Rede von Bundespräsident Dr. Frank-Walter Steinmeier

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Am 29. November 1938 nimmt sich die 76-jährige Lehrerin Hedwig Jastrow hier in Berlin das Leben, um nicht den Zwangsvornamen tragen zu müssen, den die Nazis für alle Jüdinnen und Juden angeordnet haben.

In ihrem Abschiedsbrief schreibt sie: „Wenn man nur keine Wiederbelebungsversuche anstellen wollte bei einem, der nicht leben will! Es liegt auch kein Unfall vor und kein Schwermutsanfall. Es geht jemand aus dem Leben, dessen Familie seit über 100 Jahren deutsche Bürgerbriefe besitzt, mit Bürgereid übergeben, der Eid stets gehalten. 43 Jahre lang habe ich deutsche Kinder unterrichtet und in allen Nöten betreut und noch viel länger Wohlfahrtsarbeit am deutschen Volk getan in Krieg und Frieden.

Ich will nicht leben ohne Vaterland, ohne Heimat, ohne Wohnung, ohne Bürgerrecht, geächtet und beschimpft. Und ich will begraben werden mit dem Namen, den meine Eltern mir teils gegeben und teils vererbt haben und auf dem kein Makel haftet. Ich will nicht warten, bis ihm ein Schandmal angehängt wird. Jeder Zuchthäusler, jeder Mörder behält seinen Namen. Es schreit zum Himmel!“

Am 2. November 1942 werfen Salomon und Hanna Gotlib, Eheleute aus den Niederlanden, eine Karte aus dem Deportationszug. Sie schreiben an ihre Tochter und ihren Schwiegersohn: „Liebe Kinder, wir sind auf dem Weg nach Birkenau, glauben wir. Auf jeden Fall sind wir auf dem Weg irgendwo hin. Kopf hoch! Das machen wir auch. Vater und ich sind zusammen und kommen wieder zurück. Verliert nicht den Mut! Eure Mutter und Euer Vater.“

Der Wehrmachtssoldat Paul Hohn, stationiert im weißrussischen Berasino, notiert am 31. Januar 1942 in sein Tagebuch: „Es ist 15 Uhr. Seit einer Stunde werden alle noch hier wohnenden Juden, 962 Personen, Frauen, Greise und Kinder erschossen. […]. Endlich. Ein Kommando von 20 Stapos vollzieht die Aktion. Zwei Mann schießen immer in Abwechslung. Die Juden gehen im Gänsemarsch durch zwei verschiedene Holzbuden […], um in der ersten die Wertsachen und in der zweiten die Kopftücher, Pelze, Stiefel abzulegen. Von dort einem Pfädchen durch den Schnee nach zur Grube, in die sie hintereinander hineinsteigen und der Reihe nach im Liegen erschossen werden. […] So wird die Pest ausgerottet. Vom Fenster meiner Arbeitsstelle ist das Getto auf 500 m zu sehen und Schreie und Schüsse gut wahrnehmbar. Schade, dass ich nicht dabei [bin].“

Drei Stimmen, die uns das Grauen der Schoah nahebringen, die uns erschüttern, ergreifen, entsetzen, abstoßen oder einfach nur fassungslos machen. Drei von mehr als 5.000 Zeugnissen aus der Edition über „Die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland“, die hier aufgereiht neben mir steht.

Nach 15 Jahren wissenschaftlicher Arbeit liegen nun alle 16 Bände vor, herausgegeben vom Institut für Zeitgeschichte, der Universität Freiburg und dem Bundesarchiv. Ich freue mich, dass heute, unter den Bedingungen der Pandemie, zumindest eine Herausgeberin und vier Herausgeber hier sein können, um das vollständige Werk symbolisch der Öffentlichkeit zu übergeben.

Die Edition, die wir heute gemeinsam vorstellen, versammelt Briefe und Tagebucheinträge, Eingaben und Erlasse, Aktenvermerke und Firmenschreiben, Zeitungsartikel und Berichte ausländischer Beobachter aus der Zeit von 1933 bis 1945. Opfer und Täter, Mitläufer und Profiteure, Zuschauer und Widerstandskämpfer kommen zu Wort, Männer und Frauen aus allen Teilen der Gesellschaft, aus Deutschland und ganz Europa.

