Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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„Die Demokratie ist immer bedroht. Demokratie ist nichts Gottgegebenes und fällt nicht einfach vom Himmel. Dafür muss man arbeiten, die ganze Zeit. Jede Generation muss sich neu dafür entscheiden, die Demokratie zu verteidigen.“

Diese Worte könnten von Ihnen sein, Frau Bas. Sind sie aber nicht. Sie werden überrascht sein: Dieses Zitat stammt von einem Mann, der für politische, spannende und durchaus blutige Krimis bekannt ist und den Sie kennen, weil Sie ihn sehr gerne lesen. Es ist von Stieg Larsson, der sich Zeit seines Lebens bis zu seinem frühen Tod gegen Rassismus und Rechtsextremismus eingesetzt hat. Larsson war davon überzeugt, dass alle Menschen die gleichen Rechte haben und dass man gegen jene aufbegehren müsse, die das verneinen. So wie er denken und handeln nicht alle, aber viele Menschen in unserem Land. Sie stellen sich gegen Ausgrenzung und gegen Diskriminierung, sie helfen Schwächeren und engagieren sich für das Miteinander. Fünftausend Ehrenamtliche haben wir am vorvergangenen Wochenende gerade hier im Park Bellevue gehabt, fünftausend von Millionen, die sich für andere, für ihre Stadt, für ihre Region engagieren. Das empfinde ich gerade in diesen Zeiten wirklich als ermutigend, dass so viele die Demokratie und die freie Gesellschaft an unterschiedlichen Orten und natürlich in ganz unterschiedlichen Funktionen verteidigen – und einige von ihnen haben Sie heute Abend mitgebracht. Ihnen allen ein herzliches Willkommen!

Liebe Frau Bas, ich darf Sie heute mit dem Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland auszeichnen, weil Sie eine herausragende Parlamentarierin sind, die unserem Bundestag würdevoll und bürgernah als Präsidentin dient. Ich darf eine außergewöhnliche Frau auszeichnen, die einen beeindruckenden Weg gegangen ist und die heute das zweithöchste Amt unseres Staates auf ganz eigene Weise prägt.

Nur zwei Frauen hatten vor Ihnen dieses Amt inne – und fast fünfmal so viele Männer. Die erste Frau, die 1972 Präsidentin des Bundestages wurde, Annemarie Renger, hat einmal gesagt: „Dort, wo die Macht ist, muss man die Frauen wie Stecknadeln im Heuhaufen suchen.“ Der Satz mag alt sein, aber worum es Annemarie Renger ging, die Frage der gleichen Chancen für Frauen wie Männer in unserem Land, die ist immer noch aktuell. Sie sind ein Vorbild für viele Mädchen und Frauen. Weil Sie sich dort, wo die Macht ist, durchgesetzt haben. Und weil sich dafür einsetzen, dass der Bundestag bunter und weiblicher wird.

„Als Frau hinterfragt man sich sowieso stärker als die meisten Männer es tun“, haben Sie einmal in einem Interview gesagt. Nun steht mir nicht zu, zu beurteilen, ob das stimmt. Aber was ich mit Gewissheit sagen kann: dass Sie in Ihrem Leben immer wieder in Situationen waren, in denen Männer jedenfalls in der Mehrheit waren. Sie spielten zu einer Zeit Frauenfußball, als es noch keine Fußballheldinnen gab. Beim Feilen in der Berufsfachschule für Technik waren Sie das einzige Mädchen, und ich vermute, beim Schweißen waren Sie zu Ihrer Zeit als Frau auch ziemlich allein. Nach der Schule wollten Sie technische Zeichnerin werden, wurden aber überall abgelehnt, weil, so hieß es, es in den Betrieben keine Toiletten für Frauen gebe. Wir können heute alle froh sein, dass Sie nie aufgegeben haben! Dass Sie drangeblieben sind, sich durchgesetzt haben, Ihren Weg gegangen sind.

