Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Sie alle haben es gelesen und gehört: In den vergangenen Tagen sind die Namen der diesjährigen Nobelpreisträger verkündet worden. Unsere Preisverleihung heute passt deshalb ganz gut in die Zeit. Denn der Deutsche Schulpreis ist ja so etwas wie der Nobelpreis unter den Schulpreisen: Die bekannteste und bedeutendste Auszeichnung, die eine Schule in unserem Land gewinnen kann. Und, ich spüre es ja: Entsprechend groß ist die Spannung hier im Saal, besonders natürlich bei den Finalistinnen und Finalisten. Ich weiß, dass jetzt auch in Ihren Heimatorten viele Mitschülerinnen, Kollegen und Eltern am Bildschirm mitfiebern. Ihnen allen, die hier im Saal sind oder uns im Livestream zuschauen, ein herzliches Willkommen!

Ein paar Minuten müssen Sie sich noch gedulden, aber eins steht jetzt schon fest: Sie alle gehören zu den besten und kreativsten Schulen unseres Landes. Sie zeigen, was engagierte Schulleitungen und Lehrkräfte alles bewegen können, auch und gerade unter schwierigen Bedingungen. Sie haben den Unterricht neu gestaltet, Sie haben die Schulgemeinschaft gestärkt, Sie sind Schülern und Schülerinnen besser gerecht geworden als viele andere. Und ich finde: Darauf können Sie sehr stolz sein! Dieses Schulpreisfinale ist Dank und Anerkennung für Ihre Leidenschaft, Ihren Mut, Ihre Tatkraft. Und diesen Dank, diese Aufmerksamkeit, die haben Sie alle mehr als verdient!

Der Deutsche Schulpreis rückt Vorbilder ins Licht, aber er soll Probleme natürlich nicht in den Schatten stellen. Und Probleme gibt es, das ist kein Geheimnis. Es gibt Mangel, es gibt Ungerechtigkeit und riesige Klassenunterschiede. In unserem Land fehlen tausende Lehrerinnen und Lehrer; viele Schulleiterstellen sind unbesetzt; es mangelt an Sprachförderkräften, Sozialarbeiterinnen, Verwaltungsassistenten. Und oft sind ausgerechnet die Schulen am schlechtesten ausgestattet, die am meisten leisten müssen: Schulen in ärmeren Stadtvierteln oder Gemeinden, deren Schüler besonders viel Förderung brauchen, weil sie aus schwierigen Familienverhältnissen kommen oder weil sie, aus unterschiedlichen Gründen, von ihren Eltern keine Unterstützung bekommen.

Die Folgen sind dramatisch: Jedes fünfte Kind in unserem Land kann am Ende der Grundschule nicht gut lesen, schreiben und rechnen, sagen jüngste Studien. Zehntausende Jugendliche verlassen die Schule ohne Abschluss. Und besonders viele Kinder, die in der Schule den Anschluss verlieren, stammen aus armen oder bildungsfernen Elternhäusern oder sprechen zu Hause kaum oder gar kein Deutsch.

Das wissen wir seit Jahren: Ob ein Kind in der Schule Erfolg hat oder nicht, das hängt in unserem Land eben immer noch stark davon ab, wo es herkommt. Unser Schulsystem verfestigt und verschärft immer noch zu oft soziale Unterschiede, statt sie auszugleichen. Und obwohl wir das wissen, geraten immer mehr Kinder, die von Haus aus benachteiligt sind, in der Schule ins Hintertreffen.

Wenn wir so weitermachen würden – tun wir ja nicht –, aber wenn wir so weitermachen würden, dann wird die Gruppe der Abgehängten größer. Das wäre beschämend, weil wir die Zukunft von hunderttausenden Kindern gefährden. Aber es wäre auch unklug, weil wir einen guten Teil unser aller, unserer gemeinsamen Zukunft verspielen würden!

