Rede des Bundesministers des Auswärtigen, Heiko Maas

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"Schmerz plus Reflexion gleich Fortschritt", sagte Ray Dalio einmal auf die Frage nach seinem geschäftlichen Erfolg.

Ich weiß, dass ich mich auf dünnes Eis wage, wenn ich meine Rede hier mit einem Zitat von jemandem beginne, der früher mal Chef des weltgrößten Hedgefonds war. Aber in dieser beispiellosen weltweiten Krise habe ich den Eindruck, dass seine Formel es ganz gut trifft.

Während wir hier tagen, fühlen Menschen weltweit Schmerz:

  • weil sie einen geliebten Menschen verloren haben,
  • weil sie um ihre Gesundheit fürchten müssen
  • oder weil sie schlicht nicht mehr wissen, wie sie ihre Rechnungen bezahlen sollen.

Wir schulden ihnen Hoffnung durch Fortschritt. Und das erfordert, was wir hier und heute tun: reflektieren über das, was sich ändern muss. Deshalb danke ich Ihnen sehr für die Gelegenheit, einige meiner Überlegungen hier mit Ihnen zu teilen. In wenigen Tagen übernimmt Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union – zu einer Zeit, die herausfordernder nicht sein könnte.

Erst vor wenigen Wochen hat Jacques Delors den Mangel an Solidarität "eine tödliche Gefahr für die Europäische Union" genannt. Viele andere haben sich ähnlich besorgt geäußert. Wenig später haben Deutschland und Frankreich mutige Vorschläge für einen echten europäischen Aufbauplan vorgelegt, die dann von der Europäischen Kommission aufgegriffen wurden. Unsere progressive Botschaft wurde endlich gehört: Europa kann sich aus einer Krise dieser Größenordnung nicht heraussparen!

Für Deutschland und unsere europäische Familie ist dies ein revolutionärer Paradigmenwechsel hin zu finanzpolitischer Solidarität. Olaf Scholz hat dies zu Recht als den möglichen "Hamilton-Moment" Europas bezeichnet. Und in der Tat ist dies für uns der Moment, ein für alle Mal sicherzustellen, dass die Europäische Union nie wieder infrage gestellt wird. Das ist heute meine erste Botschaft an Sie.

Die Einigung auf das Wiederaufbauprogramm und den Haushaltsrahmen für Europas Zukunft wird die Nagelprobe auf unserem Weg aus der Krise. Und deshalb wird dies für uns die allerhöchste Priorität unserer Präsidentschaft sein. Wir wollen, dass Europa gestärkt aus dieser Pandemie hervorgeht. Aber die Stärke, die ich meine, wird nicht nur in Unternehmenszahlen und steigenden Börsenwerten gemessen. Diesmal müssen wir die europäischen Bürgerinnen und Bürger in den Mittelpunkt unserer Bemühungen stellen. Diesmal müssen die Bürgerinnen und Bürger Europas die europäische Solidarität auch wirklich spüren. Das ist meine zweite Botschaft.

Zum ersten Mal in der Geschichte werden alle Europäerinnen und Europäer im Rahmen der SURE-Initiative in den Genuss von Kurzarbeitergeld kommen. Hubertus Heil wird darauf später vermutlich noch zu sprechen kommen.

Aber wir wollen noch weiter gehen:

  • mit einem gemeinsamen Rahmen für Mindestlöhne,
  • einer europäischen Arbeitslosen-Rückversicherung
  • sowie stärkerer Rechenschaftspflicht in den weltweiten Lieferketten.

Die Logik dahinter ist simpel: Der Aufschwung wird scheitern, wenn wir Europa nicht zugleich grüner, nachhaltiger, sozialer, widerstandsfähiger und innovativer gestalten. Wir werden sicherstellen, dass diese Prioritäten sich im nächsten Haushalt widerspiegeln.

Der Paradigmenwechsel hin zu mehr europäischer Solidarität muss auch zu einer institutionellen Stärkung unserer Union führen – das ist meine dritte Botschaft. Nicht jeder in Europa wird hiervon leicht zu überzeugen sein. Aber wer, wenn nicht Deutschland – das Land im Herzen des Kontinents, das seinen politischen und wirtschaftlichen Erfolg in so hohem Maße Europa verdankt, – sollte es zu seiner Aufgabe machen, die Skeptiker zu überzeugen? Und eines will ich klar sagen: Unser Ziel ist keineswegs die Schaffung eines europäischen Superstaats.

Aber die Defizite beim gemeinschaftlichen Handeln, die in der Krise augenfällig wurden – in wichtigen Bereichen wie der Gesundheitsversorgung, dem digitalen Wandel, der Krisenvorsorge und dem Bevölkerungsschutz, – waren schlicht zu gravierend, um sie zu ignorieren. Wenn es besserer Koordination, in manchen Bereichen vielleicht sogar Vertragsänderungen bedarf, um solche Defizite auszuräumen, dann dürfen wir uns nicht wegducken und müssen diesen Schritt wagen.

