Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Herzlichen Dank für Ihre guten Wünsche für das neue Jahr.

Es war 1948, vor 75 Jahren, kurz nach dem Ende der düstersten Epoche der Menschheitsgeschichte, als die Welt zwei leuchtend helle Sätze geschenkt bekam. Sie lauten: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geiste der Brüderlichkeit begegnen.“

Diese beiden Sätze, Sie wissen es, Exzellenzen, stammen aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen (VN). Die Verabschiedung dieses epochalen Werks jährt sich 2023 zum 75. Mal. Natürlich ist es leicht, nach Hunderten von schweren Krisen, Konflikten und Kriegen seit 1948, erst recht jetzt, nach dem brutalen russischen Überfall auf die Ukraine, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als bedrucktes Papier ohne reale Wirkung abzutun. Aber ich bin überzeugt: Das wäre ganz falsch.

Die Menschen, die 1989/1990 die Diktaturen des Ostblocks zum Einsturz brachten, sie konnten aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Kraft ziehen, erst recht, nachdem selbst Moskau und die anderen kommunistischen Mächte sie in der Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa anerkannt hatten.

Heute geben sie den Menschen in der Ukraine Kraft, die für Freiheit, Selbstbestimmung und Menschenwürde kämpfen und die mutig der russischen Invasionsarmee widerstehen. Das beeindruckt mich. Und das beeindruckt die ganze Welt.

Ja, 2022 war ein dunkles Jahr. Aber wir haben in diesem zurückliegenden Jahr auch eines erfahren: Der Wille zur Freiheit ist untrennbarer Teil der menschlichen Natur. Menschen wollen frei sein. Und daraus ziehen sie Kraft.

In diesem so bedrückenden Jahr 2022 sind Dinge geschehen, die wir nicht vergessen sollten: Ein freies Land behauptet sich mit großem Mut gegen eine große Militärmacht und zeigt der Welt, dass die Demokratie sich zu wehren weiß gegen die Feinde der Freiheit. In den VN hat eine beeindruckende Mehrheit der Staaten der Welt sich gegen Russlands Angriffskrieg gestellt. Die Wahlen in den Vereinigten Staaten von Amerika haben jene geschwächt, die Wahlergebnisse leugnen, Misstrauen säen und die Demokratie angreifen. Die Sehnsucht nach Freiheit hat mutige Menschen selbst unter den größten Drohungen der Diktatur auf die Straßen und Plätze gebracht. Wir haben erlebt und erleben es noch, dass niemand die Kraft des Rechts und der Demokratie unterschätzen sollte.

Die Menschenrechte sind universell. Sie kennen keine Himmelsrichtung, sie sind keiner Kultur und keiner Religion fremd. Das beweist die Entstehungsgeschichte der Allgemeinen Erklärung: Dem Gremium, das die 30 Artikel damals 1948 erarbeitete, gehörte zum Beispiel der Chilene Herman Santa Cruz an. Die Inderin Hansa Mehta. Ein griechisch-orthodoxer Christ war genauso Teil der Kommission wie ein konfuzianischer Gelehrter aus China. Sie alle steuerten etwas bei. Indische Gelehrte erkannten in der Erklärung hinduistische Freiheitsideale wieder; ein muslimischer Intellektueller sah das Diskriminierungsverbot des frühen Islam verwirklicht. Sie alle konnten sich mit den Werten des Textes der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte identifizieren. Denn diese gelten für alle Menschen, egal auf welchem Kontinent sie leben.

Angesichts des Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist heute meine Bitte an Sie als Diplomatinnen und Diplomaten: Erinnern wir uns daran, was vor 75 Jahren möglich war! Stärken wir das Gemeinsame! Und all diejenigen, die die Freiheit mit Füßen treten, sollten wissen: Wir stehen fest an der Seite derer, die für ihre Menschenrechte kämpfen.

Vor gut einer Woche bin ich aus Brasilien wiedergekommen, wo ich an der Amtseinführung des neuen Präsidenten Lula da Silva teilnehmen konnte. Und wir alle haben nur wenige Tage später die Bilder vom gewaltsamen Sturm auf das Parlament und den Regierungssitz des Landes gesehen. Was in Brasilia wenige Tage nach einem demokratischen Amtswechsel geschah, war ein ungeheuerlicher Angriff auf die Demokratie selbst. Ich verurteile diese Taten aufs Schärfste. Ich bin froh, wie rasch sich die internationale Staatengemeinschaft hinter dem demokratisch gewählten Präsidenten Brasiliens und den demokratischen Institutionen des Landes versammelt hat. Demokraten müssen weltweit zusammenstehen!

Bei meinem Besuch in Brasilien habe ich mir in der Amazonasregion auch ein Bild vom Zustand des tropischen Regenwalds machen können. Wir wissen, er ist die grüne Lunge unseres Planeten, und er ist gleichzeitig bedroht. Ich bin sehr froh, dass Präsident Lula versprochen hat, die Abholzung und Brandrodung in Brasilien bis 2030 zu stoppen. Brasiliens Regierung schützt damit nicht nur den Regenwald. Sie schützt auch uns. Sie schützt Europa, sie schützt Amerika, sie schützt Asien und Afrika und Ozeanien.

Wie kaum ein anderes Thema zeigt der Klimawandel, dass wir zur Zusammenarbeit verpflichtet, dass wir miteinander verbunden sind und uns deshalb verbünden müssen. Ich empfinde es als ein ermutigendes Zeichen, dass sich zweihundert Staaten auf dem Biodiversitätsgipfel der VN auf ein Abkommen einigen konnten, das das weltweite Artensterben und die weltweite Zerstörung von Ökosystemen stoppen soll. Auch das zeigt: Kooperation zum Nutzen aller ist nicht nur dringend notwendig, sondern auch möglich. Wir brauchen mehr von solchen ermutigenden Zeichen!

Der französische Literat und Politiker Léon Blum wurde einmal gefragt, warum er, angesichts des Leids in der Welt und des Leids, das er selbst durch das Naziregime erfahren hatte, weiterhin an eine bessere Welt glaube. Er sagte: „Ich glaube es, weil ich es hoffe.“

Machen wir 2023, das Jahr des Jubiläums der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, zu einem Jahr der Freiheit, der Zusammenarbeit und der Zuversicht – und arbeiten wir jeden Tag daran, dass unsere Hoffnung tatsächlich begründet ist!

Vielen Dank.