bei der Veranstaltung „1918 – 1938 – 1989: Gedenken zum 9. November“ am 9. November 2021 in Berlin:
- Bulletin 136-4
- 9. November 2021
„Ich weiß bestimmt, ich werd’ dich wiedersehen.“ Ja, genau so ist es geschehen für Roland Jahn und seine Familie in der DDR und für so viele andere Deutsche aus Ost und West, die sich in der Nacht vom 9. November 1989 und in den Tagen und Wochen danach überglücklich in die Arme fielen. Aber so ist es nicht geschehen für Margot Friedländer, die ihre Liebsten niemals wiedersah. Ihre Mutter, ihren Vater, ihren Bruder – sie alle hat Margot Friedländer in den Vernichtungslagern verloren. Es ist auch nicht so geschehen für Adolf Strauss, den Komponisten des eben gehörten Liedes. Er hat es 1943 im Konzentrationslager Theresienstadt geschrieben. Wenige Monate später wurde er in Auschwitz ermordet.
Frau Bundeskanzlerin,
Frau Bundestagspräsidentin,
Herr Bundesratspräsident,
Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichts!
Verehrter Präsident des Europäischen Rates, lieber Charles Michel!
Verehrte Abgeordnete und Vertreter der Religionsgemeinschaften!
Sehr geehrte Gäste,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger an den Bildschirmen!
Ich begrüße Sie herzlich im Schloss Bellevue an diesem besonderen Tag, dem 9. November.
1918, 1938, 1989: Unsere Gäste haben heute Vormittag drei sehr persönliche, sehr bewegende Schlaglichter geworfen, und ich möchte ihnen dafür danken. Emilia Fester, der jüngsten Abgeordneten des Deutschen Bundestages, die Philipp Scheidemanns Stimme neu hat erklingen lassen. Roland Jahn, den wir erst kürzlich als Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen verabschiedet haben. Und Margot Friedländer, die vor wenigen Tagen ihren einhundertsten Geburtstag gefeiert hat; wir sind unendlich dankbar, Sie unter uns zu haben, und das nicht nur an diesem Tag. Liebe Margot Friedländer, Sie sind ein Segen für unser Land!
1918, 1938, 1989: Der 9. November hat tiefe Spuren hinterlassen auf dem verschlungenen Pfad des 20. Jahrhunderts. Ihre Beiträge haben uns eine Ahnung davon gegeben – und auch von der inneren Verbindung zwischen diesen Daten, von der politischen Sogwirkung des 9. November, die er seit 1918 entfaltet hat. Nicht ohne Grund wählten die Nationalsozialisten den Jahrestag der Ausrufung der Republik, um ihren ersten großen Angriff auf die ihnen so verhasste Demokratie zu starten – den sogenannten Hitler-Putsch vom 9. November 1923.
Und so wie der 9. November lange Schatten wirft, so hat auch er selbst eine lange Vorgeschichte. Wir können den 9. November im 20. Jahrhundert nicht verstehen ohne einen tieferen Blick zurück – einen Blick auf die Wurzeln der Freiheits- und Demokratiebewegung im 19. Jahrhundert und auf ihre Gegenkräfte, auf Restauration, Antiliberalismus und Großmannssucht. 1848 fiel diesen Gegenkräften der Paulskirchen-Demokrat Robert Blum zum Opfer, standrechtlich erschossen an einem weiteren 9. November, der heute zumindest erwähnt sein soll.
Von diesen historischen Wurzeln, von den Vorboten der Freiheit und Demokratie haben wir heute auch gehört, und zwar in Form von Kunstliedern des 19. Jahrhunderts, die ein wahrer Kulturschatz unseres Landes sind. Ich danke Benjamin Appl und Wolfram Rieger für ihre wunderbare Darbietung und Almut Lustig für die Untermalung am Schlagwerk.
Was also ist uns Deutschen dieser Tag, dieser 9. November? Was kann, was soll er uns bedeuten?
Der 9. November ist gewiss kein Feier-Tag, kein Tag für Feuerwerke und Militärparaden, so wie unsere Freunde in Amerika am 4. Juli oder unsere Nachbarn in Frankreich am 14. Juli ihr Land feiern. Er ist auch nicht ein Gedenk-Tag in dem Sinne, dass wir uns mit ernster Miene zusammenfinden zu einem eingeübten und manchmal etwas starren Ritual. Der 9. November ist, wie ich finde, auch kein „Schicksalstag“, so gern dieser Begriff auch Jahr um Jahr bemüht wird. Schicksal, das klingt nach Vorsehung, nach höherer Gewalt. Nein, am 9. November waren immer menschliche Kräfte am Werk. Kräfte des Fortschritts – und der Barbarei. Kräfte der Befreiung – und des Unrechts. Und gerade, weil es um menschliches Handeln geht, um das, was Deutsche getan haben und was wir daraus lernen für unser Handeln, gerade deshalb ist der 9. November ein bedeutsamer Tag.
Warum aber spielt ein Tag von diesem Gewicht bislang nur eine untergeordnete Rolle in unserem öffentlichen Gedenken? Vielleicht schien es lange schlicht unmöglich, dem 9. November gerecht zu werden. Gerade weil er so viel bedeutet. Gerade weil er uns verunsichert. Dem 9. November auszuweichen mag verständlich sein. Doch wir sollten uns ihm stellen – mit all seinen Widersprüchen.
Der 9. November ist ein ambivalenter Tag, ein heller und ein dunkler Tag. Er macht uns Herzklopfen und treibt uns Tränen in die Augen. Er lässt uns hoffen auf das Gute, das in unserem Land steckt, und er lässt uns verzweifeln im Angesicht seiner Abgründe. Vielleicht ist der 9. November gerade deshalb ein sehr deutscher Tag; ein Tag, der wie kaum ein anderer Auskunft über unser Land gibt. In meinen Augen ist der 9. November der deutsche Tag schlechthin.
