bei einem Gespräch mit von Covid-19 genesenen Gästen am 10. November 2020 in Berlin:
- Bulletin 122-4
- 11. November 2020
Einen guten Morgen in die Runde. Ich darf Ihnen ein herzliches Willkommen sagen – denen, die hier sind in Schloss Bellevue, und denen, die unserem Bildschirm zugeschaltet sind. Danke, dass Sie sich alle Zeit genommen haben für dieses Gespräch und auch bereit sind, mit uns über Ihre Krankheit zu sprechen.
Eine aus unserer Runde hat gesagt, "ich hatte während der Infektion ständig den Eindruck, dass ich gegen eine Hand, die auf meine Brust drückt, anatmen muss", und nimmt diese Erinnerung mit auch in die Zeit ihrer Gesundung. Wir werden nachher mehr dazu hören.
Ich freue mich, dass Sie da sind, und ich freue mich, dass wir miteinander sprechen können über eine Krankheit, über die viel gesprochen wird, aber mehr über die Gefahr der Infektion als über den Verlauf der Krankheit selbst. Deshalb bin ich froh, dass Sie hier sind. Natürlich auch, um Ihnen mein Mitgefühl zu sagen für das, was Sie während der Erkrankung haben durchleiden müssen. Das ist eine Erfahrung, wie wir alle wissen, die nicht nur Sie gemacht haben, sondern zurzeit viele machen und weiter machen werden.
Das zeigt uns: Wir dürfen die Corona-Erkrankung auf keinen Fall unterschätzen, wir dürfen sie nicht kleinreden oder ausblenden. Ich würde mich freuen, wenn wir – und das wollen wir versuchen heute Morgen miteinander – vor allen Dingen tabulos über die Krankheit diskutieren. Auch das Wissen über den Verlauf dieser Krankheit trägt ja dazu bei, dass wir erfolgreicher sind im Kampf gegen das Virus.
Warum diese Runde, liebe Gäste? Mir scheint, dass wir bei aller Öffentlichkeit, die wir haben, zu der Pandemiekrise uns bislang zu selten Menschen wie Ihnen zugewandt haben, denjenigen, die diese Erkrankung durchgemacht haben. Das fällt mir ein bisschen zu sehr aus der öffentlichen Wahrnehmung heraus, und deshalb soll dieses Gespräch dazu beitragen, hier ein bisschen Ausgleich zu schaffen.
Ich möchte, mit anderen Worten, den Blick auf Sie lenken. Ich möchte mir ein eigenes Bild von dem machen, was Sie durchlitten haben, von Ihren Sorgen, ich könnte mir vorstellen, auch durchaus von Verzweiflung, die es zwischendurch gegeben hat, kurz: wie Sie die letzten Wochen und Monate erlebt haben. Vielleicht können wir aber auch noch mehr als nur den Austausch unter uns sechs Personen hinkriegen, vielleicht können wir in der Öffentlichkeit auch noch ein bisschen Aufmerksamkeit dafür erzeugen, wie ernst wir das Virus und die Erkrankung nehmen müssen. Und zwar gleichgültig, wie alt wir sind, ob wir zu einer Risikogruppe gehören oder nicht.
Das Virus ist gefährlich, es kann Leben zerstören, es kann das Leben von anderen, Familienangehörigen, Freunden, Bekannten stark verändern – es kann sich anhaltend verändern, auch dazu werden wir Beispiele hören. Wir wissen, dass das Virus hochansteckend ist, und müssten deshalb eigentlich auch wissen, dass jede Angriffsfläche, die wir der Infektion bieten, ein Risiko darstellt. Das wissen die Allermeisten, und die Allermeisten richten ihr Verhalten auch danach aus. Manche nicht, manche nehmen Risiken in Kauf ohne Rücksicht auf andere.
