Rede des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Dr. Gerd Müller,

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Frau Präsidentin!
Meine Damen und Herren!

Es ist nicht nur ein spannender Abend, sondern auch eine spannende Zeit, in der wir leben, voller Dynamik und Entwicklungen.

Die Bevölkerung Afrikas wird sich in diesem Jahrhundert verdoppeln. Die Bevölkerung eines Landes wie Nigeria, in dem ich vor kurzem war, wird in diesem Jahrhundert auf 400 Millionen Menschen wachsen. Die Bevölkerung Deutschlands macht noch ein Prozent der Weltbevölkerung aus. Das heißt, lieber Barthl Kalb, in 99 Prozent der Fälle sind wir Ausländer. Deshalb ist es gut, einen Blick über das eigene Land hinaus zu werfen.

Was bedeutet diese Bevölkerungsdynamik? Jeden Tag kommen auf unserem Planeten 250.000 Menschen hinzu. Das bedeutet, dass wir bis 2030 – so weit wollen wir einmal vorausschauen; ich richte mich auch an die jungen Leute da oben auf der Besuchertribüne – 30 Prozent mehr Wasser, 40 Prozent mehr Energie und 50 Prozent mehr Nahrung benötigen. Das sind die Überlebensfragen der Menschheit: Wasser – ohne Wasser kann man keine Woche leben –, Nahrung – ohne Nahrung überlebt man vielleicht vier Wochen –, Energie – wenn wir den Stecker ziehen würden und Berlin eine Woche ohne Strom wäre, hätten wir Bürgerkrieg –, Klima und Umwelt.

Das sind die Überlebensfragen der Menschheit. Das spannendste Ressort, die Entwicklungspolitik, sucht und gibt Antworten darauf.

Wir sind ein internationales Haus und befinden uns mit 70 Ländern der Welt in einer langfristigen Partnerschaft. Wir müssen Lösungen für diese Herausforderung finden:

Erstens: das Ressourcenproblem. 20 Prozent der Menschheit – nämlich wir hier in Berlin, in Deutschland, in den Industriestaaten – beanspruchen für sich, 80 Prozent der Ressourcen des Planeten zu verbrauchen.

Zweitens: das Gerechtigkeitsproblem. 20 Prozent der Menschheit – wir hier in Deutschland, in Europa, in den reichen Ländern – besitzen und beanspruchen 90 Prozent des Vermögens. Glauben Sie nicht, dass wir einfach nur eine Mauer um die Wohlstandsinseln bauen und die Zäune höher machen können, damit wir unser Vermögen und unseren Reichtum bewahren können. Nein, wir Entwicklungspolitiker und viele mehr sind sicher: Frieden auf der Welt wird es nur geben, wenn Ressourcen, Einkommen und Lebenschancen auch global einigermaßen fair verteilt sind.

Da die Verteidigungsministerin noch im Saal ist und eben der Verteidigungshaushalt und der auswärtige Haushalt diskutiert wurden, sage ich: Wir brauchen einen vernetzten Ansatz für die Bewältigung dieser Herausforderungen, und das nicht nur auf dem viel beschworenen Papier, sondern auch in der Realität.

Ich könnte jetzt auf viele Krisenherde der Welt eingehen, Stichwort Irak. Diese Kriege und Krisen haben immer ein Davor – dann donnert es – und ein Danach. Deshalb brauchen wir einen vernetzten Ansatz, um Krisen und Kriege durch Prävention und Friedensarbeit zu verhindern. Das ist unsere Aufgabe in der Entwicklungspolitik.

Es könnten viele Auseinandersetzungen verhindert werden. Natürlich muss man Not und Elend bekämpfen und die Infrastruktur für ein Danach schaffen.

