Rede des Bundesministers des Innern, Dr. Thomas de Maizière,

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Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
sehr geehrte Bundesminister,
verehrte Abgeordnete des Deutschen Bundestags,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

der demografische Wandel – das war und das ist immer auch ein gesellschaftlicher Wandel. In der Regel werden für die Beschreibung dieses Wandels wissenschaftliche Arbeiten herangezogen – mit Statistiken, Zahlen und Bevölkerungspyramiden.

Zwei Künstlern aus der Schweiz, Patrick Bolle und Andrea Keller, war das aber nicht genug. Sie wollten den gesellschaftlichen Wandel außerhalb von Zahlen und Statistik erzählen – mit einer außergewöhnlichen Idee:

In der Innenstadt von Zürich eröffneten sie vor einigen Wochen ein Fundbüro, das sogenannte "Fundbüro 2". Dieses Fundbüro ist eingerichtet wie ein normales Fundbüro. Es hat einen normalen Schalter. Der Schalter hat die übliche Glaswand. Dahinter sitzt ein Schalterbeamter. Das Fundbüro hat nur eine kleine Besonderheit. Es können allein immaterielle Dinge als verloren, gefunden oder wiederentdeckt gemeldet werden. Das können Einsichten sein, Werte, Ideen, Sorgen, der Glauben, dass es besser kommt, Zuversicht, Angst vor dem Alter oder auch Vorfreude auf das Älterwerden oder den Ruhestand.

Das Projekt will zum Nachdenken einladen: Was habe ich in meinen verschiedenen Lebensphasen schon alles verloren? Was habe ich gefunden? Welchen Wert messe ich dem Gefundenem oder dem Verlorenen bei? Was verliere ich, wenn ich älter werde? Und was habe ich stattdessen entdeckt oder gefunden?

Die Künstler wollen den gesellschaftlichen Wandel als das beschreiben, was er ist: "Ein Verlieren, Vermissen und Finden, ein Wünschen, Wollen und Werden."

Sie können sich fragen, was Sie dort abgeben würden. Ich habe mich gefragt: Was würde ich diesem Fundbüro wohl melden. Welche Einsichten und Ideen habe ich im Verlauf der letzten Jahre bei der Erarbeitung der Demografiestrategie bis zum heutigen Gipfel gewonnen? Und welche Annahmen oder Vorstellungen habe ich aufgegeben? Oder um im Bild zu bleiben: Welche Sorgen und Bedenken habe ich in dieser Zeit verloren? Darüber will ich heute sprechen – in drei Punkten:

Erstens: Und ich beginne mit etwas, das ich verloren habe, nämlich eine Sorge. Und das ist die Sorge vor einem "Kampf der Generationen". Politisch seien junge Menschen die Verlierer von morgen, so heißt es oft. Die Älteren würden sie wegen des demografischen Wandels bald überstimmen. Dann werde Vergangenheit statt Zukunft gewählt.

In den Arbeitsgruppen, in den vielen Dialogprozessen, in den Gesprächsforen und in den Umfragen, die wir auch im Rahmen der Demografiestrategie gemacht haben, hat sich aber gezeigt, dass die politische Blickrichtung unserer Gesellschaft schon immer nicht nur durch persönliche Interessen des Alters geprägt war und ist, sondern auch durch das eigene Umfeld und vor allem durch die Familie. Ein 50-Jähriger interessiert sich für die Ausbildung und den Berufsstart seines Sohnes. Eine 60-Jährige für die Jugendabteilung ihres Sportvereins. Und ein 70-Jähriger für Kita-Plätze seines Enkelkindes.

Politik für die Zukunft ist keine Frage des Alters. Es ist eine Frage der Lebenswelt. Spielen junge Menschen im eigenen Leben eine Rolle, dann prägen sie Haltungen. Man könnte auch sagen: Großeltern wählen Zukunft. Und alle, die mit jungen Menschen zu tun haben machen das auch. Der beste Weg ein politisches Ungleichgewicht der Generationen zu vermeiden, ist – nach allem, was wir wissen – weniger die Sensibilisierung der Alten für die Themen der Jungen, sondern die Aktivierung der Jungen an politischen Wahlen überhaupt teilzunehmen. Das haben wir in Großbritannien beim Brexit gesehen, wo die Wahlbeteiligung der jungen Menschen besonders niedrig war. Das haben wir in ähnlicher Weise auch bei der Wahl in Amerika gesehen. Und das haben wir bei der letzten Bundestagswahl gesehen, wo die Wahlbeteiligung junger Menschen deutlich unter dem Durchschnitt lag.