Ich will aber ausdrücklich sagen: Rücksichtslosigkeit ist kein Freiheitsrecht. Das will ich aus aktuellem Anlass, gerade auch mit Blick auf die jüngsten Demonstrationen in Leipzig, betonen, wo einige Zehntausend Menschen die Auflagen missachtet haben, Regeln verspottet haben und weder Abstand gehalten noch Masken getragen haben. Da werden aus meiner Sicht ganz eindeutig Grenzen überschritten. Und ich sage ebenso ausdrücklich: Das Demonstrationsrecht ist ein hohes Gut. Wir müssen uns über die Mittel und Wege der Pandemiebekämpfung in Deutschland natürlich unterhalten, streiten, auseinandersetzen. Demonstrationen müssen möglich sein.
Aber Demonstrationsfreiheit ist eben nicht die Freiheit zur Gefährdung von anderen. Und wer sich nicht an die Regeln hält, der ignoriert auch, dass er andere Menschen Risiken aussetzt. Es geht eben nicht nur – in aller Kürze – um die Freiheit ohne Maske, sondern es geht auch um die Freiheit der anderen – oder mit Blick auf das Grundgesetz: Dieses sieht die Grenze der Freiheit des Einzelnen genau dort, wo die Freiheit von anderen eingeschränkt wird.
Wir leben nicht als Eremiten, sondern als Teil einer Gesellschaft. Und deshalb müssen wir uns auch bewusst sein, dass wir nur gemeinsam diese schwere Zeit, in der wir uns befinden, bewältigen können, zum Schutz unserer Familie, von Freunden, Nachbarn, Bekannten, Kollegen. Wir müssen verantwortlich und wo immer es geht solidarisch handeln. Halten wir Abstand, aber halten wir zusammen!
Solidarität üben sollten wir darüber hinaus mit den Beschäftigten unseres Gesundheitswesens. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Gesundheitsämter etwa, Krankenschwestern, Pfleger, Ärztinnen, Ärzte geraten derzeit – das zeigen viele Berichte und auch Besuche in Gesundheitsämtern und Krankenhäusern, die ich gemacht habe – wieder an die Grenzen ihrer Kräfte. Und deshalb muss uns immer wieder bewusst sein: Jede vermiedene Infektion ist auch eine Entlastung für diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten.
Ich weiß, es ist eine schwierige Zeit, und schwierige Wochen stehen uns noch bevor; es beginnt gerade ein langer Winter, und gerade jetzt hat das Virus unser Land und Europa erneut mit ungeheurer Wucht erfasst. Wir alle müssen wieder mit schmerzhaften Einschränkungen leben, Disziplin üben, Geduld haben. Geduld, die schwieriger geworden ist, das erlebe ich auch selbst; was uns im März und April noch ganz einfach gefallen ist, das fällt uns jetzt in der zweiten Welle der Pandemie allen ein wenig schwerer.
Wir müssen mit Einschränkungen leben, die manche besonders hart treffen, aber die auch den Zusammenhalt von Gesellschaft vor besondere Herausforderungen stellen. Wir müssen auf gewohnte Nähe, auf Gemeinschaft verzichten, und das gerade in einer Zeit hin auf Weihnachten, in der uns Nähe ganz besonders wichtig ist, in der man sich auf Freunde und Familie freut und das auch braucht.
Will sagen: Diese Pandemie ist eine Belastung für uns alle. Aber wir können sie uns eben nicht einfach wegwünschen. Wir müssen damit umgehen, wir müssen gemeinsam etwas dagegen tun. Und bekämpfen können wir die Pandemie nur mit Vernunft, mit großer Geduld, mit Solidarität und nicht zuletzt mit der Hilfe von Wissenschaft und immer auf der Grundlage von Fakten.