2015 ist das Jahr der Entwicklung. Wir brauchen einen neuen Aufbruch. Wir brauchen neues Denken, eine neue Partnerschaft im globalen Miteinander. Dazu sage ich: Nachhaltigkeit muss über allem stehen; sie muss das Prinzip aller Entwicklung sein. Auf der Tribüne sitzen vornehmlich junge Leute. Wir sind dem Erhalt der Schöpfung und der Zukunft verpflichtet. Wir, die heutige Generation, sind nur für einen kurzen Flügelschlag hier auf diesem Planeten. Wir stehen in der Verantwortung, diese Schöpfung, diesen Planeten, weiterzugeben an kommende Generationen. Darin müssen wir uns bewähren.

Das bedeutet ökonomisch, dass wir doppelte Zurückhaltung walten lassen müssen:

Wir müssen erstens Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch entkoppeln, und

wir müssen zweitens – das kann ich aufgrund der Kürze meiner Redezeit nicht detailliert ausführen – das Nord-Süd-Gefälle – das heutige Verhältnis von 80 zu 20 wurde eben beschrieben – zu einem fairen Verhältnis weiterentwickeln, und zwar durch eine Verstärkung unseres Entwicklungsengagements und eine neue Wachstums- und Verteilungsphilosophie.

Der Klimaschutz wird im nächsten Jahr aufgrund des Pariser Gipfels von zentraler Bedeutung für die politische Agenda sein. Das Erreichen des Zwei-Prozent-Ziels ist in der Tat eine Überlebensfrage für viele, für uns alle – vielleicht nicht für den Planeten. Vielleicht wird es auch dann noch Leben geben, wenn wir eine Erwärmung um zwei oder vier Prozent haben. Ob der Mensch dann noch Platz hat und eine Lebensgrundlage findet, das ist eine andere Frage. Wir müssen zu klaren, neuen, verbindlichen Festlegungen kommen.

Deshalb hat der Klimaschutz auch in unserem Haushalt einen hohen Stellenwert. Wir investieren 1,6 Milliarden Euro in Maßnahmen zum Ausbau des Klimaschutzes. Dabei geht es beispielsweise auch darum, in Indien neue und nachhaltige erneuerbare Energieformen zu nutzen. Es kann nicht sein, dass wir den Energiehunger dieser Länder, dieser Kontinente mit Braunkohle, durch Kohleverkoksung befriedigen.

Dazu habe ich gestern eine Festlegung getroffen, die wir gemeinsam umsetzen müssen. Wir sagen 750 Millionen Euro für den Grünen Klimafonds zu. Ich sage: Deutschland muss bei allen Maßnahmen Vorbild sein; es muss auf internationaler Ebene der Taktgeber für den Klimaprozess sein. Wir sind diesbezüglich zusammen mit dem Bundesumweltministerium federführend.

Wir setzen uns aber auch für weltweit verbindliche ökologische und soziale Standards ein. Ich war vor kurzem im Textilmuseum in Augsburg. Die Dokumentation der Geschichte der Textilproduktion, die vor 150 Jahren begann, ist hochspannend und interessant. Vor 150 Jahren begann die Industrialisierung der Textilproduktion und damit die Versklavung und Kasernierung der Textilarbeiter. Die Menschen im ausgehenden 19. Jahrhundert mussten sechs Tage die Woche 16 Stunden am Tag arbeiten, ohne sozialen Grundschutz. Wenn die Frauen schwanger wurden, wurden sie entlassen. Die Menschen arbeiteten ohne Mindestlöhne und hatten keine anständigen Wohnungen. Das ist der Gründungshintergrund der SPD. Denken Sie an Ferdinand Lassalle. Die Gewerkschaften und Frauenverbände haben sich damals entwickelt. Die SPD wurde gegründet.

Seitdem sind 150 Jahre vergangen. Mit Schrecken erleben wir dieses Modell der Ausbeutung, dieses Modell des Kapitalismus ohne Grenzen heute in Bangladesch, in Vietnam, aber auch in Afrika. Das ist eine Folge der Internationalisierung. Deshalb sage ich: Wir brauchen weltweit – ich betone: weltweit – verbindliche ökologische und soziale Mindeststandards. Auch die Näherin in Bangladesch muss einen Lohn bekommen, von dem sie leben kann.

