Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Wer in einem Berliner Schloss über den Staat und über Lektionen spricht, der kommt an Hegel nicht vorbei. Mit Blick auf die Lernfähigkeit von Gesellschaften hat der große preußische Staatsphilosoph ein ebenso düsteres wie strenges Urteil gefällt: „Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren“, schrieb Hegel, „ist dieses, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.“

Nun ist die Coronapandemie, wie wir in diesem Herbst schmerzlich erfahren, noch nicht Geschichte, sie bestimmt auch in diesen Tagen unsere Gegenwart. Aber wenn wir Hegels Pessimismus widerlegen und Lehren aus dieser Krise ziehen wollen, dann dürfen wir keine Zeit verlieren. In diesen Wochen, in denen uns die vierte Welle mit brutaler Härte trifft, in denen auf den Intensivstationen wieder Tausende mit dem Virus ringen, in denen sich Kinder, Jugendliche, vor allem viele Ungeimpfte anstecken, in diesen Wochen müssen wir mehr tun, um diese Welle zu brechen. Aber in diesen Wochen wird uns eben auch sehr bewusst, dass wir jetzt beginnen müssen, für die Zukunft vorzusorgen.

Heute Vormittag wollen wir vor allem darüber sprechen, was unser demokratischer Staat tun und leisten kann. Unter dem Eindruck der dramatischen Coronalage will ich mich aber noch einmal kurz direkt an die Bürgerinnen und Bürger wenden.

Die vierte Welle trifft unser Land härter, als sie uns treffen müsste. Denn wir wissen doch, was zu tun ist, um diese Pandemie endlich hinter uns zu lassen. Wir können es alle wissen. Die allermeisten Menschen in unserem Land lassen sich impfen, um sich und andere zu schützen. Diejenigen, die sich nicht impfen lassen, setzen ihre eigene Gesundheit aufs Spiel, und sie gefährden andere. Es sind vor allem Ungeimpfte, die sich in diesem Herbst mit dem Virus infizieren. Es sind vor allem Ungeimpfte, die auf den Intensivstationen um ihr Leben kämpfen.

Wenn ich höre, dass Menschen, die im Krankenhaus mit dem Virus ringen, noch immer bestreiten, dass es dieses Virus gibt, dann erschüttert mich das zutiefst. Es ist tragisch und besorgt mich zutiefst! Wer jetzt immer noch zögert, sich impfen zu lassen, den will ich heute ganz direkt fragen: Was muss eigentlich noch geschehen, um Sie zu überzeugen? Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie sich impfen! Es geht um Ihre Gesundheit, und es geht um die Zukunft unseres Landes!

Fast zwei Jahre nach dem Ausbruch des Virus, in der rasanten Dynamik der vierten Welle, zu Beginn einer neuen Legislaturperiode, gerade jetzt ist die Gelegenheit günstig, um erste Schlüsse zu ziehen und uns für künftige Krisen zu wappnen.

Denn wir wissen auch: Ganz falsch lag Hegel nicht. Unser Krisengedächtnis ist ein Kurzzeitgedächtnis; wir verdrängen und vergessen schlechte Erfahrungen schnell, kehren gern in alte Bahnen zurück, und die öffentliche Aufmerksamkeit richtet sich schon bald auf das nächste und auf das übernächste Thema. Schon jetzt müssen wir uns fragen, ob wir – wir alle, in Politik und Gesellschaft – aus der zweiten und dritten Welle wirklich genug lernen wollten, ob nicht der Wunsch, die Gedanken an die Seuche endlich zu verbannen, einer konsequenten Abwehr der vierten Welle im Weg stand. Umso wichtiger ist es, dass wir die tiefgreifenden Erfahrungen dieser Wochen und Monate in Erinnerung bewahren, um Krisenvorsorge auch in „normalen Zeiten“ nicht zu vernachlässigen. Aus den Augen, aus dem Sinn – das wäre jedenfalls die kurzsichtigste Haltung nach dieser Pandemie!