Und eigentlich ist es ja grotesk: Wir reden über Fachkräfte, wir reden täglich, dass schon jetzt Fachkräfte überall fehlen; wir wissen, dass wir in den kommenden Jahren noch viel mehr qualifizierte junge Leute brauchen, um unser Land zukunftsfest zu machen, auch um den Klimawandel zu stoppen, um Hightech- und Industriestandort zu bleiben. Und wir beobachten, das finde ich beunruhigend, zeitgleich eine Fragmentierung der Gesellschaft, einen Verfall der Debattenkultur, einen Rückgang des Vertrauens in die Demokratie. Und ich weiß: Viele Lehrerinnen und Lehrer zerreißen sich – zerreißen sich dafür, sich diesen Trends entgegenzustellen. Und trotzdem haben immer noch viele Kinder keine faire Chance auf das, was wir Aufstieg durch Bildung nennen.

Wie kann das sein? Kann sein, dass mein Eindruck stimmt, dass die Schuldebatte in unserem Lande manchmal etwas sehr ritualisiert verläuft: Eine Studie erscheint, der öffentliche Aufschrei ist groß, es werden Aufbrüche gefordert, Bildungsgipfel einberufen, Schuldzuweisungen gemacht – und dann, aus Sicht der Eltern, tut sich danach regelmäßig zu wenig, bis die nächste Studie kommt und alles wieder von vorne beginnt. Wenn man sich einen Überblick verschafft über verschiedene Politikfelder, dann gibt es kaum eines, in dem die Kluft zwischen Wissen und Handeln so groß ist. Ich glaube: Wir haben kein Erkenntnisproblem. Wenn es ein Problem gibt, ist es wahrscheinlich eher ein Umsetzungsproblem!

Aber das ist nicht alles, und es geht auch nicht nur um Schulpolitik. Die ganze Wahrheit ist doch: Wir dürfen nicht alle Unzufriedenheit auf Schule und Schulpolitik abladen. Kaum eine andere öffentliche Institution ist so sehr Adressat von gesellschaftlichen Heilserwartungen wie die Schule. Wo immer Defizite im gesellschaftlichen Miteinander registriert werden – ob beim Sozialverhalten von Kindern, Integration, Verständnis von Wirtschaft, Ernährungsfragen, Umweltbewusstsein, was immer Sie sich denken –, überall soll Schule Abhilfe leisten und das, was an anderen Orten der Gesellschaft versäumt wird, nachliefern. Und dazu kommt dann auch noch: In einer Zeit, in der neben Elternhaus und Schule mit den sozialen Medien ein dritter, übermächtiger Akteur getreten ist, da geraten natürlich Lehrerinnen und Lehrer leichter an ihre Grenzen.

Trotzdem, und trotz der Routinen in der bildungspolitischen Debatte: Wir brauchen erstens eine breitere Debatte, die über Schulpolitik hinausgeht. Und am Ende bleibt doch: Wir brauchen mehr gute Schulen, und wir brauchen sie überall im Land. Wir können uns eigentlich keine einzige schlecht funktionierende Schule leisten!

Nun ist es nicht Aufgabe des Bundespräsidenten, sich in die tagespolitische Debatte einzumischen oder gar Schulpolitik zu betreiben. Aber am Ende kann natürlich auch der Bundespräsident nicht neutral sein, wenn es um die Zukunft des Landes oder die Zukunft der Demokratie geht! Deshalb will ich nur ganz knapp drei Ziele umreißen, von denen ich glaube, dass sie wichtig sind.

Das wichtigste Ziel zuerst: Jedes Kind in unserem Land soll am Ende der vierten Klasse lesen, schreiben und rechnen können. Wer es bis dahin nicht gelernt hat, das wissen Sie besser als ich, lernt es auch später oft nicht mehr richtig. Und der hat es schwer, seine eigenen Talente zu entdecken, ein eigenständiges Leben aufzubauen, ein selbstbewusster Bürger zu werden!

Um dieses Ziel zu erreichen, da gibt es keine Alternative, müssen wir die Schulen am besten ausstatten, deren Kinder am meisten Unterstützung brauchen. Gerade dort brauchen wir mehr Lehrkräfte – und die besten! Gerade dort müssen wir Lehrerinnen und Lehrer entlasten, damit sie sich auf ihre Kernaufgabe konzentrieren können: den Unterricht! Gerade dort brauchen wir die stärksten Teams, die meisten Schulbegleiter, die beste Sprachförderung. Und gerade dort brauchen wir Schulleitungen, die Gestaltungsfreiheit haben! Haben wir doch öfter mal den Mut, die Schulen einfach machen zu lassen! Was in ihnen steckt, das sehen wir ja hier beim Deutschen Schulpreis.