Gestern habe ich ein Referat darüber gehalten. Ich rufe nicht zu Boykotten auf – dieses Wort nehme ich überhaupt nicht in den Mund –, sondern zu Nachhaltigkeit und zu Verantwortlichkeit. Ich bin sicher, dass die jungen Leute auf der Tribüne, wenn sie wüssten, wie ihre T-Shirts hergestellt werden und welchen Hungerlohn die Näherinnen bekommen, anders handeln würden. Deshalb werden wir gerade im Textilbereich Transparenz durch ein Textilbündnis schaffen. Wir sind hier auf gutem Weg.

Aber das ist nur ein Ansatz. Wir müssen – da haben wir über alle Parteien hinweg, glaube ich, eine grundlegende Übereinkunft – die ILO-Standards und UNEP-Standards nicht neu erfinden – sie wurden bereits erfunden –, aber was wir tun müssen, ist, sie mit dem WTO-Abkommen verbinden. Der unbegrenzte Freihandel kann nicht unsere Vision im 21. Jahrhundert sein.

Die Multis müssen verpflichtend daran gebunden werden. Die Märkte brauchen weltweit Grenzen und Regeln. Das gilt auch gerade beim TTIP-Abkommen. Wir werden in unserem Ministerium an verbindlichen Standards festhalten und in die Diskussionen und Verhandlungen auch die Sicht der Entwicklungsländer einbringen. Ich werde dazu eine eigene Anhörung im Haus durchführen.

Unsere Entwicklungspolitik ist wertegebunden. Das heißt, jeder Mensch hat ein Recht auf Leben in Würde. Wir stehen für die Einhaltung der Menschenrechte, Gleichberechtigung und insbesondere auch die Durchsetzung der Frauenrechte. Diese stehen beispielsweise in Indien heute in der Verfassung, aber sie werden in der Praxis nicht durchgesetzt. Dafür müssen wir uns weltweit starkmachen.

Wir setzen im Haushalt wichtige Schwerpunkte. Vielen Dank allen Haushaltspolitikerinnen und Haushaltspolitikern! Die Mittel für die Sonderinitiative „Eine Welt ohne Hunger“ werden jetzt auf rund 1,4 Milliarden Euro aufgestockt. Unsere Vision – es ist nicht nur meine – ist, bis 2030 eine Welt ohne Hunger zu haben. Dies ist machbar. Der größte Skandal ist, dass heute noch 850 Millionen Menschen unterernährt sind und hungern und täglich 20.000 Kinder an Hunger sterben, obwohl dies nicht so sein muss; denn der Planet bietet für zehn Milliarden Menschen die Ernährungsgrundlage. Deshalb investieren wir hier.

Thema Gesundheit. Das ist vielen Kolleginnen und Kollegen sehr wichtig. Wir bekämpfen Krankheiten und Seuchen. Ich bin ein Stück weit begeistert. Denn wenn man gefragt wird: „Was nutzt denn Entwicklungspolitik, und welche Erfolge habt ihr?“, kann man auf die Gesundheitspolitik verweisen, in der dies anschaulich deutlich wird. Zu meiner Schulzeit war in meiner Klasse ein Mädchen aus der Nachbarschaft, das an Kinderlähmung, an Polio, erkrankt war. Sie hat den Fuß dann ein Leben lang nachgezogen. Polio ist heute durch die Impfung von 450 Millionen Kindern in den letzten 20 Jahren praktisch kein Thema mehr, ebenso Masern. Bei HIV und Tbc ist noch einiges zu tun.