Als Sie vor zwei Jahren gefragt wurden, ob Sie als Bundestagspräsidentin kandidieren wollen, da hatten Sie, so war zu lesen, kurz zuvor den Film „Die Unbeugsamen“ gesehen. Ein Film über Frauen in der Politik, die, so hieß es in der Rezension, den Laden nicht den Männern überlassen wollten. Bei einem Wein mit einer politischen Mitstreiterin sollen Sie sich nach dem Film geschworen haben: Wir fackeln nicht lange, wenn wir ein Angebot bekommen. Wir zweifeln nicht an uns. Wir sagen ja. Und das haben Sie getan. Frau und Macht, das leben Sie ganz selbstverständlich.

Aber das war bei Weitem nicht die einzige Hürde, die Bärbel Bas auf ihrem Weg an die Spitze unseres Parlaments überwunden hat. Ihr Weg war alles andere als vorgezeichnet. Sie verkörpern das Ideal, dass in der Demokratie eben nicht Herkunft, Status oder Vermögen über den Zugang zur politischen Macht entscheiden oder wenigstens nicht entscheiden sollen.

Sie kommen aus einer Familie, in der das Geld mitunter knapp war, aus einer Familie mit sechs Kindern, die Unterstützung vom Sozialamt bekam. Ich bin Ihnen sehr, sehr dankbar, dass Sie über diese Erfahrungen sehr offen sprechen. Denn indem Sie, die zweithöchste Repräsentantin des Staates, über Ihre eigenen Erfahrungen mit Armut sprechen, geben Sie anderen Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind oder sich aus anderen Gründen nicht trauen, Kraft.

„Habt Träume, nur rechnet damit, dass ihr Umwege gehen müsst.“ Das sagten Sie einmal in einem Gespräch mit Schülerinnen und Schülern einer Hauptschule. Sie selbst haben eine beeindruckende Aufstiegsbiographie, aber eben eine durchaus mit Umwegen: Hauptschule, Bürogehilfin, Sozialversicherungsfachangestellte, Krankenkassenbetriebswirtin, Personalmanagementökonomin, Vorstandsmitglied der Betriebskrankenkasse. Und parallel: Mitglied im Rat der Stadt Duisburg, Unterbezirksvorstand der Jusos und der SPD Duisburg, Sprecherkreis der Ruhr-SPD, Vorsitzende des NRW-Landesparteirates. Und heute: Parlamentspräsidentin. Wenn man sich das vor Augen hält, weiß man: Alles das ist hart erarbeitet.

Liebe Frau Bas, Sie haben eine Biographie, die wir in unserem Land viel öfter brauchen. Nicht, dass alle irgendwann einmal Bundestagspräsidentin werden müssen. Aber wovon wir mehr brauchen, das sind Frauen und Männer wie Sie, die mit ihrem Lebensweg, ihrer Karriere dafür stehen, dass in unserem Land jede und jeder eine Chance bekommt. Das tut unserem Land gut, und das tut der Demokratie gut. Und noch etwas ist mir wichtig: Sie haben Ihre Herkunft auf diesem Weg auch nie vergessen. Im Gegenteil: Sie sind in Ihrer Heimatstadt Duisburg fest verwurzelt und haben soziale Gerechtigkeit zu einem Schwerpunkt Ihrer politischen Arbeit gemacht. Deshalb sage ich: Ihre Biographie straft all jene Populisten Lügen, die Politiker als eine abgehobene Elite verleumden – Sie sind eine Volksvertreterin im besten Sinne des Wortes.

Wir haben einander kennengelernt, als Sie 2009 erstmals für den Wahlkreis Duisburg kandidierten und dann direkt in den Bundestag gewählt wurden. Sie haben damals im Parlament da weitergemacht, wo Sie im Beruf aufgehört haben: Sie haben Ihre praktischen Erfahrungen im Gesundheitswesen in die Gesundheitspolitik eingebracht. Und Sie haben das so überzeugend gemacht, dass Sie bald mehr Verantwortung bekommen und übernommen haben: Sie wurden in den erweiterten Fraktionsvorstand gewählt, wurden Parlamentarische Geschäftsführerin und dann stellvertretende Fraktionsvorsitzende für Gesundheit, Bildung und Forschung. Das waren Sie auch während der Coronapandemie. Zielstrebig, hartnäckig, unprätentiös haben Sie gerade in dieser entscheidenden Phase für Ihre Überzeugungen gekämpft.