Die Quellen führen uns aus vielen Perspektiven vor Augen, wie jüdische Menschen damals in Deutschland und in den von Deutschen besetzten Ländern entrechtet, enteignet, gedemütigt, denunziert, verschleppt, gefoltert und ermordet wurden. Sie lassen uns das Leid, die Angst und Verzweiflung der Opfer spüren; den Hass, die Niedertracht und Menschenfeindlichkeit der Täter; die Gleichgültigkeit vieler Zuschauer und den Mut der wenigen, die versucht haben, Juden zu retten.

Es ist das große Verdienst dieser Sammlung, dass sie ein vielschichtiges Bild des Holocaust zeichnet, auch wenn die grausamen Details, die lapidaren, buchhalterischen Berichte der Täter oft kaum zu ertragen sind. Die Edition leuchtet das Dunkel unserer Geschichte in seiner ganzen gesellschaftlichen Tiefe und geografischen Breite aus; sie lässt uns besser erfassen, wie es zu diesem beispiellosen Massenmord kommen konnte; und sie lässt uns erschrecken, gerade weil sie uns so dicht heranführt an das, was damals Tag für Tag geschah.

Wie wichtig dieses Werk ist, das spüren wir gerade in diesen Tagen, in denen sich der deutsche Überfall auf die Sowjetunion zum 80. Mal jährt, in denen wir an den Beginn jenes Vernichtungskrieges im Osten erinnern, um den wir zwar wissen, von dem wir aber viel zu oft eine allenfalls diffuse Vorstellung haben. Diese Edition macht die furchtbaren Verbrechen in erschütternder Weise anschaulich, sie nennt Namen, Orte und Ereignisse. Damit konkretisiert sie die Erinnerung und das Gedenken, und auch darin liegt ihr hoher Wert.

Liebe Herausgeberin, liebe Herausgeber, ich danke Ihnen heute stellvertretend für alle, die in den vergangenen Jahren mitgeholfen haben, dieses monumentale Werk entstehen zu lassen. Historikerinnen und Historiker, Archivarinnen und Archivare, Übersetzerinnen und Übersetzer, Studentinnen und Studenten aus Deutschland und ganz Europa haben zigtausende Quellen gesichtet, ausgewählt und übersetzt, Kontexte recherchiert und Biografien aufgearbeitet. Mehr als die Hälfte der Dokumente, die sie aus Archiven und Privatbeständen zusammentragen konnten, waren bislang unveröffentlicht oder liegen nun zum ersten Mal in deutscher Sprache vor.

Es war eine Herkulesaufgabe, die Sie gemeinsam gestemmt haben. Ich danke Ihnen und allen anderen Beteiligten ganz herzlich für Ihre Arbeit, für Ihr Engagement. Und, liebe Susanne Heim: Ich danke ganz besonders Ihnen für die großartige Koordination. Nicht zuletzt gilt mein Dank der Deutschen Forschungsgemeinschaft, die dieses Mammutprojekt unterstützt und finanziert hat.

Unser Land steht in der Pflicht, die Holocaustforschung zu fördern und das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus lebendig zu halten. Die Edition über die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden zeigt auf eindrucksvolle Weise, wie die deutsche Geschichtswissenschaft Verantwortung übernimmt, um dieser Aufgabe gerecht zu werden.

Die Quellensammlung liefert viele neue Impulse für die historische Forschung. Sie legt offen, dass es immer noch vieles gibt, was wir nicht genau wissen: Wer entschied wann über einzelne Schritte der Stigmatisierung und Ausgrenzung, etwa darüber, jüdische Geschäfte zu kennzeichnen? Wie lässt sich erklären, dass die Verfolgung in manchen der besetzten Gebiete schneller vonstattenging als in anderen? Gerade für den Ländervergleich bietet das Werk eine ganze Fülle an neuem Material.

Zugleich ist die Edition aber auch ein wegweisender Beitrag zum Gedenken an die verfolgten und ermordeten Juden Europas. In einer Zeit, in der die letzten Zeitzeugen nach und nach sterben, wird es immer wichtiger, die Quellen sprechen zu lassen. Die Edition lässt die Opfer zu Wort kommen, sie gibt ihnen ihre Namen, ihre Geschichte, ihre Individualität zurück. Sie lässt uns den Menschen, die damals gelitten haben, nah sein, lässt uns mit ihnen fühlen und Anteil nehmen an ihrem Schicksal.