Wie wichtig es ist, dass staatliche Institutionen, die für den Normalfall gebaut sind, im Krisenfall schnell und gut reagieren können, das haben wir auch in diesem Sommer bei der Flutkatastrophe im Ahrtal gesehen. Im Zeitalter der Erderwärmung muss unser Staat auf weitere Umweltkatastrophen vorbereitet sein, er muss auf weitere Pandemien vorbereitet sein, und er muss – paradoxerweise – auch auf Krisen vorbereitet sein, deren Art und Ausmaß wir noch gar nicht kennen können. Gerade weil wir nicht genau wissen, was auf uns zukommt, gerade deshalb müssen wir versuchen, Gefahren zu antizipieren und mit robuster Infrastruktur vorzusorgen.

In den letzten Jahren stand unser Staat fast ständig unter Krisendruck. Finanzmarkt- und Schuldenkrise, Flucht- und Migrationskrise, Klimakrise, Coronakrise – all das hat dazu geführt, dass sich in Teilen unserer Gesellschaft ein allgemeines Krisengefühl breitgemacht hat. Und es ist dieses Krisengefühl, das bei manchen die Sehnsucht nach populistischer oder auch nur nach technokratischer oder expertokratischer Politik wachsen lässt.

Während die einen auf eine autoritäre Führung hoffen, die den vermeintlich einheitlichen Willen des Volkes umsetzt, den das „Establishment“ in Politik, Medien und Wissenschaft regelmäßig verrate, wollen die anderen die Politik zum bloßen Vollzugsorgan einer angeblich eindeutigen wissenschaftlichen Wahrheit machen, um schnell und kompromisslos handeln zu können. Populisten und Technokraten, die ich hier als Idealtypen verstehe, unterscheiden sich natürlich mit Blick auf Werte, Wege und Ziele, aber sie haben auch unübersehbare Ähnlichkeiten: Beide scheinen das Ringen um Kompromisse und Mehrheiten in den Institutionen der repräsentativen Demokratie für eine Schwäche zu halten; und beide rechtfertigen ihre Politikvorstellung damit, dass existenzielle Gefahren abzuwehren sind.

Auch deshalb ist es wichtig, dass wir in der Demokratie vorsichtig mit dem Krisenbegriff umgehen und nicht ständig die Rede vom Staatsversagen pflegen, damit nicht schon allein durch die Rhetorik der Eindruck erweckt wird, der Notstand sei ein Dauerzustand und die Demokratie sei systematisch überfordert, geradezu ohne Lösungskompetenz. Erstens stimmt dieser Befund meines Erachtens nicht, aber zweitens ist trotzdem wichtig, dass wir aus der Pandemie lernen und unseren demokratischen Staat so weiterentwickeln, dass er auf die großen Herausforderungen der Zukunft noch kraftvoller reagieren kann, gerade weil er auf Freiheit und Gleichheit setzt, auch in schwierigen Zeiten.

„Was kann der Staat?“ – das ist heute unser Thema hier beim zwölften „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“. Ich freue mich, dass wir – geimpft, genesen und außerdem getestet – zusammenkommen konnten, und ich freue mich ganz besonders auf meine drei Gäste: die Medizinethikerin und Vorsitzende des Deutschen Ethikrats Alena Buyx, die Rechts- und Verwaltungswissenschaftlerin Laura Münkler und die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtags, Aminata Touré. Ein herzliches Willkommen Ihnen dreien! Und ein ebenso herzliches Willkommen Ihnen allen, die Sie hier im Saal sind, und denjenigen, die uns am Screen zuschauen.

Die Pandemie hat unseren demokratischen Rechts- und Sozialstaat auf harte und neuartige Belastungsproben gestellt. Nach dem Ausbruch des Virus mussten Bund und Länder in kürzester Zeit und unter größter Unsicherheit handeln, um die Pandemie einzudämmen und den Schutzauftrag des Staates zu erfüllen. Zugleich musste – und muss – die Politik immer wieder abwägen, ob und in welchem Ausmaß Einschränkungen von Freiheitsrechten erforderlich und noch angemessen sind. Sie muss Ungerechtigkeiten ausgleichen und sich um diejenigen kümmern, die von Kontaktbeschränkungen, von geschlossenen Schulen, Geschäften und Kultureinrichtungen besonders hart getroffen wurden. Und sie muss unter schwierigsten Bedingungen den gesellschaftlichen Zusammenhalt bewahren.

In unserem Staat, der eben, anders als bei Thomas Hobbes, kein allmächtiger „Leviathan“ ist, sondern eine föderale Res Publica, in diesem Staat müssen politische Entscheidungen im Zusammenspiel von Regierungen und Parlamenten, Bund und Ländern demokratisch legitimiert sein und dazu auch noch einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung standhalten.