Und es gibt ja auch gute Nachrichten. Eine gute Nachricht ist, dass Bund und Länder sich auf einen Kompromiss beim Startchancenprogramm geeinigt haben. Meine Bitte an die verantwortliche Politik: Sorgen Sie jetzt schnell dafür, dass die Ergebnisse endlich und schnell bei den Schulen ankommen! Und setzen Sie den damit eingeschlagenen Weg dann gemeinsam fort! Wir müssen jetzt noch mehr tun, um wirklich alle benachteiligten Kinder zu erreichen!

Ich war vor weniger als einer Woche in den USA. Wir hatten in Washington einen Kreis, in dem es auch um die Chancen von Kindern aus Zuwandererfamilien ging. Und da sagte mir ein junger indischer Einwanderer, der als Kind in die USA gekommen war, der ganz stolz war auf seinen erworbenen Universitätsabschluss, der sagte: „You have to unlock our potential.“ In Deutschland würden wir sagen: Barrieren einreißen, die dem Aufstieg durch Bildung entgegenstehen. Das haben die jungen Menschen in unserem Land verdient, und das sind wir uns selbst in unserem Land schuldig.

Das zweite Ziel lautet, fast selbstverständlich: Jede Schule in unserem Land soll zu einem Heimatort werden. Alle, die dort lernen und arbeiten, sollen gern in die Schule gehen, und das meint nicht nur Schülerinnen und Schüler, sondern auch Lehrerinnen und Lehrer. Und das erreichen wir natürlich nicht, nach meiner Überzeugung, indem wir auf Anspruch und Leistung verzichten, sondern wir müssen dafür sorgen, dass sich jeder an seiner Schule ernstgenommen, anerkannt und wertgeschätzt fühlt – als Teil der Schulgemeinschaft und als Teil dieser Gesellschaft.

Und das wichtigste Zeichen von Wertschätzung ist natürlich gute Ausstattung, das sind gute Lern- und Arbeitsbedingungen. Dazu gehört eben nicht nur moderne Technik – die auch –, sondern eine Umgebung, in der sich Schülerinnen und Schüler wohlfühlen.

Drittens: Jede Schule in Deutschland muss eine Schule der Demokratie sein. Ein Ort, an dem Schülerinnen und Schüler lernen, einander mit Respekt zu begegnen, aufeinander Rücksicht zu nehmen, Konflikte mit Argumenten auszutragen, Verantwortung für sich selbst und für andere zu übernehmen. Ein Ort, an dem junge Menschen das Miteinander in unserer – manchmal nicht einfach – vielfältigen Gesellschaft lernen.

Diese drei Aufgaben, kurz beschrieben, halte ich für vordringlich, und diese drei Ziele müssen wir erreichen: Jedem Kind bis zum Ende der vierten Klasse Lesen, Schreiben und Rechnen beibringen; jede Schule so ausstatten, dass Schüler und Lehrkräfte gern hingehen; jede Schule zu einem Ort des Respekts und der Toleranz machen – das ist anspruchsvoll, ich weiß das. Aber es ist zu schaffen, da bin ich mir sicher! Und daran sollten wir uns selbst, alle Politikbereiche, in den kommenden Jahren messen!

Schule kann sich verändern! Sie alle sind das beste Beispiel dafür. Sie sind Beispiel, wie Schule in unserem Land gelingen kann. Sie alle zeigen: So viel Kreativität, so viel Tatkraft, so viel Leidenschaft, so viel Potenzial steckt in unseren Kindern, in unseren Schulen, in unserem Land! Bringen wir das – dieses riesige Potenzial – endlich zum Strahlen. Holen wir mehr davon aus dem Schatten ins Licht!

Sie alle machen Mut, dass wir die Dinge in unserem Land zum Besseren verändern können. Und ich wünsche mir, dass Sie andere inspirieren und Ihre Ideen und Erfolge jetzt Schule machen. Und vor allen Dingen will ich Ihnen und den vielen anderen, die sich an unseren Schulen und Kitas engagieren, heute meinen Dank sagen: Es ist großartig, was Sie Tag für Tag leisten. Herzlichen Dank für Ihren großartigen Einsatz!

Jetzt bin ich ebenso gespannt wie Sie alle, und wir alle wollen wissen, wer das Rennen gemacht hat.