Und die Quellen machen auch anschaulich, dass es nicht allein die hohen Funktionäre der Nazidiktatur waren, die den Holocaust ins Werk setzten. Viele Menschen aus Militär, Verwaltung, Justiz, Wirtschaft und Gesellschaft waren auf ganz unterschiedliche Weise beteiligt, nicht wenige ergriffen selbst die Initiative oder wurden auf grausame Weise erfinderisch – weil sie Karriere machen oder sich bereichern wollten, weil sie auf Anerkennung hofften oder ihren Hass ausleben konnten, wenn es gegen „die Juden“ ging. Viele von ihnen gelangten nach dem Krieg wieder in verantwortungsvolle Positionen, auch darüber lässt uns die Lektüre ein weiteres Mal erschrecken.

Die Edition lässt uns wissen, spüren und erfahren, welches Grauen, welches Leid Deutsche über Jüdinnen und Juden in ganz Europa gebracht haben, von Norwegen bis nach Griechenland, von Frankreich bis nach Russland. Sie ist ein Mahnmal gegen das Vergessen, und sie macht uns unsere Verantwortung für Gegenwart und Zukunft bewusst – gerade jetzt, in einer Zeit, in der jüdische Menschen in Deutschland und Europa wieder beschimpft, bedroht und angegriffen werden; in der auf deutschen Straßen antisemitische Parolen gebrüllt oder, wie jüngst, Synagogen attackiert werden; in der rechtsextremistischer Terror möglich ist und autoritäres Denken neue Verführungskraft entfaltet; in der manche wieder mal einen Schlussstrich fordern und die Erinnerung an die Verbrechen der Schoah nur als historischen Ballast empfinden.

Die 16 Bände dieser Edition gehören deshalb nicht nur in die wissenschaftliche Bibliothek, sie gehören mitten hinein in die Öffentlichkeit, in unsere Gesellschaft. Gerade junge Menschen sollen anhand der Quellen erfahren können, was damals geschehen ist. Ich wünsche mir, dass Gedenkstätten die Edition in ihre Arbeit einbeziehen; dass die Bundeszentrale und die Landeszentralen für politische Bildung sie verbreiten; dass Geschichtslehrerinnen und -lehrer sie – in welcher Form auch immer – für den Unterricht nutzen; dass auch Schulbuchverlage mit den Quellen arbeiten. Besonders wünschenswert wäre es aus meiner Sicht, wenn die Edition auch zu irgendeinem Zeitpunkt digital zugänglich gemacht werden könnte.

Wenn wir historisches Wissen an junge Menschen und kommende Generationen weitergeben wollen, dann müssen wir auch Wege gehen, um es so zu vermitteln, dass junge Leser und Hörer es zur Kenntnis nehmen. Die Höredition etwa des Bayerischen Rundfunks oder Theaterinszenierungen, Lesungen, aber auch Webserien wie das „Anne Frank Videotagebuch“ sind großartige Beispiele dafür, was man alles tun kann, um Geschichte mit Hilfe der Quellen lebendig werden zu lassen. Ich wünsche mir, dass viele andere sich davon inspirieren lassen!

Nicht zuletzt hoffe ich, dass die Edition, die nun komplett ins Englische übersetzt wird, von vielen Menschen in ganz Europa zur Kenntnis genommen, gelesen und auch diskutiert wird. Gerade weil sie uns Zeugnisse der Schoah aus unterschiedlichen Ländern vor Augen führt, Zeugnisse von Opfern und Widerständlern, von deutschen Tätern, ihren Kollaborateuren und Komplizen, gerade deshalb kann sie einen Beitrag zum gemeinsamen europäischen Erinnern leisten.

Wer sich auf die Quellen dieser Edition einlässt, dem wird bewusst, worauf es ankommt, jetzt und in Zukunft, an jedem einzelnen Tag. „Nie wieder!“, das ist keine Leerformel für die Sonntagsrede, sondern das ist ein konkreter Auftrag für den Alltag. Lassen Sie uns die Erinnerung an die Schoah gemeinsam wachhalten. Lassen Sie uns antisemitischem Hass entgegentreten, ganz gleich, in welcher Form er sich äußert. Und lassen Sie uns eintreten für die Demokratie und die Würde jedes und jeder Einzelnen.

Herzlichen Dank.