Ja, wir bekommen eine Gesellschaft, die immer älter werden wird. Die Demografie ist für unser Land ein Rahmen, aber noch lange keine Richtung. Entscheidend für das Verhältnis von Alt und Jung wird nicht das Alter sein, sondern ein demokratisches Zugehörig-Sein, dessen Qualität sich auch bei Wahlen zeigt. Tun wir gemeinsam alles dafür, dass möglichst viele junge Menschen bei der Bundestagswahl in diesem Jahr in die Wahllokale gehen, dass sie ein demokratisches Zugehörig-Sein zeigen und genau das auch auf diese Weise mit Leben füllen.

Zweitens: Nun zu etwas, das ich in den letzten Jahren gefunden habe. Und das ist Klarheit. Klarheit über einige der großen Fragen, die sich Menschen im Alter stellen. Und eine der wichtigsten Fragen lautet: Bin ich überhaupt alt?

Ich finde hier schon die Sprache interessant: Alle wollen älter werden, aber niemand will alt sein. Der Begriff des Alters und unser Bild davon hat sich in einer Weise verändert, wie wir es vor 30 Jahren nicht für möglich gehalten hätten. Ein Beleg dafür ist die Geschichte eines Musikprofessors aus Frankfurt am Main, der gegen seine Pensionierung klagte. Der Grund für seine Klage war einfach: Er wollte weiterarbeiten, weil er noch voller Kraft und Tatendrang war. Vor Gericht unterlag er. Seine Reaktion: Er gründete eine eigene Schule für hochbegabte Pianisten. Heute ist er deren Präsident und künstlerischer Leiter.

Der Musikprofessor ist nur ein Beispiel von vielen für Menschen, denen die Arbeit fehlen würde und die sich zu jung fühlen für einen Ruhestand. Er zeigt aber, wo die Aufgaben der Politik liegen:

  • Flexible Arbeitsmodelle im Alter,
  • Altersteilzeit,
  • neue Übergänge vom Erwerbsleben in den Ruhestand,
  • aber natürlich auch Themen wie Altersarmut.

Über all das müssen wir in den nächsten Jahren noch stärker als bisher nachdenken. Mit der "Flexi-Rente" haben wir einen Anfang gemacht, trotzdem liegt hier noch einiges vor uns.

Der Norddeutsche Rundfunk hat vor einigen Wochen eine Reportage gezeigt. Eine der Hauptpersonen war ein 71-jähriger Pensionär, ein ehemaliger Koch und jahrelang ehrenamtlich in der Sterbebegleitung aktiv. Zu der Zeit nach seinem Berufsleben sagt er – Zitat –:

"Was mir wichtig ist, ist das Gefühl weiterhin bewusst zu leben. Dass ich weiterhin meinen Weg durchs Leben gehe. Dass ich Menschen offen und neugierig gegenübertrete. Dass ich nicht zu Hause sitze, sondern schaue, was um mich herum passiert. Und dass ich den Kontakt zum Jetzt und Heute nicht verliere."

Stand früher am Ende eines Arbeitslebens der Blick zurück im Vordergrund, so geht es heute um den Blick nach vorn und die Frage: Was will ich jetzt und wo will ich eigentlich noch hin mit meinem Leben? Ich meine, diese Vitalität der jungen Alten ist eine Riesenchance für unser Land.

Ja, ältere Menschen profitieren von unserer sozialen Infrastruktur. Sie stellen die soziale Infrastruktur aber auch an vielen Stellen sicher: in der Familie, in einer neuen selbstständigen Tätigkeit, in der Nachbarschaft und vor allem im Ehrenamt. Diese Tatkraft kommt unserem Land zugute. Wir sollten diese Tatkraft fördern und fordern. Unser Land hat und braucht aktive ältere Menschen. Es ist gut, dass wir sie haben. Und ich finde, das kann man auch mal etwas öfter sagen, deswegen Danke an alle Menschen, die sich aus dem Ruhestand für andere einsetzen. Ohne Sie würde unser Land nicht so gut funktionieren!