Sachlich, ruhig, klar – so sprechen Sie auch über Politik. Als Sie ins Amt der Bundestagspräsidentin gewählt wurden, gab es Kommentatoren, die Sie als Frau der Hauptsätze bezeichneten. Ich würde sagen: Sie sind eine Frau, die sich auf die Hauptsache konzentriert, auf das Entscheidende.

Für Sie ist seit dem ersten Tag im Amt entscheidend, dass möglichst viele Menschen in unserem Land verstehen, was ihre gewählten Vertreterinnen und Vertreter unter der Kuppel des Reichstagsgebäudes tun. Sie erklären die Demokratie. Und Sie tun das längst nicht nur vom Stuhl der Präsidentin aus, wenn Sie Sitzungen leiten. Sie nutzen auch außerhalb des Plenums alle Kommunikationsmittel, die Politik nahbarer, konkreter, vielleicht berührbar machen. Für Sie ist es selbstverständlich und essenziell, Volksvertreterin zu bleiben und zu sein – und das bedeutet eben auch, an einem Tag offiziell Staatsgäste zu empfangen und am nächsten Tag mit einer Schulklasse über die parlamentarische Arbeit zu diskutieren. Und wenn ich die wunderbaren Videos auf dem Instagramkanal der Bundestagspräsidentin sehe, dann meine ich immer ein begeistertes Blitzen in Ihren Augen zu erkennen. Sie erklären eben mit Leidenschaft Politik. Und dabei legen Sie besonderes Augenmerk gerade auf junge Menschen.

Ich bin persönlich dankbar für diesen besonderen Schwerpunkt, den Sie in Ihrer Arbeit – neben dem ohnehin übervollen Kalender einer Präsidentin, nicht nur in Sitzungswochen – setzen. Die Arbeit der demokratischen Institutionen nachvollziehbar zu machen, das Wesen und den Wert der Demokratie zu erklären, das ist eine Aufgabe, deren Bedeutung wir besonders in diesen Zeiten, in denen wir leben, überhaupt nicht überschätzen können.

Gerade jetzt, da populistische Kräfte die Sehnsucht nach einfachen Antworten befeuern, ist es wichtig, immer wieder klarzumachen: Demokratie heißt differenzieren. Das verbietet, alle über einen Kamm zu scheren oder Eindeutigkeit dort zu behaupten, wo die Unterschiede offenbar sind. Und einen eigentlichen „Volkswillen“, der von manchen zum Maßstab für die Richtigkeit von Entscheidungengemacht wird, diesen eigentlichen Volkswillen gibt es in der Demokratie nicht. In einer Demokratie gilt es, unterschiedliche Interessen auszugleichen, Kompromisse zu finden und, wenn irgendwie möglich, vielen gerecht zu werden.

All das erklären Sie wieder und wieder. Und das finde ich gut so. Denn Wissen heißt verstehen können, und das ist der beste Schutz gegen die Verachtung unserer repräsentativen Demokratie, die wir zu häufig spüren. Diese Verächter der Demokratie gibt es, auch bei uns, und nicht nur auf den Stufen des Reichstags haben wir sie gesehen.

In Ihrer Antrittsrede haben Sie genau dieser Tendenz den Kampf angesagt und erklärt: „Als Präsidentin werde ich dieses Parlament vor Angriffen schützen und die Demokratie gegen ihre Feinde verteidigen.“ Sie tun das, und auch darüber können wir alle froh sein, in einer großen Ruhe und Selbstverständlichkeit, mit Freundlichkeit, Klarheit und Geduld.

Demokratie ist nichts Gottgegebenes, so habe ich Stieg Larsson zitiert. Demokratie ist in der Tat etwas Menschengemachtes – Demokratie wird von Menschen wie Ihnen gemacht, liebe Frau Bas. Vielen Dank für Ihren Einsatz für unsere Demokratie, für Zusammenhalt und für unser Land.

Und nun freue ich mich, Ihnen für Ihre Verdienste das Großkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland zu verleihen.