Rede der Bundesministerin für Gesundheit und Soziale Sicherung, Ulla Schmidt,

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Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man kann ja eine solche Debatte führen und man muss sie auch führen, aber ein bisschen Redlichkeit sollte es wirklich geben.

"Mit Verlaub gesagt, ich finde es nicht in Ordnung, Krankheitsschicksale schamlos für Politikkampagnen auszunutzen. Ich bitte sehr herzlich, nicht so zu verfahren. Ich leugne nicht, dass es Detailprobleme gibt. Die meisten sind übrigens durch die Selbstverwaltung lösbar und werden auch gelöst."

Dies ist nicht von mir, sondern – ich spreche auch den Kollegen Thomae an, weil er damals schon gesundheitspolitische Verantwortung trug – das hat der Kollege Cronenberg, FDP, am 31. Mai 1989, fünf Monate nach In-Kraft-Treten der damaligen Reform, gesagt. Ich könnte Ihnen ähnliche Beispiele aus den Jahren 1993, 1996 und 1997 nennen.

Ich halte also fest: Man kann über vieles reden, aber auch diejenigen, die früher Regierungsverantwortung getragen haben, sollten sich daran erinnern, wie es damals war, und nicht einfach fordern, dass es heute, 14 Tage nach In-Kraft-Treten eines Gesetzes, keine Probleme mehr geben dürfe. Ich bitte Sie, in diesem Punkt redlich zu sein; dann können wir über alles reden.

Nun sage ich Ihnen, was das Ministerium getan hat: Es hat vom Tag der Verabschiedung des Gesetzes über Weihnachten hinweg bis heute gearbeitet. Wir haben auch nie aufgehört, auf die Verantwortung der Selbstverwaltung hinzuweisen. Diese wird aber durch Beschlüsse wie den folgenden einfach ignoriert:

"Die Vertreterversammlung der KZV Bayern fordert den Vorstand auf, in allen Bereichen, in denen das Gesundheitsmodernisierungsgesetz Ersatzvornahmen vorgesehen hat, keinerlei Vereinbarungen von sich aus zu schließen oder mit den Krankenkassen zu vereinbaren, sondern die Umsetzung des Gesetzes durch Ersatzvornahmen des BMG wirksam werden zu lassen."

Dies ist ein Beispiel dafür, wie in den Monaten nach Verabschiedung des GMG die sehr klaren gesetzlichen Regelungen – ich bleibe dabei, das Gesetz regelt diese Fragen alle eindeutig – von der Selbstverwaltung nicht umgesetzt wurden.

Wir haben noch im Oktober diejenigen eingeladen, die in der Selbstverwaltung die Umsetzung partnerschaftlich hätten organisieren sollen. Ich habe die Einladungen und die Protokolle über die Gespräche, die stattgefunden haben, mitgebracht.

Wenn aber in Deutschland die organisierte Ärzteschaft – ich meine nicht den einzelnen Arzt, sondern die Ärztefunktionäre – lange darüber redet, wie gesetzliche Regelungen wie zum Beispiel zur Praxisgebühr – Gesetze, die im Übrigen, mit Verlaub, Kollegen Thomae und Parr, mit den Stimmen der FDP aus den vier Ländern, wo sie Regierungsverantwortung trägt, verabschiedet wurden; Sie haben sich hier einen schlanken Fuß machen wollen und sonst überhaupt nichts –, verhindert werden können, weil sie so etwas nicht will, und so lange wartet, bis Schiedssprüche gefällt werden, dann kann unter diesen Umständen nur schwer dafür gesorgt werden, dass selbst dort, wo der Bundesmanteltarifvertrag fristgerecht fertig gestellt und gedruckt war, bei In-Kraft-Treten des Gesetzes keine Probleme auftreten. Dies bedauere ich natürlich genauso wie jeder, der an der Reform mitgearbeitet hat. Wir wissen, dass es sich um ein sehr großes Reformwerk handelt und wir alles tun müssen, damit Konflikte schon im Vorfeld vermieden werden können. Es sollte aber doch niemand so tun, als hätte er nicht bei anderen Gesetzen in früheren Jahren schon ähnliche Erfahrungen machen müssen.

All die Redner, die in den Debatten immer die Forderung nach Freiheit erheben, staatliche Reglementierung so weit wie möglich reduzieren und der Selbstverwaltung so viele Aufgabe wie möglich übertragen wollen – das wollen auch wir –, bitte ich, die Verantwortlichen in der Selbstverwaltung, die an den Beratungen zum Gesetz beteiligt waren und uns gesagt haben, dass sie in der Lage seien, die ausstehenden Fragen zu regeln, und der Gesetzgeber so wenig wie möglich machen solle, daran zu erinnern, dass zur Freiheit auch Verantwortung gehört. Verantwortung bedeutet auch, dafür zu sorgen, dass nicht bei Millionen Menschen in diesem Land Angst und Verunsicherung hervorgerufen werden. Dass eine Politik gemacht wird, die dazu führt, dass Menschen Angst bekommen, berührt mich als Einziges wirklich; nicht so sehr dagegen der Ärger mit den Funktionären. Mein Kreuz ist breit genug, um das zu tragen.