Die Ambivalenz, die Zerrissenheit, die Freude und das Leiden an Deutschland hat wohl kein Meister der deutschen Sprache in solch zeitlose Worte gefasst wie Heinrich Heine, der große deutsche jüdische Dichter. Seine Worte, vertont von Robert Schumann, haben wir heute Vormittag zuallererst gehört:
„Die alten, bösen Lieder,
Die Träume, bös’ und arg,
Die lasst uns jetzt begraben,
Holt einen großen Sarg. […]
Wisst ihr, warum der Sarg wohl
So groß und schwer mag sein?
Ich senkt’ auch meine Liebe
Und meinen Schmerz hinein.“
Bis heute steckt in diesem Bild eine Versuchung: ein großer Sarg für das Vergangene, für Liebe und für Leiden, tief versenkt ins Meer des Vergessens. Das ist eine gefährliche Versuchung.
Warum? Auf meinen Reisen als Präsident und vorher als Außenminister dieses Landes bin ich immer wieder mit dem Blick der anderen auf uns Deutsche konfrontiert. Nicht selten begegnet mir da ein bestimmtes Bild von uns, ein Klischee vielleicht: Die Deutschen seien verschlossen und distanziert, gerade wenn es um ihr Verhältnis zum eigenen Land geht. Sie seien steif, humorlos natürlich und irgendwie emotionsarm. Ich glaube, das Bild ist falsch. Ich glaube, wir Deutsche haben viele Gedanken und Gefühle, wenn es um unser Land geht. Wir wissen nur oft nicht, wohin damit.
Der 9. November rückt diese Schwierigkeit ins Brennglas eines einzigen Tages: Was kann, was darf ein Tag uns bedeuten, an dem Freude und Leid, Aufbruch und Abgrund so jäh aufeinandertreffen? Welchen Sinn kann solch ein Tag stiften, ein Tag, der, wie Heribert Prantl geschrieben hat, nicht nur im Licht, sondern auch im Zwielicht steht? Ich bin überzeugt: Gerade in seiner Ambivalenz ist der 9. November ein Tag, der uns viel zu sagen hat.
1938 erinnert uns an das Menschheitsverbrechen der Shoah, an sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden. Dieser Tag erinnert uns an ein Mädchen wie Margot Friedländer, das beschimpft und bedroht wurde, an ganze Familien, die erst ausgegrenzt, dann entrechtet, verfolgt und schließlich ermordet wurden. Und er erinnert uns an Millionen Deutsche, die mittaten oder mitwussten, die wegschauten oder denunzierten.
1938 mahnt uns zu Wachsamkeit und Zivilcourage. 1938 mahnt uns, aufzustehen gegen Antisemitismus, gegen Hass und Hetze, wo immer sie sich heute zeigen. Die Erinnerung an die Shoah ist durch nichts zu relativieren, und unsere Verantwortung kennt keinen Schlussstrich!
1918 und 1989 erinnern uns, dass Freiheit und Demokratie nicht vom Himmel fielen und niemals auf ewig gesichert sind. 1918 und 1989 zeigen uns den ungeheuren Mut von Demokratinnen und Demokraten – einen Mut, an dem wir uns Beispiel nehmen können.
Gerade weil der 9. November für all das steht, gerade weil er keine Eindeutigkeit und keine Gewissheit gibt, sagt er viel über unser Land. Deutschland, wie es heute ist, kann man nicht verstehen ohne die Schatten des Nationalsozialismus, des Vernichtungskrieges und der Shoah. Aber die Liebe zur Freiheit und der Mut zur Demokratie, auch sie sind tief verwurzelt in unserer Geschichte. Auch aus diesen Wurzeln konnte die Bundesrepublik nach 1945 wachsen und gedeihen.
Diese Ambivalenz auszuhalten, Licht und Schatten, Freude und Trauer im Herzen zu tragen, das gehört dazu, wenn man Deutscher ist. Das ist der Auftrag des 9. November. Und vielleicht ist es auch genau das, was unseren Patriotismus ausmacht: Wir können unser Land nur mit diesen Widersprüchen lieben – aber wir können es lieben. Wir können stolz sein auf die Wurzeln von Freiheit und Demokratie – ohne den Blick auf den Abgrund der Shoah zu verdrängen. Und wir können uns der Abgründe bewusst sein, wir können wachsam sein vor neuen Abgründen – ohne uns die Freude über das zu versagen, was geglückt ist in unserem Land.
Beides anzunehmen – Scham und Trauer über die Opfer und Respekt und Wertschätzung für die Wegbereiter unserer Demokratie –, darum muss es gehen. Das ist der Kern eines aufgeklärten Patriotismus: statt Posaunen und Trompeten ein Patriotismus der leisen Töne, statt Triumph und Selbstgewissheit ein Patriotismus mit gemischten Gefühlen.
So ein Patriotismus ist gewiss ein anderer, als andere Nationen ihn pflegen. Manche mögen darin eine Schwäche sehen. Ich persönlich bedaure das nicht. Der 9. November, dieser „deutsche Tag“, ist ein widersprüchlicher, aber ein besonders wertvoller Tag. Ich wünsche mir, dass wir ihn als solchen begehen, dass wir ihn näher an uns heranlassen als Tag zum Nachdenken über unser Land.
Wenn uns das gelingt, dann dürfen wir heute miteinander jene Hoffnung erneuern und bekräftigen, die Philipp Scheidemann am 9. November 1918 vom Reichstag ausgerufen hat: Es lebe die deutsche Republik! Es lebe die deutsche Demokratie!