Drittens: Noch etwas habe ich in den letzten Jahren gefunden und würde es in diesem Fundbüro abgeben. Nämlich neue Einsichten über die Chancen der Digitalisierung beim demografischen Wandel.

Hier haben wir in den letzten Jahren schon viel gemacht. Aber wir haben auch noch viel vor: Wir bauen miteinander vernetzte Online-Zugänge zu allen Behörden in Bund und Ländern, ermöglichen Bürgersprechstunden via Internet und elektronische Akteneinsicht und verzichten immer öfter auf die Pflicht zur persönlichen Vorsprache.

All das läuft nicht nur unter der allgemeinen Überschrift "Digitalisierung", sondern dient vor allem dem Ziel der Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse in Stadt und Land. Auch die Digitalisierung entscheidet massiv über ein gutes Leben, auch und vor allem in den ländlichen Räumen. Deswegen ist Digitalisierungspolitik auch Infrastrukturpolitik für die ländlichen Räume. Das gilt in der Verwaltung, aber auch im öffentlichen Personennahverkehr, Gesundheits- und Pflegebereich. Digitale Assistenzsysteme für ältere Menschen können helfen, Schwächen in der analogen Infrastruktur wieder wiederherzustellen.

Ein Beispiel für neue digitale Assistenzsysteme können Sie heute im Foyer kennenlernen, dort steht ein sogenannter Pflegeroboter. Er trägt den Namen Coreas. Er wird Ihnen zeigen, was er alles kann und in welchen Bereichen er eingesetzt wird, zum Beispiel beim Gang-Training. Ein Roboter kann älteren oder vielleicht sogar pflegebedürftigen Menschen im Alltag an vielen Stellen helfen. Es ist faszinierend zu sehen, was Erfindergeist und Digitalisierung möglich machen.

Eine Kerze auf dem Geburtstagstisch hat aber nur eine Bedeutung, wenn sie von einem Menschen dorthin gestellt wurde. Kuchenbacken kann man nicht im Internet, und auch eine Umarmung geht nicht digital. Ich will sagen: Pflege und Teilhabe im Alter werden in Teilen elektronisch verbessert und das ist eine gute Sache. Daran sollten wir weiter arbeiten und offen sein für den digitalen Fortschritt.

Eine Gesellschaft braucht aber immer beides, digitalen Fortschritt und ein menschliches Miteinander. Zuwendung kann nicht eins zu eins von Pflegerobotern ersetzt werden. Ja zur Pflege und Fürsorge mit digitaler Hilfe, aber bitte immer auch mit einem Menschen, der da ist. Das sollte sich unsere Gesellschaft leisten können und das sollte sie sich auch leisten müssen!

Ich komme zum Schluss. Ich will enden mit etwas, das im "Fundbüro 2" eigentlich nicht vorgesehen ist, nämlich mit einem Wunsch, und der ist leicht zu erklären: In der Diskussion um den demografischen Wandel geht es oft um die Angst zu den Verlierern einer Entwicklung zu gehören. Ich habe einige Beispiele dafür genannt: Alt gegen Jung oder das Abhängen der ländlichen Räume.

Die Aufteilung in Gewinner und Verlierer oder mögliche Gewinner und mögliche Verlierer ist in politischen Reden im Moment sehr beliebt. Und diese Aufteilung wird möglicherweise den vor uns liegenden Wahlkampf prägen; vielleicht entspricht sie auch etwas dem Zeitgeist. Ich will Einspruch gegen diesen Zeitgeist erheben. Wer immer nur in Gewinner und Verlierer einteilt, der verkennt den Charakter einer freiheitlichen Gesellschaft, denn in einer freiheitlichen Gesellschaft geht es nicht um dieses Entweder-oder, sondern um das Wechselspiel von materiellem und immateriellem Wohlstand.

Wohlstand findet man nicht in einer gefühlten Zugehörigkeit zu einer Gruppe von Gewinnern oder Verlierern, sondern in einem lebenswerten Gleichgewicht aus materiellen und immateriellen Dingen. Dieses Gleichgewicht zu ermöglichen, das sehe ich als Auftrag der Politik.

Teilen wir unsere Gesellschaft also nicht auf. Trennen wir sie nicht, nicht beim Thema Demografie und auch nicht woanders. Und lassen wir uns diese Trennung auch nicht einreden, von niemandem. Egal wo er herkommt, und egal wo er hinwill.

Vielen Dank.