Die europäische Integration ist niemals ein Selbstzweck. Sie ist das einzige Mittel, um den politischen Einfluss wiederzugewinnen, den wir als einzelne Nationen längst eingebüßt haben. Dies ist meine vierte Botschaft – auch an jene, die das Konzept der Europäischen Souveränität noch infrage stellen. Aber wir sollten nicht um Begrifflichkeiten streiten. Letztlich verfolgen wir alle dasselbe Ziel: In einer multipolaren Welt rivalisierender Großmächte muss Europa in der Lage sein, seine Interessen und Werte durchzusetzen. Die Zukunft unserer freiheitlichen Demokratien hängt davon ab.

Das heißt auch, bestehende Defizite und Abhängigkeiten in den Blick zu nehmen – seien sie technologischer, finanzieller, handels- oder sicherheitspolitischer Natur.

  • Die Vereinigten Staaten werden sich – ganz gleich, wer im November die Wahlen gewinnt, – nicht mehr automatisch um die Krisen vor unserer Haustür kümmern. Aber spiegelt sich das bereits in den europäischen Fähigkeiten und Instrumenten wider? Ich habe da meine Zweifel. Deshalb ist es so wichtig, dass wir Fortschritte bei der Europäischen Friedensfazilität machen.
  • Ist es nicht unerlässlich, mit einer Stimme zu sprechen, wenn Chinas Ambitionen mit europäischen Interessen kollidieren?
  • Und wie können wir von Akteuren, mit denen uns schwierige Beziehungen verbinden, eine Verhaltensänderung erwarten, wenn Europa nicht geschlossen sein gesamtes Gewicht zur Geltung bringt?
  • Wir haben ein Interesse an der Einbindung Russlands – nicht nur, damit es als unser Nachbar eine konstruktivere Rolle spielt, sondern auch, weil wir es zur Lösung von Problemen wie dem Klimawandel brauchen.
  • Wir haben ein Interesse daran, unsere Kooperation mit der Türkei in Migrationsfragen fortzusetzen.
  • Und wir haben ein Interesse daran zu verhindern, dass Iran zur Atommacht wird.

Europäische Antworten auf diese Herausforderungen zu finden, wird zentrales Ziel unseres Ratsvorsitzes sein – dies gilt übrigens auch für unsere Freunde aus Portugal und Slowenien, die von uns den Staffelstab übernehmen werden. Nichts davon wird einfach. Aber als Progressive wissen wir doch, dass Fortschritt nur möglich ist, wenn man Risiken eingeht.

Deshalb lautet meine fünfte und letzte Botschaft: Lassen Sie uns mutig vorangehen auf unserem Weg aus dieser Krise! Die Gegner unserer Vorstellung von "Europe United" sind ja nicht verschwunden. Die Salvinis, Le Pens und Gaulands dieser Welt sind derzeit stumm, weil ihre Ideologien keinerlei Antworten auf die Krise bieten. Und die Pandemie hat gezeigt, dass nationalistische Politik zur tödlichen Gefahr für jede Bürgerin und jeden Bürger werden kann.

Aber machen wir uns keine Illusionen: Die Nationalisten und Populisten werden auch weiter alles daransetzen, den Diskurs zu dominieren. Sie werden uns für unsere Solidarität angreifen und alte Vorurteile schüren, um uns zu spalten. Teilweise konnten wir das ja schon beobachten. Deshalb brauchen wir eine starke europäische Zivilgesellschaft. Und deshalb werden wir unseren Vorsitz nutzen, um – gemeinsam mit Partnern wie dem Progressiven Zentrum, Wissenschaftlern, Aktivisten und Künstlern aus ganz Europa – einen gesamteuropäischen Diskussionsraum zu schaffen.

Diese Stimmen müssen auch einfließen in die Konferenz zur Zukunft Europas, die beginnen sollte, so schnell es die Pandemie erlaubt. Wie die Europäische Union im Jahr 2030 und darüber hinaus aussehen soll, kann nicht ohne die Bürgerinnen und Bürger Europas entschieden werden.

Für mich ist die Covid-19-Pandemie der lebendige Beweis, dass die Zivilgesellschaft uns zu den besten Problemlösungen führen kann. Unsere enge Zusammenarbeit etwa mit führenden Wissenschaftlern oder den Menschen, deren "Systemrelevanz" uns erst in der Krise plötzlich deutlich wurde, hat uns dies auf eindrucksvolle Weise vor Augen geführt. Es war zugleich eine ganz praktische Übung in gelebter Demokratie. Eine Übung, die uns zusammengeschweißt hat – und die die Welt nicht vergessen sollte.

Haben Sie vielen Dank und bleiben Sie gesund!