Im Kampf gegen das Virus steht nicht zuletzt die Verwaltung in Bund, Ländern und Kommunen unter Dauerstress. Ob Gesundheitsämter, Schulbehörden oder Robert-Koch-Institut, ob Bundesanstalt für Arbeit, Studierendenwerke oder Kreditanstalt für Wiederaufbau – die unterschiedlichen staatlichen Einrichtungen waren und sind gefordert, um Hygienekonzepte zu entwickeln, die Impfkampagne ins Rollen zu bringen, digitalen Unterricht zu ermöglichen, Anträge auf staatliche Hilfen zu bearbeiten und vieles andere mehr.

Es ist vor allem die Leistungsfähigkeit unseres Staates, die in dieser außergewöhnlichen Lage im Fokus steht. In den letzten Monaten haben wir einen tiefen Einblick in die Werkstätten der Politik und die Maschinenräume der Verwaltung gewinnen können: Das Ringen zwischen Exekutive und Legislative, Bund und Ländern; der öffentliche Streit um Einschränkungen und Lockerungen; auch Pannen beim Testen und Impfen – all das hat das Vertrauen in Staat und Demokratie auf die Probe gestellt. Entscheidend für dieses Vertrauen, das erleben wir, ist das Bild, das unser Staat in seiner Gesamtheit abgibt. Vertrauen in der Demokratie ist kein blindes Vertrauen von Untertanen, sondern kritisches Vertrauen selbstbewusster Bürgerinnen und Bürger, ein Vertrauen, das auf Skepsis und Urteilskraft, auf Selbstvertrauen dieser Bürgerinnen und Bürger setzt.

Die Pandemie führt uns vor Augen, was der Staat kann – auch dank seiner verantwortungsvollen und engagierten Bürgerinnen und Bürger, dank seiner herausragenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, dank seiner Wirtschaftskraft, seiner politischen Ordnung, seines Gesundheitssystems. Das ist das eine.

Aber natürlich hat die Krise auch Schwächen unseres Staates, die es schon vor Corona gab, schonungslos offengelegt, „wie unter einem Brennglas“ – diese alte Metapher hat in den letzten Monaten ein ganz erstaunliches Comeback erlebt. Defizite bei Vorsorge und Vorausschau, Rückstände bei der Digitalisierung, hakende Abläufe in verflochtenen Institutionen – all das trägt dazu bei, dass Möglichkeiten nicht ausgeschöpft werden, dass es oft zu lange dauert, bis wir umsetzen können, was wir schon als richtig erkannt haben. Corona führt uns auch vor Augen, wodurch wir uns in unserem Land oft selbst schwächen: manchmal durch Angst vor Neuem; manchmal durch den Hang, alles regeln zu wollen; manchmal durch die Suche nach Schuldigen statt nach Lösungen oder durch das Hin- und Herschieben von Verantwortung zwischen den verschiedenen staatlichen Ebenen.

Wenn wir aus der Pandemie lernen wollen, dann müssen wir die strukturellen Schwachstellen unseres demokratischen Staates in den Blick nehmen. Und genau das wollen wir gleich auf dem Podium heute Morgen miteinander tun.

Ein Thema, das mir dabei besonders am Herzen liegt, ist das Verhältnis von Wissenschaft und Politik, Wissenschaft und demokratischer Politik. Die Pandemie hat uns gelehrt, dass politische Entscheidungsträger auf wissenschaftlichen Rat angewiesen sind, besonders dann, wenn sie komplexe Probleme mit geeigneten Mitteln lösen wollen. Sie hat uns aber auch sehr bewusst gemacht, dass politische Entscheidungen sich nicht einfach aus wissenschaftlichen Erkenntnissen ergeben, dass sie sich aus Zahlen und Kurven jedenfalls nicht ohne Weiteres ableiten lassen.

Politikerinnen und Politiker müssen sich an wissenschaftlichem Wissen orientieren, aber sie müssen in der Demokratie noch viel mehr tun: Sie müssen Werte abwägen, Interessen ausgleichen, Kompromisse erzeugen, Mehrheiten überzeugen, nach bestem Wissen und Gewissen entscheiden, Entscheidungen öffentlich begründen und natürlich Verantwortung für die Folgen jeder ihrer Handlungen, jeder ihrer Entscheidungen übernehmen.