Ich weiß, nicht nur Corona, auch die Maßnahmen gegen Corona sind einschneidend, hinterlassen Narben, bei manchen Einsamkeit, Sorge um den Arbeitsplatz, Angst vor der Zukunft – und Politik muss in allererster Linie diese Sorgen ernst nehmen und wo immer es geht bei den Entscheidungen auch berücksichtigen. Mein Eindruck ist, das will ich ausdrücklich sagen, dass das durchaus geschieht; bei Bundes- und Landesregierungen werden diese Sorgen ernst genommen. Auch die berechtigten Sorgen um Wirtschaft und Arbeitsplätze. Ich sage denjenigen, die mir dazu schreiben, immer: Keiner hat doch wirklich ein Interesse, ohne Not die Wirtschaft zu schädigen, im Gegenteil! Wir sollten umgekehrt immer berücksichtigen: Wir schaden auch unserer Wirtschaft, wenn wir das Virus einfach ungehindert sich ausbreiten lassen! Oder noch kürzer: Ohne ein gesundes Land wird es auf Dauer auch keine gesunde Wirtschaft geben.
Lassen Sie uns darum Beieinanderbleiben. Wir müssen jetzt alle mithelfen, uns und unsere Mitmenschen zu schützen. Und wie wichtig dieser Schutz ist, das können uns heute meine Gäste ganz besonders vor Augen führen. Sie alle haben die Erkrankung durchgemacht.
Ich darf daher hier im Schloss Bellevue Herrn Joachim Huber ganz herzlich begrüßen. Er ist Journalist des Tagesspiegel und einer der ersten, die in Berlin an Corona erkrankt sind. Ich möchte Sie zitieren mit dem Satz: "Es begann mit Fieber und Kurzatmigkeit und endete in einer furchtbaren Tortur."
Ebenfalls hier bei mir sitzt Nadja Alzner. Sie ist Projekt- und Eventmanagerin, dazu auch Yogalehrerin und vermutlich deshalb ganz besonders fit. Auch sie hat die Krankheit durchlitten, und auch sie wird uns erzählen, dass man auch nach der Gesundung doch einiges zurückbehält, mit dem man noch länger kämpfen muss.
Über Video zugeschaltet ist uns Dr. Heinz-Wilhelm Esser, Oberarzt und Leiter der Pneumologie am Remscheider Sana-Klinikum, gleichzeitig Moderator der Informationssendung "Doc Esser – Der GesundheitsCheck" und Produzent des Podcasts "Coronavirus – Doc Esser klärt auf". Sie waren an Corona erkrankt, haben es gar nicht so richtig bemerkt, wissen deshalb gar nicht so sehr etwas über eigene Einschränkungen, aber sehr viel über den Krankheitsverlauf, über den Sie uns gleich unterrichten.
Ein ebenso herzliches Willkommen an Clarissa Engels. Sie ist Mitarbeiterin des THW, eine der ersten Infizierten in Deutschland überhaupt – bei einer Karnevalsfeier, wenn ich richtig informiert bin, aber nicht bei der berühmt gewordenen Karnevalsfeier in Gangelt, sondern bei anderer Gelegenheit. Sie waren infiziert und werden über Ihre Einschränkungen berichten.
Nicht zuletzt auch unser jüngster Gast Mike Singer, Sänger und Songwriter, sehr bekannt bei den jüngeren Generationen, noch bekannter als bei den älteren. Über Panik haben Sie gesungen, davon verstehen Sie etwas. Panik hatten Sie vermutlich nicht bei Ihrer Erkrankung, aber Einschränkungen haben Sie auch erlebt. Aber vor allen Dingen haben Sie von sich aus für sich den Auftrag, die Verpflichtung erkannt, gerade bei den jüngeren Generationen dafür zu werben, ja zu appellieren, sich und andere zu schützen.
Deshalb ganz zum Schluss noch mal mit einem herzlichen Willkommen an alle fünf: Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass möglichst wenige Narben nach dieser Pandemie bleiben und dass diejenigen, die sie haben, von diesen Narben geheilt werden.
Ich würde mich freuen, wenn wir die nächsten eineinhalb Stunden nutzen, um uns gemeinsam auszutauschen über das, was Sie erlebt haben.