Wir setzen natürlich den aktuellen Schwerpunkt auf Kriegs- und Flüchtlingselend. Ich habe das jetzt nicht an den Schluss gesetzt, weil es unwichtig ist. Vielmehr ist es im Augenblick der wichtigste Punkt, aber er hat auch schon in den anderen Diskussionen eine ganz erhebliche Rolle gespielt. Es ist die größte Herausforderung von heute und der nächsten Jahre. Dazu setzen wir alle verfügbaren Mittel ein. Ich habe dazu eine Sonderinitiative für Flüchtlinge mit 190 Millionen Euro aufgelegt, um bei der größten humanitären Katastrophe wirksam eingreifen zu können. Diese spielt sich im Augenblick in Syrien und im Irak ab.

Aber ich sage auch – das ist mir wichtig –: Wir dürfen nicht nur dahin blicken, wo die Bilder herkommen. Wenn wir Kameras in den Südsudan – einige Kollegen beziehungsweise Kolleginnen waren dabei – oder in die Zentralafrikanische Republik mitnehmen, dann kann auch dort das Kopfabschlagen gefilmt werden. Deshalb dürfen wir auch diese Länder nicht vergessen.

Ich lade morgen zu einem großen Afrika-Tag ein, den unser Haus veranstaltet. Unter anderem wird der Ministerpräsident aus dem Kongo anwesend sein – ein Land mit Licht und Schatten, aber mit allem, was Afrika zu bieten hat.

Wir sind in Gaza, in Palästina und in Afghanistan erheblich gefordert. Das muss eine eigene Debatte werden. Wie reagieren wir in Afghanistan? ISAF zieht ab; wir, die Entwicklungspolitik, bleiben dort. Machen wir bitte nicht dieselben Fehler wie vor drei Jahren im Irak, um dann drei Jahre später bestraft zu werden. Die Taliban-Fahne im ehemaligen Bundeswehrcamp Kunduz soll uns eine Warnung sein. Wir brauchen hier ein stärkeres entwicklungspolitisches Engagement.

Wir haben die Mittel für die Ukraine verdoppelt. In Syrien und im Irak – das sage ich hier ganz klar – ist der Bedarf jetzt am größten. Der Winter steht bevor. Lieber Barthl Kalb – stellvertretend für alle Haushaltspolitiker –: Wir, das BMZ, bauen mit unseren Partnern Infrastruktur und können das umsetzen. Humanitäre Hilfe besteht nicht nur aus Erstversorgung, EPas und dem Verteilen von Mullbinden und Wolldecken. Im Lager in Satari sitzen 130.000 Menschen in der Wüste, und das seit zwei beziehungsweise zweieinhalb Jahren. 50 Prozent von ihnen sind Kinder und Jugendliche. Sie brauchen Toiletten, Strom, Wasser, Schulen, Ausbildung. Das geht weit über humanitäre Hilfe hinaus. Dieses Problem kann unser Haushalt mit dieser Ausstattung nicht zufriedenstellend lösen.

2014/2015 ist für uns kein normales Jahr; ich habe die Herausforderungen dargestellt. Ich warne vor einem dramatischen Winter.

Wir müssen jetzt handeln. Ich bitte die Fraktionen nur um eines: um die Einlösung der von allen Seiten in der Sondersitzung gegebenen Versprechen. Wir müssen uns jetzt um Winterquartiere und Infrastruktur für Millionen Menschen kümmern. Dazu habe ich im Haushalt 100 Millionen Euro überplanmäßige Ausgaben beantragt. Deutschland leistet viel. Aber ich sage noch einmal ganz klar: Wir brauchen jetzt grünes Licht für die Winterhilfe, um tätig werden zu können. Das sage ich auch in Richtung der Europäischen Union. Die Sondermilliarde muss jetzt kommen. Die neue Kommission steht. Leider gibt es keinen Sonderbeauftragten für Flüchtlingsfragen. Ich bedaure es außerordentlich, dass diese Aufgabe wieder auf vier Kommissare verteilt wurde. Diese Verteilung der Zuständigkeiten macht wenig Sinn. Wir müssen jetzt effektiv handeln. Ich bin überzeugt, dass wir dafür auch die Unterstützung des Parlaments bekommen.