Rede des Präsidenten des Deutschen Bundestages, Dr. Wolfgang Schäuble,

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Liebe Kolleginnen und Kollegen,

viele von uns hatten sich in diesem Sommer eine entspannte Situation erhofft, mehr Normalität, mehr Erholung. Stattdessen erleben wir Krisen, Konflikte und Katastrophen. Die Pandemie, das Hochwasser und die schrecklichen Bilder aus Afghanistan zeigen schonungslos, wie eng die Welt zusammengewachsen, wie eng die Entwicklungen miteinander verflochten sind. Globale Krisen treffen uns, mit weitreichenden Folgen für das Vertrauen der Menschen in die Handlungsfähigkeit nationaler Politik und in den Staat, der uns schützen soll.

Die Verzweiflung der Menschen am Flughafen in Kabul zerreißt einem das Herz. Ihr Schicksal erschüttert das Selbstverständnis des Westens, unser Selbstverständnis. In wenigen Tagen ist zusammengebrochen, was wir im Bündnis über zwei Jahrzehnte mit aufgebaut haben. Es ist eine Tragödie für die Afghanen, die nun um ihr Leben fürchten, unter ihnen die Frauen und Mädchen, die lernen durften, selbstbestimmt und selbstbewusst zu leben.

Wenn wir in diesen Tagen an die Deutschen denken, die im Einsatz für und in Afghanistan ihr Leben verloren haben, sollten wir nicht vergessen: In den 20 Jahren wurde auch die Saat der Freiheit gesät. Daraus erwächst eine moralische Verpflichtung: Wir dürfen die Menschen nicht im Stich lassen!

Mit dem Anspruch, Afghanistan nach unseren Vorstellungen und Werten umzugestalten, sind wir gescheitert. Wir konnten diesen Kampf nicht gewinnen; aber jetzt müssen wir mit unseren Verbündeten zeigen, dass wir immerhin der Niederlage gewachsen sind, dass wir den Menschen in Afghanistan Schutz gewähren, die Hoffnungen in uns gesetzt und die uns vor Ort unterstützt haben. Das ist eine Frage der Mitmenschlichkeit angesichts einer unmenschlichen Bedrohung.

Nach dem Parlamentsbeteiligungsgesetz bedürfen bewaffnete Einsätze der Bundeswehr bei Gefahr im Verzug und bei geheimhaltungsbedürftigen Einsätzen zur Rettung von Menschen aus besonderen Gefahrenlagen keiner vorherigen Zustimmung durch den Bundestag. Allerdings besteht die Pflicht, das Parlament zu unterrichten und dessen Zustimmung nachträglich einzuholen. Dazu sind wir heute aufgerufen. Wir denken dabei besonders an unsere Soldatinnen und Soldaten, die in diesem Moment unter Einsatz ihres Lebens erfüllen, wozu uns die Humanität verpflichtet. Ich freue mich, dass auch heute Soldaten der Streitkräfte – Luftwaffe und Heer, darunter Veteranen des Afghanistan-Einsatzes – anwesend sind und unsere Debatte auf der Tribüne verfolgen. Seien Sie uns besonders herzlich willkommen!

Die Ereignisse in Afghanistan werfen viele Fragen auf. Die nach der Verantwortung ist eine, und sie wird auch parlamentarisch aufgearbeitet werden. Aber die Welt steht nicht still. Deshalb braucht es auch strategische Weitsicht. Im globalen Wettbewerb der Systeme wird der Autoritätsverlust des Westens längst ausgenutzt. Deshalb müssen wir im Bündnis überzeugende Antworten finden, wie wir künftig unseren universellen Werten Geltung in der Welt verschaffen wollen, wie wir damit umgehen, bei der Rettung von Menschen, bei der Bewältigung der Migration oder beim Kampf gegen den Terror auf die Zusammenarbeit auch mit zweifelhaften Kräften und Regimen angewiesen zu sein.

Wir brauchen die multilaterale Zusammenarbeit, und wir brauchen sie gerade mit Blick auf den Klimawandel. Der Weltklimabericht und die extremen Wetterereignisse mit zerstörerischen Bränden in Europa und anderen Teilen der Welt zeigen den Ernst der Lage. In unserem eigenen Land brach im Juli ein verheerendes Hochwasser über Dutzende Ortschaften herein. Die Zahl der Menschen, die in den Fluten starben oder noch immer vermisst sind, ist erschütternd. Ihren Hinterbliebenen gilt unser Mitgefühl.

Hunderte wurden verletzt. Familien verloren ihr Zuhause, Landwirte Vieh und Felder, Winzer und Obstbauern ihre Ernte, Betriebe ihre Produktionsanlagen. Von der Rückkehr zu einem geregelten Alltag sind die Menschen weit entfernt. Sie brauchen unbürokratische Überbrückungs- und Wiederaufbauhilfen. Auch deswegen kommen wir zu dieser Sondersitzung zusammen.

Der Klimawandel verlangt von uns einschneidende Veränderungen und kluge Eingriffe in unsere Lebensweise. Wir müssen langfristig denken; aber schon kurzfristig brauchen wir eine deutlich bessere Vorsorge, um auf Extremsituationen schneller reagieren zu können. Das ist eine Frage der Verantwortlichkeit auch für nachfolgende Generationen. Auch das ist Mitmenschlichkeit.

Dass wir dazu in der Lage sind, haben viele Flutopfer in der größten Not erfahren. Diese Katastrophe setzte wieder die besten Kräfte in unserer Gesellschaft frei. Privatleute, Rettungskräfte, Angehörige der Bundeswehr arbeiteten in den überschwemmten Orten Hand in Hand. Der Zusammenhalt in unserer Gesellschaft ist offenbar größer, als wir oft wahrnehmen. Für den spontan geleisteten Beistand gebührt den Hilfsorganisationen und den vielen Freiwilligen unser Dank.

Sie haben eigene Interessen zurückgestellt und Verantwortung gezeigt.

Ich möchte Sie jetzt bitten, sich zum Gedenken an die Opfer der Hochwasserkatastrophe von Ihren Plätzen zu erheben.