Durch dieses Verfahren ist politische Macht in der Demokratie legitimiert. Demokratie bietet Raum für den Streit und unterschiedliche Überzeugungen. Es gibt zurzeit viele, die hoffen, dass sich demokratischer Streit durch wissenschaftliche Erkenntnis ersetzen ließe. Ich habe da, um das offen zu sagen, meine Zweifel! Mehr noch: Ich befürchte, schon im Frühjahr 2020, also vor weit mehr als einem Jahr, begann das Verhältnis von Wissenschaft und Politik mit einem Missverständnis, mit einem Missverständnis, das zu einer Enttäuschung geronnen ist. Viele hofften damals offenbar, dass der vielstimmige politische Streit, den es gab, Streit um richtige Maßnahmen, um Schärfung oder Lockerung, dass dieser Streit endlich abgelöst wird durch Einstimmigkeit und Eindeutigkeit wissenschaftlicher Empfehlungen. Aber die Wissenschaft tat, was wir ja auch außerhalb von Krisenzeiten von ihr erwarten: Sie diskutierte über den richtigen Weg, über die Vorläufigkeit ihrer Annahmen, und das eben auch mit unterschiedlichen Repräsentanten und wachsender Schärfe auch vor laufenden Kameras, über Wochen und Monate, für ein großes Publikum dokumentiert in zahllosen Sondersendungen der Fernsehanstalten.

Wissenschaft, das führt uns Corona plastisch vor Augen, gibt es nur im Plural ihrer Disziplinen, Fragen und Methoden. Sie produziert keine absoluten Gewissheiten, sondern spezielles, methodisch gewonnenes, dadurch verlässliches und überprüfbares Wissen, das immer unter dem Vorbehalt steht, dass man es morgen möglicherweise besser weiß.

Die „Annäherung an die Wahrheit“, von der Karl Popper sprach, dieser Erkenntnisfortschritt ist überhaupt nur möglich, wenn Wissenschaft als nie abgeschlossener Lernprozess verstanden wird. Dabei gibt es gut überprüfte Erkenntnisse, die sich entweder experimentell immer wieder bewahrheiten – niemand bei Sinn und Verstand würde die Schwerkraft anzweifeln – oder die sich aus Daten speisen und im Rechenmodell immer wieder überprüfbar sind, wie den Klimawandel. Die Vernunft gebietet, diesen Einsichten zu folgen, auch wenn sie eigene Bequemlichkeitserwartungen infrage stellen und Verhaltensänderungen nahelegen. Und doch: Dass sehr viele wissenschaftliche Antworten eben keine ewigen Wahrheiten sind, das mindert nicht ihren Wert, sondern verweist auf das Bewegungsprinzip des Fortschritts. Erst Zweifel und Kritik, Versuch und Irrtum, der Wettstreit um Theorien und Methoden führen zu neuen, auch gemeinsamen Erkenntnissen.

Eben diese Kultur des rationalen Streits haben Wissenschaft und demokratische Politik, wie ich finde, durchaus gemeinsam. Aber trotz dieser Gemeinsamkeit beruhen Wissenschaft und demokratische Politik eben auf unterschiedlichen Logiken, und die Pandemie hat uns gelehrt, dass wir diese Unterschiede nicht nur respektieren, sondern auch öffentlich sichtbar machen müssen – gerade dann, wenn Wissenschaftler die Politik beraten. Wir dürfen die Grenzen zwischen diesen beiden Sphären nicht verwischen, und wir dürfen die Perspektiven der Wissenschaft und die Anforderungen demokratischer Politik vor allen Dingen nicht gegeneinander ausspielen.

Demokratische Politiker müssen den Rat von Wissenschaftlern einholen, sie müssen unterschiedliche Disziplinen einbeziehen, Virologen und Mediziner ebenso wie Philosophen, Psychologen, Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler, Rechtswissenschaftler, und sie müssen deren Expertise auch gegen Leugner, Stimmungsmacher und Populisten verteidigen. Und doch dürfen Politiker diejenigen, die sie zu ihren Beratern machen, nicht überfordern; sie dürfen den politischen Charakter ihrer Entscheidungen nicht verschleiern, weil sie am Ende immer nur auf die wissenschaftliche Position verweisen können, die ihnen am überzeugendsten und am stärksten abgesichert erscheint, woran insbesondere Laura Münkler uns jüngst erinnert hat.

