaubar, dafür aber langsam war.

Fern ist uns auch der Begriff der Klassik, der Klassizität, also der Glaube, daß bestimmte Gedanken, Vorstellungen und Ideen eine genau diesen Vorstellungen entsprechende Form benötigen und sie durch künstlerische Arbeit bekommen können. "Ihr wißt: Auf unseren deutschen Bühnen probiert ein jeder, was er mag": Dieser Stoßseufzer des Theaterdirektors aus dem Faust gilt ja nicht nur für das gegenwärtige Theater. Die Beliebigkeit, die bald dieses, bald jenes probiert, ist in jedem Bereich zu finden. Auch wirtschaftliche Konzepte lösen einander in raschen Rhythmen ab, intellektuelle und politische Moden ohnehin. Beliebigkeit scheint ein zentrales Stichwort der gegenwärtigen Befindlichkeit zu sein im öffentlichen wie im privaten Leben. Auf den verschiedensten Bühnen - in der Kunst, in den Medien, in der Politik - probiert ein jeder, was er mag. Und ich sage das ganz ohne Kritik, denn ich möchte tatsächlich niemandem Vorschriften machen, wie er zu leben habe. Es stellt sich nur die Frage, was uns in einer solchen Zeit ein Klassiker, ja Klassik als solche noch zu sagen haben. Ein Werk und ein Leben wie das des Jubilars muß uns in dieser Welt noch fremder sein als je.

Der ferne Goethe: Das ist eine kurze, aber doch treffende Beschreibung für das Verhältnis zu diesem größten Sohn Frankfurts. Und doch geht eine seltsame Faszination von ihm aus, die sicher anders ist als im neunzehnten oder auch in der ersten Hälfte unseres nun zu Ende gehenden Jahrhunderts, die auch verschieden ist von der, durch die sich die in immer kürzeren Abständen produzierten und dann auch wieder vergessenen Stars der Film-, Fernseh- oder auch Literaturszene auszeichnen. Es ist die vielleicht herausragendste Eigenschaft der sogenannten Klassiker, daß sie nie ganz zu Ende entdeckt sind, daß ihr Werk sich nicht in einer These zusammenfassen läßt, daß sie immer noch Zustimmung und Widerspruch provozieren, daß in ihren Werken, wie Ernst Bloch gesagt hat, noch nicht abgegoltene Tagträume menschlicher Möglichkeiten zu finden sind.

Bestes, auf jeden Fall aktuellstes Beispiel dafür ist die diesjährige, wie immer weltweit beachtete, Oscar-Verleihung: Die meisten Preise heimste ein Film ein, der sich das Leben und die künstlerische Existenz des neben Goethe bedeutendsten literarischen Klassikers zum Thema wählte: "Shakespeare in love". Ein Schauspieler und Stückeschreiber aus dem elisabethanischen England - einer Epoche also, die uns noch ferner sein dürfte als die Goethezeit - wird plötzlich zum Thema eines Films, der weltweit ein Kassenschlager ist.

Auch "Goethe in love" wäre sicher ein Thema, das auf der Hand liegt - man muß ja nicht gleich eine der gefürchteten deutschen Beziehungskomödien daraus machen. Eines aber scheint mir sicher: In den Stoffen Goethes, vor allem aber in dem seines Lebens selbst, liegen noch viele Möglichkeiten der weiteren Beschäftigung und künstlerischen Gestaltung. Das herausragende Beispiel dafür hat, wie Sie wissen, ein Autor der DDR gegeben, mit einem Buch, dem heute kaum mehr ein Oberstufenschüler entrinnen kann: Ulrich Plenzdorfs "Die neuen Leiden des jungen W.". Mit ausdrücklichem Bezug auf Goethes Werther hat das Buch nicht nur das Lebensgefühl der damaligen deutschen Jugendlichen - und zwar in Ost und West - getroffen, sondern es hat auf diese Weise auch Kritik an den Zuständen der DDR üben können.

Hier zeigt sich übrigens die unter Umständen sehr subversive Kraft auch der Klassiker. Auf der einen Seite versuchen auch diktatorische Regime sie in Beschlag zu nehmen, als Bestandteil des "kulturellen Erbes" zu reklamieren und sich damit selbst kulturell zu legitimieren, auf der anderen Seite bergen sie aber gefährliche Erinnerungen und Ideen.