Die Frage der Heimbewohner möchte ich nun auch einmal ansprechen. Wir haben sehr intensiv darüber geredet, ob wir für Heimbewohner, die Taschengeld beziehen, eine Ausnahme machen sollen. Wir haben lange darüber diskutiert, denn das war uns ein wichtiges Anliegen. Wir haben uns gemeinsam, auch auf Wunsch der CDU/CSU, entschieden, das nicht zu machen; denn jede Ausnahme in einem Bereich führt zu Ausnahmen auch in anderen Bereichen. Wir haben sehr bewusst nicht das gesamte Einkommen der Taschengeldbezieherinnen und -bezieher, sondern nur den Regelsatz der Sozialhilfe zugrunde gelegt. Das bedeutet – ich bitte Sie,  das  überall, wo Sie darauf angesprochen werden, zu sagen –, dass ein chronisch kranker Mensch im Heim nicht mehr als drei Euro pro Monat zahlt, denn der Regelsatz liegt unter 300 Euro, und ein nicht chronisch kranker Mensch nicht mehr als sechs Euro pro Monat zahlt. Da lobe ich mir die Initiativen zum Beispiel der Arbeiterwohlfahrt und vieler guter Heime, die zu Beginn des Jahres für ihre Pflegebedürftigen in Vorleistung getreten sind. Ich sage noch einmal ganz klar: Ein Mensch, der in die Pflegestufe II oder III eingestuft ist, in einem Pflegeheim untergebracht ist und regelmäßig ärztlich behandelt wird, ist auch nach den bisher verabschiedeten Definitionen chronisch krank. In der Regel werden nun bis zu drei Euro pro Monat vom Taschengeld abgezogen.

Man kann in diesem Zusammenhang über die Frage der sozialen Gerechtigkeit diskutieren, auch mit den Kolleginnen von der PDS. Ich bin nach all den Diskussionen, die wir geführt haben – auch im Rahmen der Verhandlungen zu diesem Gesetz –, zu der Auffassung gekommen: Jede andere Regelung ist wesentlich ungerechter. Zu dieser Auffassung stehe ich. Darüber zu reden, ob drei Euro bei einem Taschengeld von 90 Euro zumutbar sind – ich würde mir wünschen, dass wir diese Debatte offensiv führen –, ist mir immer noch lieber als eine Debatte darüber, ob Menschen, die mit Pflegestufe II oder III in einem Pflegeheim liegen, überhaupt noch die notwendige medizinische Behandlung bekommen. Diesen Aspekt sollten wir in den Vordergrund stellen. Deshalb sind wir mit dem GKV-Modernisierungsgesetz den Weg gegangen, die medizinische Versorgung sicherzustellen.

Jetzt sage ich Ihnen außerdem etwas zu den noch offenen Fragen, die geklärt werden müssen: Ich habe bewusst die "Chronikerrichtlinie" nicht abgelehnt. Aber ich habe die dort festgelegte Definition, den Bezug auf den stationären Bereich, die Pflegestufen II und III und eine Schwerbehinderung von 70 Prozent, nur mit der Auflage genehmigt, dass diese Definition ergänzt wird und auch die dauerhafte Behandlung in der ambulanten Versorgung einschließt. In diesem Moment, da wir hier sitzen, sitzen die entscheidenden Vertreter der Kassen und der Ärzteschaft zusammen. Sie haben zugesagt, sich auf erweiterte Regelungen zu einigen, dass es beispielsweise eine Liste mit Erkrankungen geben wird, weil es selbstverständlich ist, dass ein insulinpflichtiger Diabetiker ein chronisch kranker Mensch ist, ebenso wie Krebskranke, Aidskranke und andere. Ergänzungen müssen immer wieder erfolgen, auch in Zusammenarbeit mit den Patientenverbänden. Es muss klargestellt sein, dass die Ärzte und Krankenkassen entsprechende Definitionen – angelehnt an die Regelungen für Erkrankungen, die eine dauerhafte Behandlung erfordern – auch für seltene Erkrankungen vornehmen.

Das Gleiche gilt für die Fahrkosten: Die Regelung gilt bei allgemein schlechtem Gesundheitszustand, etwa bei Behandlung durch Dialyse, Strahlenbehandlung, Chemotherapie. Ich habe mich darüber hinaus dafür ausgesprochen, dass die Regelung auf in ihrer Mobilität eingeschränkte Menschen, die zum Arzt müssen, ausgeweitet wird. Auch dem hat der zuständige Unterausschuss des Bundesausschusses jetzt zugestimmt.

Die noch offenen Einzelfragen können geregelt werden, aber wir sollten vor allem gemeinsam dafür sorgen, dass den Menschen die Angst genommen wird. Denn nichts ist schlimmer, als wenn kranke oder behinderte Menschen oder Menschen mit kranken Kindern Angst davor haben, morgen keine Behandlung mehr zu bekommen. Wir haben dafür gesorgt, dass sie sie bekommen; wir haben dafür gesorgt, dass das Gesundheitswesen bezahlbar bleibt. Jetzt sollten wir dafür sorgen, dass auch die anderen, die der Gesetzgeber dazu verpflichtet hat, Beschlüsse fassen: Das bin nicht ich, das ist nicht der Bundestag, sondern das ist die Selbstverwaltung.