In der Pandemie erleben wir, wie wichtig es ist, dass Politiker offenlegen, welche Experten sie in die Entscheidungsfindung einbeziehen, welche Fakten und Werturteile sie berücksichtigen, welche Unsicherheiten und Ungewissheiten es gibt. Und wir erleben auch, dass Wissenschaftler eine besondere Verantwortung für die Demokratie tragen. Auch sie müssen sich ihrer Rolle bewusst sein und demokratische Verfahren respektieren. Wenn sie die Politik beraten, dann sollten sie nicht wie Aktivisten auftreten; und wenn sie sich in die öffentliche Debatte einmischen, dann sollten sie nicht den Eindruck erwecken, sie seien die besseren Politiker. Sie sollten den Gegenstand der Erkenntnis ebenso wie seine Grenzen erklären und respektieren, dass in der politischen Entscheidung auch noch ergänzende Kriterien zu den in der eigenen Fachdisziplin gewonnenen Erkenntnissen Berücksichtigung finden können oder müssen.

Mit anderen Worten: Wo Politik sich hinter Wissenschaft versteckt oder umgekehrt, wo Wissenschaft sich an die Stelle der Politik setzt, wo Politiker und Wissenschaftler sich gegenseitig benutzen, um ihre Ziele durchzusetzen, da schwächen wir das Vertrauen sowohl in Wissenschaft wie in Demokratie. Wenn sie aber die Eigenlogiken beider Sphären anerkennen und sichtbar machen, dann können wir dieses Vertrauen sogar stärken. Und wir brauchen dieses Vertrauen in Wissenschaft und in Demokratie, wir brauchen sogar absehbar mehr davon, weil wir mit immer komplexeren Herausforderungen konfrontiert sein werden.

Wir wollen heute auch über das Zusammenspiel von Regierungen und Parlamenten, von Bund und Ländern sprechen, das in der Pandemie hin und wieder auch zum Streitfall geworden ist. Ob es zu Beginn ein „Durchregieren“ der Exekutive gab, wie oft behauptet wurde, wird eine Frage sein, die wir diskutieren. Ob es eine Stärke unseres föderalen Bundesstaats ist, wenn Länder und Kommunen so vorgehen können, wie es das Infektionsgeschehen in ihrer Region jeweils erfordert, oder ob Spielräume und Regulierungsvielfalt eher irritieren und Akzeptanz kosten, auch das ist eine offene Frage. Eine Frage übrigens, die sich schon wieder sehr konkret in dieser Woche stellt, wenn die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten sich erneut treffen, um über gemeinsame Schritte im Kampf gegen die vierte Welle zu beraten.

Ich komme zum Ende: Unser drittes großes Thema ist heute die Modernisierung des Staates. Die Pandemie hat auch denen, die es lange nicht glauben wollten, klargemacht, dass wir unsere Verwaltung dringend auf die Höhe der Zeit bringen müssen. Der Staat muss handlungsfähiger, beweglicher, innovationsoffener werden. Und er muss vor allem digitaler werden. Ob es um Werkzeuge geht, um Kompetenzen oder Arbeitsmethoden: Der digitale Rückstand in Behörden, an Schulen, im Gesundheitssystem, dieser Rückstand ist nicht nur zu bedauern, er ist manchmal sogar beschämend, und die Bemühungen, diese Defizite zu beheben, kommen objektiv zu langsam voran. Wir brauchen deshalb einen neuen Anlauf zur Modernisierung unseres Staates, und ich freue mich, dass dieses Thema mittlerweile ganz oben auf der politischen Agenda steht, fast unabhängig von Parteien und Koalitionen.

Anders als Hegel bin ich überzeugt: Unsere Gesellschaft hat die Kraft, Lehren aus dieser Krise zu ziehen. Deshalb will ich zum Schluss, hier in diesem Berliner Schloss, einen anderen preußischen Zeitgenossen zitieren, nämlich Wilhelm von Humboldt, den preußischen Gelehrten und Staatsmann. Dessen Credo lautete: „Immer im Forschen bleiben.“ Ich finde, das ist ein schönes Motto für unser „Forum Bellevue zur Zukunft der Demokratie“. Und jetzt freue ich mich auf das Gespräch!