Wie die radikale Individualität Werthers beziehungsweise des "jungen W." dem Kollektivismus der DDR widersprechen mußte, so hatten die Nationalsozialisten zum Beispiel immer dann Probleme, wenn bei Aufführungen des "Götz von Berlichingen" das Publikum beim Ruf nach Freiheit in Szenenapplaus ausbrach.

Nun ist das heute wahrlich nicht unser Problem. Niemand denkt daran, Goethe zu verbieten. Eher scheint es so, als sei die Zeit der Klassiker einfach vorbei, als gingen sie uns nichts mehr an. Vorbei der Traum von Harmonie und Menschlichkeit, vom menschlichen Maß und von Streben nach Ausgleich inmitten des "Wirrwarrs", wie Goethes Wort für das lautet, was er sein ganzes Leben zu besiegen suchte. Unsere Zeit, oft laut und schrill, dem Sensationellen eher hinterher als dem Beständigen, beherrscht von der Schlagzeile und dem schnellen Schnitt, ist - so scheint es - kaum noch ansprechbar für das, was Goethe und die anderen, die wir als Klassiker bezeichnen, bewegte. Er selbst hat es wohl gespürt, als er am 6. Juni 1825 an seinen Freund Zelter in Berlin schrieb: "Laß uns soviel als möglich an der Gesinnung halten, in der wir herankamen; wir werden, mit vielleicht wenigen, die Letzten sein einer Epoche, die sobald nicht wiederkehrt." Das Wort bedeutet nicht so sehr die sentimentale Trauer über verschwundene, schöne Zeiten als die nüchterne Erkenntnis, daß nun neue, andere Zeiten anbrechen würden und daß die Menschheit vor neuen Aufgaben stehe.

Ob Goethe aber geahnt hat, wie sehr er mit einzelnen seiner Phantasien der Wirklichkeit dennoch nahe kam? Im "Laboratorium" (Faust II) erklärt Wagner etwa dem Mephistopheles: "Ein herrlich Werk ist gleich zustand gebracht." Worauf der knappe Dialog folgt: "Was gibt es denn?" - Antwort: "Es wird ein Mensch gemacht." Gerade in ihrer Knappheit wirkt die Stelle heute vielleicht abgründiger als früher. Für einen Moment muß sogar der Teufel über die menschliche Erfindungskraft staunen.

Was in Faust II noch wie ein unwirklich-alchimistischer Traum erscheint: die Erschaffung eines Menschen im Reagenzglas, das führt uns heute in direkter Linie zur Problematik der modernen Gentechnik. Und wenn wir einen Augenblick den Zusammenhang dieser Szene im Drama außer Acht lassen, dann sehen wir an dieser einen Stelle, wie nah der ferne Goethe plötzlich sein kann. Das Geheimnis großer Literatur ist es ja, daß sie menschliche Strebungen und Konflikte auf eine Weise gestalten kann, die ihre Bedeutung mit den besonderen Zeitumständen nicht einfach vergehen läßt.

Wenn uns die Klassiker fern erscheinen, liegt es ja oft nicht an ihnen, sondern an uns. Wir müßten nur die intellektuelle Kraft aufbringen, in ihren Gestaltungen unser Leben zu erkennen. Die reine Verehrung ist dazu der am wenigsten geeignete Weg. Geduldige Auseinandersetzung, beständiges Befragen, phantasievolle Lektüre und Inszenierung sind dazu notwendig. Das verlangt ein wenig Mühe, aber das ist eine Mühe, die sich lohnt.

Bei Goethe ist das noch einmal von besonderem Reiz. Zwar gehört er tatsächlich, wie ich gesagt habe, einer fernen Zeit an. Aber von allen, die zur klassischen Epoche der Literatur gezählt werden können, ist er doch derjenige, der uns, wenn man so sagen darf, am nächsten gekommen ist. Er hat ein biblisches Alter erreicht und konnte immerhin noch den Anbruch der technischen Moderne mit Straßenbau, Dampfmaschinen, Industrialisierung und Aktienwesen miterleben. Und: Er war dem gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und technischen Fortschritt keineswegs abgeneigt, weder als Minister seines kleinen Staates noch als Schriftsteller noch als kritischer Beobachter seiner Zeit. In seinem Altersroman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" stellt er sich noch einmal den neuen Erfahrungswelten wie Siedlungsprojekten, Auswanderungsunternehmen, der Maschinenwelt und so fort. Es geht um die neue Zeit - und um die Frage, wie die neue Zeit ein menschliches, solidarisches, ja gerechtes Gesicht bekommen kann. Und wie der einzelne die Spannung zwischen der Selbstverwirklichung und dem Dienst an der Gemeinschaft aushält und fruchtbar machen kann.

Es soll keiner sagen, daß diese Fragen sich heute erledigt hätten. Sie stellen sich sogar in neuer Schärfe. Und das trifft auch zu: Die Lektüre der Klassiker hilft uns zwar nicht bei der aktuellen Lösung von tagespolitischen Problemen. Sie weitet aber immer wieder den Blickwinkel für die ihnen zugrundeliegenden menschlichen Fragen. Sie schafft eine Distanz, aus der sich besser hinsehen läßt.

Die Dialektik des Fortschritts, seine Doppelgesichtigkeit, hat Goethe nüchtern gesehen. Er wußte und hat es auch schriftstellerisch verarbeitet, wie - beispielsweise - Fortschritt und Zerstörung zusammenhängen. Im zweiten Teil des Faust gibt es dafür eindrucksvolle Szenen:

Lynkeus, der Türmer ("zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt"), sieht, wie gewaltige Mächte brutal in die friedliche Hütte der alten Leute einbrechen, um Platz zu schaffen für das Neue, das Faust plant. Die Hütte wird niedergebrannt, die alten Leute verkommen in den Flammen. Die neue Zeit, die Goethe heraufkommen sah, begann auch mit Zerstörungen, mit dem Bruch langer Traditionen.

Und berührend bleibt Fausts Ende. Der blinde Faust hält die klirrenden Spaten, die sein eigenes Grab schaufeln, für die Geräusche des Aufbaus und des Fortschritts, die sein Werk zum Wohle der Menschheit ausführen. Die bittere Ironie bleibt eine Warnung: Was wir für den Klang des Fortschritts halten, kann auch etwas ganz anderes sein.

Hier wird Goethe und mit ihm das sogenannte klassische Erbe noch einmal interessant, ja es könnte sich sogar eine Nähe zu uns herstellen, wenn wir nur bereit sind, sie auch zu sehen. Nur dann können wir uns auch auf die Vision berufen, die trotz allem gültig bleibt: "auf freiem Grund mit freiem Volke stehn".

Nochmals: Wie nah ist uns der ferne Goethe? Wenn man von allen möglichen Aktualisierungen seiner Konfliktstoffe, seiner Harmonisierungsversuche, seiner Ideen von Gesellschaft, Natur und Individuum, von seinem Wirken als Politiker absieht, bleibt doch zum Schluß das Wichtigste: seine Sprache. Wohl niemand hat der deutschen Sprache noch einmal so viele neue Möglichkeiten eröffnet. Er hat das Deutsche nicht nur tief geprägt, er hat - ob wir das noch spüren oder nicht - auch unsere eigenen Ausdrucksmöglichkeiten tief geprägt. Und seine Gedichte sind, wie man wohl sagen kann, Teile der deutschen Seelengeschichte geworden. "Füllest wieder Busch und Tal" oder "Über allen Gipfeln ist Ruh" oder auch das scheinbar so einfache "Sah ein Knab ein Röslein stehn": Manche von ihnen kommen uns immer noch so vor, als seien sie genau für heute und für uns gemacht - ja, als hätten wir sie mit ausgedacht.

Ob die Literatur die Menschen besser macht, ob sie die Welt verändert, ob sie gesellschaftlich nützlich ist, wie aktuell möglicherweise die Klassiker sind: all das sind Fragen, die uns weiter begleiten werden. Die erste Frage aber, die uns das Werk Goethes stellt, ist die: Hat neben allem, was unser Leben beschäftigt, neben allem Funktionierenden und Nützlichen, das Schöne noch einen eigenständigen Platz? Denn das Unverfügbare, das scheinbar Nutz- und Zwecklose des Schönen ist es doch, das unser Leben über alles Funktionieren hinaus menschlich macht.